Dr. Andreas v. Heyl, Jahrgang 1952, ist Studienleiter für die PfarrerInnen im Probedienst der Evangelischen Kirche in Bayern und außerplanmäßiger Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Burn-out, Ausbrennen, ist ein Bild. Ein so häufig verwendetes Bild, das uns seine Bedeutung zu entgleiten droht. Wie sollen wir uns den Prozess des Ausbrennens vorstellen? Wie bei einer Explosion? Oder als würde eine Stichflamme auflodern und alles verzehren? Wohl kaum. Die Vorstellung von einem Schwelbrand trifft es eher: Man bemerkt ihn erst sehr spät – oft zu spät, um noch alles Wichtige retten zu können. Über einen langen Zeitraum hat sich ein Problem aufgebaut, schleichend, fast unbemerkt. Eines Tages ereignet sich eine Kleinigkeit, nichts, was dramatischer wäre als vorhergegangene Konflikte, aber jetzt gibt der Mensch auf, er kann einfach nicht mehr, wird krank, depressiv oder verlässt von einem Tag auf den anderen seinen Arbeitsplatz.
Was ist passiert?
Gegen Ende der neunziger Jahre wurde deutlich, dass auch Vertreter einer Berufsgruppe, von der man es eigentlich am wenigsten erwartet hätte, sich zunehmend gestresst fühlen und Burn-out-gefährdet sind: die Pfarrerinnen und Pfarrer. Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Phänomen gab es bislang so gut wie keine. Das war für mich der Anreiz, mich in dieses Thema zu vertiefen und anhand einer Studie zu erforschen, wie es mit dem „Burn-out im Pfarramt“ steht.1 Im Verlauf der Untersuchung wurden etwa zehn Prozent der bayerischen Pfarrerschaft in einer anonymen schriftlichen Befragung erfasst, hinzu kamen jeweils zwanzig Interviews mit Pfarrer/innen im aktiven Dienst und mit Verantwortlichen aus Kirchenleitung, Lehre und Beratung. Das Ergebnis war erstaunlich: Zunächst verblüffte die außerordentlich hohe Rücklaufquote von 68,7 Prozent bei der anonymen schriftlichen Befragung (normalerweise haben solche Befragungen einen Rücklauf von unter 30 Prozent) – ein deutliches Indiz dafür, wie sehr die Pfarrerschaft das Thema interessierte. Das eigentlich Besorgnis erregende Ergebnis aber war, dass sich von den in der Studie erfassten Pfarrer/innen etwa die Hälfte als Burn-out-gefährdet erwies. Stark gefährdet waren 7,5 Prozent der Befragten, „richtig ausgebrannt“ 1,6 Prozent. Seit Veröffentlichung der Studie, also seit etwa zehn Jahren, werde ich immer wieder von kirchlichen Einrichtungen aus ganz Deutschland angefragt, um Vorträge und Seminare zum Thema „Burn-out im Pfarrberuf“ zu halten, was zeigt, welchen Stellenwert die Thematik nach wie vor für die Pfarrerschaft hat.
Es sind nicht eigentlich die großen Herausforderungen, die zum „Ausbrennen“ führen. Dass man hin und wieder einmal etwas tun oder ertragen muss, das alle Kräfte fordert oder gar für einen Moment über die Kräfte geht, lässt sich in der Regel gut verarbeiten. Die meisten von uns sind in der Lage, für eine ganze Weile Hochleistungen zu erbringen oder starke Stressoren zu kompensieren, wenn klar ist, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Anspannung handelt. Es ist das sich immerfort drehende Hamsterrad der so genannten daily hassles, der Alltagswidrigkeiten, das schließlich zur Burn-out-Krise führen kann.
