BETROGEN!

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Die Autorin möchte anonym bleiben. Die Oberstudienrätin, geboren 1952, lebt im Raum Hamburg.

„Erschöpfungsdepression“ steht als Diagnose auf dem Einweisungsbogen meiner Hausärztin. Ich packe meine Siebensachen für einen vierwöchigen Klinikaufenthalt. Es ist Mitte November. Als der Koffer gepackt ist, lege ich ein neu gekauftes Tagebuch oben auf. Alles ist bereit.

Aber wie konnte ich überhaupt an diesen Punkt kommen? Ich bin doch gar kein depressiver Typ! Bin ich nicht bis jetzt energiegeladen durchs Leben geschritten? Mein Lebenslauf wirkt jedenfalls beeindruckend. Das letzte Mal habe ich ihn gerade erst vor einem Jahr aktualisiert – für die Bewerbung auf meine neue Stelle, die mich noch einmal in eine höhere Gehaltsstufe gebracht hat. Hier eine Weiterbildung, dort ein berufsbegleitendes Studium, internationale Einsatzorte. Ohne Zweifel: Ich liebe neue Herausforderungen. Es hat mir immer Spaß gemacht, Neues zu erkunden und dazuzulernen.

Und nun dieser Zustand, der mich in die Klinik bringt. Am ersten Kliniktag vertraue ich meinem Tagebuch an:

Ich bin so müde, habe keine Kraft, muss mich zu allem zwingen. Ich fühle mich wie im Gefängnis und bin ziemlich unruhig. Mein Kopf schmerzt und ich schlafe unruhig.

Warum bin ich hier? Was will ich hier?

Noch betrachte ich den Klinikaufenthalt wie eine der großen Herausforderungen, die ich doch bisher in meinem Leben immer gemeistert habe. Außerdem habe ich die Antwort auf meine Fragen im Grunde genommen doch in meinem Klinikkoffer schon mitgebracht: Ich habe im vergangenen Jahr wahrscheinlich den falschen Job angenommen. Es ist einfach dumm gelaufen. Die Verlockung der nächsten Beamten-Gehaltsstufe war zu groß. Ich hatte überschätzt, was solch eine Riesenveränderung mit einer Frau macht, die eher Ende als Mitte fünfzig ist. Allein der Umzug in eine neue Stadt, dabei bin ich doch durch und durch ein Beziehungsmensch. Wenn ich etwas weiß, dann das. Und jetzt muss ich alles neu anpacken. Die Suche nach dem neuen Friseur und dem neuen Frauenarzt sind da noch die leichtesten Übungen. Aber neue Freunde? Eine neue Gemeinde? Ich habe einfach unterschätzt, wie einsam ich mich fühle würde, wie schwer es ist, neue Kontakte zu knüpfen.

Ablehnung

Aber das Schlimmste ist die Situation in der Schule, in der ich auch als Fachbereichsleiterin arbeite. Zum ersten Mal in meiner langjährigen Berufstätigkeit erlebe ich massiv Ablehnung und Isolation. Ich bekomme so gut wie keine Einführung in die neuen Aufgaben. Aus meiner Abteilung sprechen nur einzelne Kollegen mit mir, Auskunft bekomme ich auf Nachfrage von wenigen Kollegen, von meiner Fachgruppe aber nur knapp und fast widerwillig. Ich bin mit so viel Freude und Elan an diese Schule gekommen; nie hätte ich mit einem so eisigen Empfang gerechnet. Auch nach den ersten Monaten ändert sich nichts. Ich fühle mich wie gelähmt. Das Gefühl der Einsamkeit breitet sich wie Gift in meiner Seele aus. Ich hadere mit mir, weil ich denke, eine falsche Entscheidung gefällt zu haben. Und ich hadere mit Gott, von dem ich mich geführt glaubte. Ich fühle mich völlig entwurzelt. Meine Seele findet keinen Halt. Ich bin verletzt. Ich sitze in der Falle.

