Stefanie Mergehenn, geboren 1968, ist Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Solingen.
Ich merke, dass es mich Überwindung kostet, meine Unterlagen und Aufzeichnungen von meinem sechswöchigen Klinikaufenthalt wieder herauszukramen – fast so, als wolle ich mich nicht mehr an diese Zeit und ihre teils schmerzlichen Einsichten erinnern. Dabei war es eine Zäsur, die mein Leben verändert hat und für die ich im Nachhinein unendlich dankbar bin.
Abgezeichnet hat sich das Burn-out quasi seit meiner Geburt. Hineingeboren in eine Familie von Leistungsethikern, als Enkelin zweier freikirchlicher Pastoren, wuchs ich mit sicherlich ehrbaren Wertvorstellungen, aber einem fragwürdigen Familienmotto auf: „Wer soll es denn sonst machen?!“ Es bedeutete, dass sich meine (Groß-)Eltern, später auch meine Geschwister und ich uns für alle(s) zuständig fühlten. Erst kamen der Beruf und die Gemeinde mit sämtlichen vermeintlich hilfsbedürftigen Mitmenschen, dann die Familie und ganz zum Schluss man selbst mit seinen individuellen Bedürfnissen. Wahrgenommen und wertgeschätzt fühlte ich mich als Kind und Teenager allenfalls, wenn ich besondere (schulische) Leistungen erbrachte.
Ich zog daraus eine Schlussfolgerung, die eine gefährliche Eigendynamik entwickelte. Nachdem ich mit 18 Jahren mein Abitur und anschließend – auf Anraten meiner Mutter – ein freiwilliges soziales Jahr in einem Altenpflegeheim absolviert hatte, nahm ich ein Studium mit zeitweilig fünf Fächern auf, das ich trotzdem in der Mindest-Studienzeit beendete. Auch in den Semester„ferien“ war ich natürlich nicht untätig: Ich erinnere mich beispielsweise an jenen Sommer, in dem ich morgens um 4 Uhr zum Münsteraner Postamt radelte, dort bis 8 Uhr 30 Uhr Briefe sortierte, von 9 bis 16 Uhr ein Praktikum im städtischen Kulturamt machte und anschließend in die Redaktion der Lokalzeitung ging, wo ich als freie Mitarbeiterin überwiegend Abendtermine hatte, von denen ich anderntags berichten musste.
Damals hätte ich (noch) nicht sagen können, was mich eigentlich drängte und antrieb. Im Gegenteil: Ich definierte mich über diesen „Eu-Stress“ und meine Leistungsfähigkeit. Dass ich dennoch während des Studiums in der Lage war, nicht nur eine freilich kurzfristige Paarbeziehung, sondern auch zahlreiche private Kontakte zu pflegen, ist nicht zuletzt der Duldsamkeit meiner Freundinnen und Freunde anzurechnen. Sie merkten höchstens mal an, dass sie sich – O-Ton – zuweilen fühlten „wie eine Salami-Scheibe, die gerade noch zwischen zwei terminliche Brötchenhälften gepresst wird“. Eine Freundin witzelte, der liebe Gott habe mir offenbar als Zeichen seiner besonderen Wertschätzung eine 25. Stunde am Tag geschenkt, die nur ich nutzen dürfe. Und eine WG-Mitbewohnerin schrieb mir zum Abschied in mein Gästebuch: „Fast vier Jahre teilten wir Küche, Bad und Telefon und sahen uns dennoch oft nur im Vorbeihuschen, hetzend von Termin zu Termin. Ich sah Dir oft verwundert nach, wie Du so von einem zum anderen Ereignis (Kino, Chor-Proben, Dates, Uni, Redaktion, Konzerte, Kirche, Freunde …) rauschtest. Echt eine Power-Frau, die, so hoffe ich, weiter viel wirbelt und frischen Wind in ihre Umwelt bringt!“
In der Tat wurde der Wirbel stärker, nur merkte ich anfangs nicht, wie der Eu- allmählich in Disstress umschlug. Direkt im Anschluss ans Studium erhielt ich einen der begehrten Plätze für ein Volontariat bei einer der größten deutschen Regionalzeitungen. Nach der zweijährigen Ausbildung verschlug es mich als Lokalredakteurin nach Solingen. Dort lernte ich in meiner neuen Kirchengemeinde meinen jetzigen Mann kennen, der zunächst etwas Ruhe in mein Leben brachte. Wenn nur die Arbeitszeiten nicht gewesen wären! 50- bis 60-Stunden-Wochen waren an der Tagesordnung. Überstunden wurden generell nicht verrechnet, sondern waren eine Selbstverständlichkeit. Kein Wunder, dass ich liebend gern auf Teilzeit gegangen wäre, als 2003 unser Sohn geboren wurde. Ein Ansinnen, das nach meiner zweijährigen Elternzeit von der Chefredaktion aus Gründen der „Praktikabilität“ abgelehnt wurde. Soweit zum Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ …
Ich fühlte mich zerrissen: Weder meinem Kind noch meinem Mann wurde ich gerecht – noch meinem selbst gesetzten Qualitätsanspruch in dem Job, der doch einst mein Traumjob gewesen war. Der innere Druck nahm zu. Sowohl zu Hause als auch in der Redaktion war ich immer nur halbherzig und nie „ganz“ da – immer den nächsten Termin vor Augen und all die Anforderungen und Erwartungen, die an mich gestellt wurden, im Hinterkopf. Unser Familienleben war „auf Kante genäht“: Mein Mann fuhr um 6 Uhr 30 zur Arbeit, ich brachte unseren Sohn zwischen 8 und 9 Uhr zum Kindergarten bzw. in die Schule und ging selbst zur Arbeit. Vom Kindergarten bzw. von der Schule – Es lebe die Ganztagsbetreuung! – wurde Raphael um 16 Uhr von seinem Vater abgeholt; von ihm wurde er meistens auch ins Bett gebracht, da ich selten vor 21 oder 22 Uhr, oft auch erst um 23 Uhr, nach Hause kam. Da durfte niemand krank werden; alle mussten „funktionieren“.
Auch in der Gemeinde konnte ich mich nicht so einbringen, wie ich es gewohnt war und weiter gern gewollt hätte: Mit mindestens einem Sonntagsdienst im Monat und kurzfristigen Abendterminen für die Redaktion waren es Freundinnen und Gemeindegruppen gewohnt, kurzfristig von mir versetzt zu werden.
Der Druck verschlimmerte sich, als ich nach gut vier Jahren in einem sehr angenehmen und kollegialen Team in eine andere Lokalredaktion versetzt wurde – mit einer sehr schwierigen Vorgesetzten. Der berühmte Tropfen, der das Fass nach zwei Jahren zum Überlaufen brachte, war die Tatsache, dass ich mir entgegen anderer Absprachen am achten Geburtstag unseres Sohnes keinen Urlaubstag nehmen durfte, obwohl ich entsprechend vorgearbeitet hatte.
Die Schuldgefühle meinem Sohn gegenüber, die zunehmenden Vorwürfe meines Mannes, unser chronisch gereiztes Miteinander (eher „Gegeneinander“) und die Verzweiflung angesichts meiner eigenen Ohnmacht ließen mich letztlich zusammenbrechen – innerlich und äußerlich. Ich ging zu meiner Hausärztin, zu der ich großes Vertrauen habe, und sagte: „Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit.“ Ihre fast erfreute Reaktion: „Darauf warte ich jetzt seit zwei Jahren, dass Sie das endlich mal einsehen!“ Schon häufiger hatte sie mich in der Vergangenheit krankschreiben wollen, weil ich immer wieder wegen offensichtlich psychosomatischer Beschwerden bei ihr vorstellig geworden war. Und immer hatte ich abgelehnt mit den Worten: „Nein, ich kann nicht ausfallen. Wir sind personell ohnehin so eng besetzt. Dann müssten die verbliebenen Kollegen ja noch länger arbeiten …“.
Dass der Gedanke „Ohne mich geht es nicht“ zugleich das fatale Motto meiner Herkunftsfamilie ist („Wer soll es denn sonst machen?!“), wurde mir erst im Lauf des folgenden sechswöchigen Klinikaufenthalts so richtig bewusst. Mit der Diagnose „Depressive Erschöpfung“ (im Volksmund auch „Burn-out“ genannt) kam ich in eine christliche Fachklinik im Taunus – schön weit weg von zu Hause, damit ich auch die therapeutisch vorgegebene dreiwöchige „Kontaktsperre“ einhalten konnte. Drei Wochen ohne die Stimme oder ein geschriebenes Wort meines Sohnes zu sein, war für mich das Härteste des ganzen Aufenthalts. Gleichzeitig half mir die Kontaktsperre, mich wirklich mal rauszuziehen aus allen Zuständigkeiten und darauf zu vertrauen, dass mein Mann die insgesamt sechs Wochen ohne mich dank der Hilfe unserer Eltern und Freunde (und natürlich einer vierseitigen To-do-Liste, die ich noch in der Nacht vor meiner Abreise geschrieben hatte …) schon managen würde.