Gemeint sind die frustrierenden, entnervenden, viel emotionale Energie bindenden Unannehmlichkeiten und kleinen Ärgernisse im normalen Tageslauf: schlecht koordinierte Arbeitsabläufe, mangelnde Zusammenarbeit, unklare Zuständigkeiten, Rollenkonflikte, gruppendynamische Probleme am Arbeitsplatz, Ärger mit Klienten, Kollegen oder Vorgesetzten, mangelnde Würdigung und Wertschätzung der eigenen Leistung, die ungenügende Führungs- Kommunikations- und Feedback-Kultur im Unternehmen (oder im Familiensystem) etc. So ist es zum Beispiel erstaunlich und traurig, wie stark sowohl in vielen Betrieben als auch in vielen Familien das Augenmerk stets auf das gerichtet wird, was eine Person nicht kann oder falsch macht. Positives wird dagegen kaum gewürdigt. „Nix g’sagt ist g’lobt genug“ sagt man in Franken und Schwaben in diesem Fall. Viele Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die positive Wertschätzung eines Menschen einen besonders starken Einfluss auf sein seelisches und körperliches Wohlbefinden hat. Eines Tages ist dann eine „kritische Menge“ erreicht, und die Summe der kleinen Verletzungen verdichtet sich zu einer Mischung aus hilfloser Wut und lähmender Erschöpfung.
Dazu bedarf es in der Regel noch eines Ereignisses, das dann wie der sprichwörtliche Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. Oft ist das eine Beeinträchtigung, die für sich betrachtet gar nicht so gravierend ist: ein kleines Missgeschick vielleicht oder eine Grippe, ein Ehestreit, oder dass einem auch noch die Arbeit eines kranken Kollegen übertragen wird.
Ihr altes Leben zerbrach, als sie in der Mittagspause eine Glühbirne kaufen wollte“, berichtete „Der Spiegel“. Barbara K., Psychotherapeutin mit gut besuchter Praxis, alleinerziehende Mutter … wartete an der roten Ampel, als ein silberner Wagen von hinten in ihr Auto krachte. Die Frau blieb bei dem Verkehrsunfall fast unverletzt, nur ein leichtes Schleudertrauma diagnostizierte der Arzt. Bleib ich eben mal einen Tag zu Hause, entschied Frau K. Am nächsten Tag fühlte sie sich seltsam schwach. Schlag auf Schlag kamen Schmerzen, Schlaflosigkeit und Sehstörungen hinzu. Sie vergaß ihre Kontonummer und auch, wie man Spaghetti kocht. Schließlich kam sie kaum noch die Treppe hoch, so erschöpft war sie auf einmal. Medizinische Untersuchungen blieben ohne Befund. Dennoch verschlimmerte sich ihr Zustand weiter; nichts half. Wie eine unbeteiligte Zuschauerin sah die Psychologin zu, wie sich ihre Existenz Stück für Stück auflöste. Frau K. verlor innerhalb von zwei Jahren ihr Erspartes, ihr Haus, ihre Praxis – und am Ende das Sorgerecht für ihren zehnjährigen Sohn …2
Nun bricht das schon lange fragil gewordene Kraftfeld der Person endgültig zusammen. Die emotionale und psycho-physische Erschöpfung wird auf einmal mit voller Wucht erlebt.
Eine tragende Säule des „inneren Menschen“ nach der anderen bricht weg: Konzentrationsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen, Empfindungsfähigkeit und Mitgefühl, Fantasie und Kreativität, Schaffenslust und Lebensfreude und vor allem auch das Selbstwertgefühl.