Dennoch oder gerade deshalb arbeite ich mehr und mehr. Da sind Zwänge: Neuer Stoff will bewältigt werden, ich brauche neue Unterrichtsvorbereitungen, die Referendarbegleitung fordert besondere Energie, die Dienstbesprechungen sind anstrengend. Aber vielleicht will ich es mir und den anderen ja auch zeigen: Ich kann das, ich schaffe das, ich bin an diesem Platz die Richtige. Die Arbeit verschlingt mich. Fremde Gedanken ergreifen mich, Gedanken der tiefen Sinnlosigkeit.

Ich bin total erschöpft und trotzdem mache ich hier alles mit. Ich habe Angst, wenn ich total runterfahre, dass ich nicht wieder auf die Beine komme. Mein Motor läuft auf Hochtouren.

(Tagebuch, 1. Woche)

Es ist mir zu viel Programm. Ich sehne mich nach Ruhe, nach Frieden, vielleicht nach Gott, der mir so weit weg erscheint. Ich würde am liebsten in ein Kloster gehen und nur bei mir und bei Gott sein. Jedenfalls für eine kleine Weile. Auf der anderen Seite sehne ich mich unendlich nach Gemeinschaft.

(Tagebuch, 2. Woche)

Beziehungen waren mir immer wichtig. Ich hätte gern eine große Familie mit Kindern gehabt, aber ich habe keine Kinder und auch nur eine kleine Familie.

Schmerzhafter Rückblick

Mit 38 Jahren heirate ich die große Liebe meines Lebens. Endlich habe ich den Richtigen gefunden. Ronald ist geschieden, Lehrer, liebenswürdig, sensibel, witzig und sehr gescheit – dazu noch attraktiv, eine gefährliche Mischung! Einmal singt er mir auf einem Spaziergang alle Strophen des Liedes „Ich weiß, so ein Mädchen ist eigentlich viel zu schade für mich, viel zu schade für mich!“ von Hannes Wader vor. Ich lache Tränen.

Ronald gibt mir Geborgenheit, Sicherheit. Ich vertraue meinem Tagebuch an: Ronald war für mich Heimat.

Vor unserer gemeinsamen Zeit hatte er Phasen einer schweren Depression durchlitten, aber ich erlebe ihn in unserer Ehe gesund. Er ist ein wunderbarer Genussmensch, der mich mit seinen Kochkünsten verwöhnt, wenn ich von anstrengenden Weiterbildungen nach Hause komme, und anschließend sogar die Küche aufräumt.

Heute habe ich all meine Kraft und meinen Mut zusammengenommen und dem Klinikseelsorger von Ronalds Ehebruch und Tod erzählt. Jetzt spüre ich, dass ich wenig Distanz zu ihm bekomme, und auch, dass ich diese nicht wirklich will. Ich glaube, ich muss Ronald erst einmal loslassen, bevor irgendetwas an Entwicklung passieren kann. Vielleicht ist es auch nur dieses Idealbild von ihm, das ich loslassen muss. Das fällt mir schwer.

(Tagebuch, 3. Woche)

Ich blicke zurück: Nach elf glücklichen Ehejahren bekommt Ronald einen schweren depressiven Schub. Er sorgt selbst dafür, dass er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. An einem der ersten Abende telefonieren wir miteinander. Er spricht von furchtbaren Schuldgefühlen, die ihn plagen. Er erwähnt seine Kollegin Silke, die ich auch gut kenne. Stockend und zitternd spricht er Dinge aus, die mir jeden Halt rauben. Er hat sich mit dieser Kollegin seit neun Jahren wöchentlich getroffen. Ja, sie haben dann miteinander geschlafen.

Ich gerate in einen Schockzustand. Höre meinen Mann Unfassbares stammeln: dass die Frau schuld sei, dass er mich um Verzeihung bitte, dass dann bestimmt alles wieder gut werde. Höre mich sagen, dass ich ihm alles verzeihe. Wir reden von einem Neuanfang. Bevor ich den Hörer auflege, verspreche ich ihm, am nächsten Morgen anzurufen. Nach einer schlaflosen, Nacht, in der ich das Gefühl habe, aus der Wirklichkeit herausgenommen zu sein und in einem Niemandsland herumzuirren, versuche ich Ronald morgens um 7.30 Uhr zu erreichen.