Natürlich ließ sich mein „Hyperaktivitäts-Schalter“ nicht einfach umlegen. Mit-Patienten bescheinigten mir im Nachhinein, dass sie anfangs ihre Schwierigkeiten mit meinem Aktionismus, mit meiner „inneren Getriebenheit“ gehabt hätten. Während manche „Burnies“ bei ihren Ärzten zusammengeklappt und quasi zwangseingewiesen worden waren, hatte ich immer noch eine Rest-Energie, die meinem Umfeld, aber auch mir selbst fast unheimlich war: Ich entwickelte Ideen für die Gestaltung der Klinik-Abende und der Wochenenden und bot mich an, Ausflüge oder Konzertbesuche zu organisieren. Dass dieser Aktivismus letztlich dazu dienen sollte, mich vor der Auseinandersetzung mit mir selbst zu drücken, wurde mir erst im Lauf der Zeit bewusst.
Meine Schuldgefühle, dass ich nämlich womöglich jemandem den Klinik-Platz weggenommen hatte, der ihn dringender gebraucht hätte, konnte meine Gesprächstherapeutin Gott sei Dank vom Tisch wischen: Es sei gut, dass ich in einem vergleichsweise frühen Stadium gekommen war. Je eher man die Zäsur setze, umso leichter könne man mit ungesunden Lebensmustern und (unbewusst) einstudierten Verhaltens- und Denkweisen brechen.
Trotz aller wertvollen „Inputs“, hilfreichen Strategien, psychologischen und seelsorglichen Ratschlägen: Leicht war und ist es keineswegs, das über Jahre zementierte Profil des Leistungsethikers zu demontieren. Zu verwoben sind die „roten Fäden“ meines Lebens – die Selbst-Definition über meine Leistung, um wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden, das Funktionieren-Müssen, Sich-keine-Schwäche(n)-leisten-Dürfen, die irrige Annahme, keiner außer mir könne die Dinge „richtig“ machen, und daraus resultierend ein mich und meine Mitmenschen belastender Kontrollwahn, um nur einige „Fäden“ zu nennen.
In der Klinik wurde mir geholfen, dieses Knäuel in die Hand zu nehmen, zu entwirren und zu einem neuen Lebens-Muster zu verknüpfen. In der Musik-, Tanz- oder Maltherapie begann ich, meine Gefühle wieder wahrzunehmen und vor allem zuzulassen. Dabei lernte ich auch mein Temperament neu anzunehmen und differenzierter zu betrachten. Wie der Cello-Bogen, der mal sanft und meditativ über die Saiten streicht, um dann wieder hektisch und schrill hin und her zu treiben, können in meinen Wesenszügen unterschiedliche „Saiten“ zum Schwingen gebracht werden, die alle ihre Berechtigung haben.
Auch von und in den Gesprächen mit Mit-Patienten habe ich viel gelernt – zuweilen mehr als von manchem Arzt oder Therapeuten. Nachhaltig in Erinnerung geblieben ist mir der Satz eines Gesprächspartners: „Wenn sich die Umstände nicht ändern, dann musst du selbst dich verändern.“
Diese An- und Herausforderung wurde ganz konkret, als es am Ende meines sechswöchigen Aufenthalts um meine berufliche Perspektive ging. Immer noch sah ich mich als Herzblut-Journalistin, für die es keinen anderen Job geben konnte. Doch der Auftakt meiner beruflichen Wiedereingliederung entpuppte sich als Farce: Bereits in meiner zweiten Arbeitswoche saß ich an einem Tag schon wieder zwölf Stunden in der Redaktion. Spätestens da merkte ich, dass ich von den meisten Kollegen keine Rücksichtnahme und von meinem Arbeitgeber keine wesentlichen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erwarten durfte: Einige hielten mich einfach für schlecht organisiert, andere boten mir halbherzig Hilfe an, die ich natürlich ablehnte, um sie nicht ihrerseits noch mehr zu belasten.