„Wie kam es zu Ihrer Krise?“, wurde der Angestellte Manfred S. vom „Focus“ gefragt3: „Es war ein schleichender Prozess“, sagte er, „anfangs habe ich die Probleme gar nicht richtig wahrgenommen. Die berufliche Belastung wurde immer größer, und irgendwann streikte mein Körper. Ich konnte nicht mehr schlafen, habe nachts stundenlang wachgelegen und immer an die Probleme bei der Arbeit gedacht und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Im Dezember (…) ging es dann nicht mehr. Ich bekam Angstzustände, Weinkrämpfe und einen schlimmen Tinnitus. (…) Ich konnte nicht mehr sprechen, konnte nichts mehr essen. Ich hab mich in den Garten gesetzt und geheult wie ein Kleinkind.“
Die „Arbeitsmoral“ sinkt rapide, die Identifikation mit der Tätigkeit löst sich ebenso auf wie die Motivation, die ursprünglich zu dieser Berufswahl geführt hat und die Grundlage für das Engagement bei der Arbeit bildete. Die Betroffenen empfinden einen immer stärkeren Widerwillen gegen die Tätigkeit und – besonders fatal – auch gegen die Menschen, mit denen sie zu tun haben. So ist z. B. die Unfreundlichkeit und der Formalismus, mit dem Berufstätige im sozialen und medizinischen Bereich den sich ihnen anvertrauenden Menschen begegnen, nicht selten ein Zeichen ihrer tiefen Erschöpfung. Geradezu sprichwörtlich ist zum Beispiel der Zynismus mancher Chirurgen und Pathologen.
In einem relativ kurzen Zeitraum kommt es nun zu funktionalen Beeinträchtigungen und Veränderungen im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich. Wegen der Symptomvielfalt spricht man darum auch vom „Burn-out-Syndrom“. So erleiden die Betroffenen zum Beispiel einen Hörsturz oder starke Rücken-, Kopf- oder Magenschmerzen, der Blutdruck steigt. Ein verbreitetes Symptom ist die Schlaflosigkeit, man wird anfälliger für Erkältungen, leidet unter zunehmender Gereiztheit, die sich wiederum negativ auf das soziale Beziehungsgeflecht auswirkt. Möglicherweise wird durch die tiefe Erschöpfung auch eine Depression oder eine andere psychische Krankheit ausgelöst. Am Ende steht im schlimmsten Fall eine unheilvolle Mischung aus Verbitterung, Gereiztheit, Selbstmitleid, Ängsten bis hin zu Panikattacken, Resignation, Zynismus und dem Gefühl, ein Verlierer und Versager zu sein. In der Endphase tritt manchmal auch der absurde Zustand ein, dass die Betroffenen, obwohl sie die jeweilige Situation nicht mehr ertragen, zugleich nicht mehr von ihr loskommen können. Dann liegen die Leidenden nachts oft stundenlang wach und grübeln über ihre Fehler und Schwächen nach, wobei sie doch den Schlaf nötiger bräuchten denn je. In fortgeschrittenem Stadium ist eine Entspannung ohne therapeutische Intervention kaum mehr möglich, das innere Rad dreht auf Hochtouren, die Gedanken und Grübeleien kreisen fortwährend um das, von dem sie sich doch dringend befreien müssten. Oft versuchen die Gequälten, ihr Leiden zu erleichtern, indem sie zu Suchtmitteln greifen, manche sehen keinen anderen Ausweg als den Suizid. Aber der schlimmste Fall tritt ja, Gott sei dank, nicht unausweichlich ein. Vielen kann schon in der Frühphase des Prozesses durch Intervention von außen geholfen werden, und natürlich gibt es auch bei Burn-out, wie bei jeder pathologischen Entwicklung, die verschiedensten Intensitäts- und Vertiefungsgrade.
Dass man eine gegebene Situation auf Dauer nicht zu bewältigen vermag und schließlich einen Zusammenbruch in Form einer Burn-out-Erfahrung erleidet, kann sich in allen Bezügen und auf allen Ebenen des Lebens ereignen: in der Partnerschaft, in der Kindererziehung, im Zusammenhang mit schwelenden nachbarschaftlichen Konflikten, durch das Erleiden einer massiven Kränkung oder Enttäuschung, aufgrund von Arbeitslosigkeit und großen materiellen Verlusten, beim Tod eines vertrauten Menschen. Burn-out-gefährdet sind im Grunde alle Personen, die sich auf eine Arbeit, eine Lebensweise oder eine Beziehung eingelassen haben, die sie langfristig über- oder unterfordert4, und die von der „inneren Buchführung“ erwartete „Belohnung“ nicht bringt. Diese Belohnung besteht in der Arbeitswelt zunächst einmal im Gehalt. Sie kann aber z. B. auch darin bestehen, dass einem mehr Verantwortung übertragen wird oder mehr Freiräume eröffnet werden. Nicht wenige wären bereit, auf einen Teil ihres Gehaltes zu verzichten, wenn sie ihre Arbeitszeit oder ihre Arbeitsabläufe flexibler gestalten könnten. Im zwischenmenschlichen Bereich besteht die Belohnung in der Regel in Anerkennung und Wertschätzung, in der Familie wird für das eigene Verhalten häufig das „Wohlverhalten“ des anderen oder gar seine „Gegenliebe“ erwartet.