Irgendwann sagte ein Kollege: „Entweder du lernst, mit diesen Belastungen umzugehen, oder du musst dir einen anderen Job suchen.“ Da erinnerte ich mich wieder an den Mitpatienten, der mich ermutigt hatte: „Wenn sich die Umstände nicht ändern, dann musst du selbst dich verändern.“ Einen Strohhalm dazu hatte ich in der Hand. Meine Hausärztin und eine Freundin hatten mich unabhängig voneinander auf eine Stellenanzeige aufmerksam gemacht, die kurz vor meinem Klinikaufenthalt erschienen war: Die Stadtverwaltung meiner Heimatstadt suchte eine Journalistin auf 50-Prozent-Basis für die örtliche Pressestelle. Eigentlich hätte der Job nach fast vier Monaten schon längst vergeben sein müssen, doch als ich den Haupt-Pressesprecher anrief, sagte dieser: „Es laufen gerade die letzten Vorstellungsgespräche. Wenn Sie noch heute eine Bewerbung einreichen, können wir Sie vielleicht noch berücksichtigen.“
Kurz und gut: Ich habe die Stelle bekommen – für mich ein echtes Gottesgeschenk. Natürlich haben wir als Familie jetzt deutlich weniger Geld zur Verfügung als vorher, aber die wachsende Lebensqualität ist mir wesentlich wertvoller als ein gefülltes Portemonnaie. Ich arbeite drei volle Tage pro Woche in einem sehr netten und kooperativen Team, freue mich am Montagmorgen auf die Arbeit und am Mittwochabend auf ein langes Wochenende.
Ich habe viel mehr Zeit für Familie und Freunde, kann mich ehrenamtlich wieder stärker in der Kirchengemeinde engagieren (und dabei üben, auch mal Nein zu sagen) und lerne, auch mir selbst die eine oder andere Auszeit zu gönnen. „Sei lieb zu dir selbst“ – durch diesen Appell einer Freundin gewinnt Matthäus 22,37-39 für mich eine neue Dimension. Denn das „Doppelgebot der Liebe“ ist ja eigentlich ein Dreifachgebot: Nur wer gut zu sich selbst ist und achtsam mit sich selbst umgeht, kann auch Gott und seinen Nächsten aufrichtig lieben. Daran arbeite ich gerade – auch gemeinsam mit einer therapeutischen Gesprächsgruppe, die mir hilft, nicht ständig wieder in alte Verhaltensmuster zu verfallen oder in neue Fallen zu tappen.
Denn leider sind mir meine eigene Ungeduld und mein nach wie vor vorhandenes Bestreben, schnell und effizient zum Ziel zu kommen, immer wieder im Weg. Gut, dass Gott barmherziger mit mir ist, als ich selbst es bin. Mutmachend fand ich in diesem Zusammenhang eine Empfehlung von Kerstin Hack: „Erlaube dir selbst, dich in deinem eigenen Tempo zu verändern. Freu dich über jeden noch so kleinen Schritt der Veränderung!“
Ich habe das Empfinden, dass mein Burn-out uns als Familie enger zusammengeschweißt hat. Nachdem einer von uns Leistungsethikern Schwäche gezeigt hat, gewinnt auch der eine oder andere zunehmend einen Blick dafür, wo er (oder sie) sich selbst überfordert. Mit meinen Geschwistern hatte ich während meines Klinikaufenthalts, aber auch danach gute Gespräche, in denen wir uns fragten, ob es nicht an der Zeit wäre, aus unserem Familienspiel „Wer ist tüchtiger?“ auszusteigen. Ich kann heute augenzwinkernder mit den wohlmeinenden Ratschlägen meiner Mutter umgehen, mir nicht zu viele Termine aufzuhalsen, während sie ihrerseits in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten komplett „ausgebucht“ ist. Ich meinerseits will das bloße Funktionieren beenden, merke aber immer wieder, wie schwer es ist, übernommene Mechanismen zu durchbrechen – vor allem in der Ehe. Da mein Mann sich daran gewöhnt hat, dass ich alles organisiere, manage und kontrolliere, möchte er immer wieder die Verantwortung an mich abgeben. Wenn ich sie nun nicht mehr allein tragen will (und kann), haben wir beide zu lernen.
Ganz wichtig ist mir, mein „Familienerbe“ nicht an meinen Sohn weiterzugeben. Immer wieder versuche ich ihm zu vermitteln, dass er um seiner selbst willen geliebt wird und nicht, weil er ein so guter Schüler ist. Ich nehme ihn einfach mal in den Arm und sage ihm, wie froh ich bin, dass er da ist: „Wenn’s dich nicht gäbe, müsste man dich erfinden. Gut, dass Gott dich schon erfunden hat!“
Das will ich neu lernen: mein Leben nicht nur pflicht- und leistungsorientiert, sondern lust- und beziehungsorientiert zu gestalten. Zumal es das Wort „Effizienz“ in Gottes Vokabular nicht zu geben scheint.