Es hat sich aber gezeigt, dass die Gefahr des Ausbrennens in besonderer Weise den Beschäftigten in den sogenannten „helfenden Berufen“ droht, und zwar überall dort, wo man beruflich über längere Zeit mit Menschen zu tun hat, die sich in Schwierigkeiten befinden oder die selbst problematisch sind und einen entsprechend emotional fordern. Hier geraten vor allem diejenigen in Gefahr, sich zunehmend zu überlasten, die einerseits einen ausgeprägten Drang in sich spüren, anderen helfen und ihnen Gutes tun zu wollen, und andererseits unterschwellig starken Über-Ich-Impulsen ausgesetzt sind, d. h. sie wollen „ihre Sache nur ja gut machen“ und „es möglichst allen recht machen“. Wolfgang Schmidbauer, Alice Miller und andere Analytiker haben die – narzisstische – Grundproblematik dieser „Helferpersönlichkeiten“ eindrücklich beschrieben. 5
Die Ursachen für „Burn-out“ liegen nicht nur in der Persönlichkeit der Betroffenen, zu seiner Entstehung tragen mindestens ebenso auch Zusammenhänge in den jeweiligen Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen bei. Viele Forscher vertreten die Auffassung, dass den äußeren Umständen, also den Arbeits- und Lebensbedingungen bei der Burn-out-Entstehung sogar ein weit größeres Gewicht zukommt als der psychischen Disposition des Individuums.
„Burn-out“ ist eben nicht nur ein „Problem“ dessen, der es bekommt, so dass dieser dann – wie es ja auch gerne geschieht – abgestempelt werden kann als „wenig belastbar“, „Schwächling“ oder gar „gestörte Persönlichkeit“. Es ist mindestens ebenso sehr auch ein Problem seines Arbeitgebers bzw. seines sozialen Umfelds.6 Im Grunde lässt sich Burn-out durchaus als die gesunde Reaktion eines sensiblen Menschen auf ungesunde Arbeitsverhältnisse oder Sozialbeziehungen verstehen. Allerdings „weckt“ das Burn-out-Erleben nicht selten bereits latent vorhandene seelische oder körperliche Krankheiten, so dass sie zum Ausbruch kommen.
Die Auswirkungen des Burn-out-Syndroms sind gravierend, nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern für alle Beteiligten im System. Die betriebs- und auch volkswirtschaftlichen Schäden sind immens. Die jährlich durchgeführte Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Gallup zum Grad der emotionalen Bindung von Arbeitnehmern an ihre Arbeitsstelle beziffert die durch Motivationsverlust entstandenen wirtschaftlichen Schäden in der BRD mit einer dreistelligen Milliardensumme.
Es sind ja vor allem die ursprünglich besonders stark engagierten, pflichtbewussten und aufopferungsbereiten Personen, die schließlich kollabieren. Bei den Betroffenen häufen sich die Krankheitstage, Arbeitsunfälle nehmen zu, die Professionalität sinkt rapide ab, die Klienten werden nicht mehr adäquat behandelt. Häufig suchen Arbeitnehmer, die es sich nicht leisten können, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, den Ausweg in der „inneren Kündigung“, d. h. der „psychologische Arbeitsvertrag“ wird einseitig aufgelöst, und für die Arbeit wird nur noch so viel Energie und Engagement aufgewendet, dass man sie gerade nicht verliert. Hinzu kommt die „infektiöse Tendenz“ des Burn-out-Syndroms. Ausgebrannte Mitarbeiter neigen unbewusst dazu, mit ihrer negativen Energie andere „anzustecken“ und so allmählich ganze Abteilungen zu lähmen.
Was bis hierher beschrieben wurde, sind keine unabwendbaren Gegebenheiten, denen man hilflos ausgeliefert ist. Die Volksweisheit „Vorbeugen ist besser als Heilen“ gilt auch im Blick auf das Burn-out-Syndrom. Vor dem Ausbrennen kann man sich durch die Beachtung grundlegender arbeits- und psychohygienischer Vorsichtsmaßnahmen in der Regel gut schützen. Eine Schlüsselformel der Stresspsychologie lautet in diesem Zusammenhang „Meditation und Bewegung“. Wer darauf achtet, dass er sich ausreichend Bewegung in der frischen Luft gönnt, z. B. durch Nordic-Walking oder leichtes Joggen oder Radfahren (möglichst drei- bis viermal in der Woche eine gute Stunde) hilft seinem Organismus, fit zu bleiben und Widerstandskräfte zu entwickeln. Wer täglich etwa zwanzig Minuten meditiert, schenkt seinem Leib und seiner Seele die Möglichkeit, ruhig zu werden und sich von der Last des Alltags zu lösen. Die einfachste Form der Meditation besteht darin, sich ruhig auf einen Stuhl oder ein Gebetsbänkchen zu setzen und nur auf seinen Atem zu achten. Wer mehr erfahren will, sollte einen der Meditationskurse besuchen, die heute überall angeboten werden. Hilfreich zur Stressvorsorge sind auch die Entspannungsmethoden des autogenen Trainings oder der Muskelentspannung nach Jacobson. Eine wichtige Rolle spielt bei der Stressprävention im Blick auf das Berufsleben auch die Supervision. Ganz allgemein hilfreich und bedeutsam ist – darin sind sich die Psychologen einig – ein gut funktionierendes Beziehungsnetz. Wer in einer glücklichen Beziehung lebt, über zufriedenstellende familiäre Kontakte und einen verlässlichen Freundeskreis verfügt, den wirft so schnell nichts um. Ist die emotionale Belastung aber schließlich doch bis zum Burn-out-Syndrom eskaliert, kann man sich aus eigener Kraft nicht mehr helfen, und auch der Partner, die Familie und die guten Freunde gelangen schnell an den Rand ihrer Möglichkeiten. In diesem Fall ist eine längere Auszeit und ärztliche bzw. psychotherapeutische Betreuung unerlässlich. Inzwischen gibt es immer mehr Sanatorien und klinische Fachabteilungen, die sich auf die gezielte Behandlung von Burn-out spezialisiert haben.
Spiritualität ist heilsam – das gilt nicht nur in medizinischen Zusammenhängen, sondern auch in arbeitspsychologischen. Von Schriftlesung, Gebet und Meditation gehen auch heilsame Wirkungen für unsere Arbeit und unsere beruflichen Belastungen aus.7 Letztlich, in der Tiefe, hat die Überforderungsproblematik ja immer auch etwas damit zu tun, dass da einer oder eine meint, er oder sie müsse sich das eigene Leben durch Leistung erkämpfen. Oder gar damit, dass sich jemand tief im stillen Kämmerlein an der Vorstellung berauscht, er könnte eines Tages werden wie Gott selbst. Der im vergangenen Jahr verstorbene Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat zu dieser Thematik Ende der Siebzigerjahre ein wegweisendes Buch geschrieben mit dem Titel „Der Gotteskomplex“.8 Die Botschaft der Bibel will uns befreien aus unserem selbstgestrickten Verhängnis. Sie sagt uns: Der Mensch ist und wird niemals ein Gott. Sie sagt uns aber auch: Wir bekommen unser Leben geschenkt, unabhängig von dem, was wir leisten. Es war Martin Luthers zentrale reformatorische Erkenntnis, dass „der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke durch den Glauben“ (Römer 3,28). Wir dürfen uns eingebunden wissen in den großen Zusammenhang der Liebe Gottes und uns einlassen auf seine Zusage, dass wir unser Leben, d. h. die wirklich wichtigen Dinge wie Liebe, Vertrauen, Hoffnung, Beziehung und Zuversicht, auch unsere Lebendigkeit durch unsere Leistung weder verdienen können noch müssen. Wir bekommen sie geschenkt. Je mehr wir auf Gottes Kraft vertrauen, „die in uns mächtig werden will“ (2. Korinther 12,9), desto stärker werden in unserem Innern jene Widerstandskräfte wachsen, die in der modernen Gesundheits- und Stressforschung mit den Begriffen „Resilienz“ (Bewältigungsfähigkeit), und „Kohärenzgefühl“ (Urvertrauen ins Leben) beschrieben und diskutiert werden.9 Viele, auch nicht kirchlich gebundene Menschen ahnen inzwischen etwas von der Heilkraft einer gelebten Spiritualität, wissen aber nicht so recht, wie sie mit einem spirituellen Leben beginnen können. Hilfreich kann es hier sein, wenn man sich für einige Zeit einem Geistlichen Begleiter oder einer Geistlichen Begleiterin anvertraut. Das kann ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sein, vielleicht auch jemand aus einer der christlichen Ordensgemeinschaften, aber auch ein Nichttheologe, der eine entsprechende Ausbildung hat. In den meisten Landeskirchen gibt es inzwischen ganze Netzwerke solcher Begleiter/innen, deren Aufgabe darin besteht, Menschen, die das wollen, behutsam mit religiösen Fragen in Kontakt zu bringen und sie in die Welt einer gelebten Frömmigkeit einzuführen. Ein Anruf im zuständigen Pfarramt wird zu weiteren Informationen führen. Die meisten Ordensgemeinschaften bieten inzwischen auch „Stille Tage“ oder „Einkehrzeiten“ an. Die Teilnahme daran ist in jedem Falle hilfreich und weiterführend.
1 Andreas v. Heyl: Zwischen Burnout und spiritueller Erneuerung. Studien zum Beruf des evangelischen Pfarrers und der evangelischen Pfarrerin, Peter Lang, Frankfurt/Zürich/New York 2003. Zur Thematik vgl. auch meine Bücher: Wieder heil werden. Leben im Einklang mit mir und der Welt, Grünewald, Ostfildern 2010, und Das Anti-Burnout-Buch für Pfarrerinnen und Pfarrer, Kreuz, Stuttgart 2012.
2 Der Spiegel Nr. 4/24.1.11., S. 115f.
3 Focus Nr. 10/10 – 8. März 2010, S. 96.
4 s. auch den Beitrag von Ulrich Giesekus auf S. 127
5 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes, Frankfurt 1979; Wolfgang Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, Reinbek 1978; ders.: Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek 1983; ders.: Die Ohnmacht des Helden. Unser alltäglicher Narzißmus, Reinbek 1981; Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt 1976.
6 Hierzu vgl. stellvertretend für viele: Christina Maslach/Michael Leiter: Die Wahrheit über Burnout. Stress am Arbeitsplatz und was Sie dagegen tun können, Springer, Berlin u. a. 2001.
7 Verschiedene Möglichkeiten, ein spirituelles Leben zu gestalten, sind angeboten in: Andreas v. Heyl: Exerzitien im Alltag. Ein innerer Übungsweg, Fromm, Saarbrücken 2012.
8 Horst Eberhard Richter: Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen, Psychosozial, Hamburg 1979.
9 vgl. z. B. Luise Reddemann: Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Seelische Kräfte entwickeln und fördern, Herder, Freiburg 2004; Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit, dgvt, Tübingen 1997.