Aus meinem Tagebuch von damals:

Ronald war aber nicht am Telefon, die Krankenschwester sagte mir, ich solle später den Arzt anrufe. Ja – ich habe gewusst, dass etwas Schreckliches passiert war. Mir wurde innerlich furchtbar kalt. Alles erstarrte. Als der Arzt mir sagte, dass Ronald tot ist, habe ich das nur noch aus weiter Ferne wahrgenommen.

Ronald hat sich das Leben selbst genommen. Ich habe den Eindruck, dass er die Last nicht mehr tragen wollte und sie mir nun überlassen hat.

Schockstarre

Fast acht Jahre trennen mich von diesem Ereignis. Trennen mich – und doch spüre ich in diesen Tagen in der Klinik ganz deutlich meine Fesseln. Ich bin noch immer gebunden.

„Und als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine“, betet ein Psalmbeter. Meine Unruhe, meine Rückenschmerzen, meine Kopfschmerzen, der Kloß im Hals, die tiefe Müdigkeit – sind das meine „verschmachteten Gebeine“?

Ich habe lange Ronalds Treulosigkeit verschwiegen. Warum? Hatte ich Angst, den Schmerz nicht ertragen zu können, wenn er auch vor anderen offen daliegt?

Fürchtete ich Schmach?

Es ist vorbei. Ich will leben. Ich lasse den Schmerz zu.

Ich muss mich wohl von dem Idealbild von Ronald verabschieden und mich von ihm innerlich trennen. Erst mit der Distanz zu ihm kann ich ihn anders sehen. Er ist tot und hat diesen suizidalen Akt vollzogen. Diese Tatsache muss und will ich anerkennen. Er hat mich neun Jahre lang belogen und betrogen. Bisher erhielt immer der arme kranke Ronald alle Sympathien, und ich habe die Last in unserer Ehe und auch in der Zeit danach geschleppt … Mir wird klar, dass ich nur gesund werden kann, wenn ich die Gefühle von Wut und Hass, der großen Enttäuschung, alles, was sich langsam in mir zusammengebraut hat, zulasse und anschaue.

(Tagebuch, 3. Woche)

Schon bald wachsen mir nach Ronalds Tod neue Kräfte zu, ein neuer Lebenswille erwacht. Ich bin zuversichtlich, einen neuen Lebenspartner zu finden. Ich unterschätze die schwere Last, die ich auf meinen Schultern trage. Im Rückblick sehe ich, wie sich die Spirale immer schneller dreht. Meine innere Unruhe treibt mich an, ungestillte Sehnsucht lässt mich Entscheidungen treffen, von denen ich mir Frieden erhoffe. Hausverkauf, neue Wohnung, Stellenwechsel, neue Stadt. Ich bin eine Getriebene. Und so kann es geschehen, dass Motive, die mich immer schon zu Hochleistungen angespornt haben, durch meinen zugedeckten Schmerz zusätzlichen Antrieb bekommen.

Späte Trauer

Heute frage ich mich, ob ich den Zusammenbruch unbewusst inszeniert habe. In der ersten Zeit nach Ronalds Tod konnte ich den Schmerz nicht zulassen. Schmerz, den ich neun Jahre später in meinem Burn-out erlebe. All die Jahre hatte ich gedacht, es sei abgeschlossen. Dass der Tod meines Mannes und die Umstände seines Todes im letzten Jahr so massiv in mein Bewusstsein kamen, hat mich erstaunt. Es wurde Zeit, die unerledigte Aufgabe anzupacken.

Ein Jahr liegt der Klinikaufenthalt nun hinter mir. Vieles hat sich nicht verändert: Ich bin immer noch in derselben Stadt, am selben Arbeitsplatz. Single.

Und doch habe ich einiges verändert, zunächst ein paar äußere Dinge: Ich arbeite nicht mehr am Sonntag. Das bringt mir Ruhe. Und es ist Schluss mit dem „Churchhopping“. Mich für eine Gemeinde zu entscheiden, hat mit gut getan, auch das hat Ruhe in mein Leben gebracht.

Ich bin ein paar Denkmustern auf die Spur gekommen. Ich lerne, weniger auf das zu sehen, was andere von mir erwarten. Das ist sehr entlastend. Ich kann mir sogar vorstellen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Das wäre mir früher absolut peinlich gewesen. Viel zu arbeiten hat ja ein gutes Image.

Ich habe entschieden, dass die Arbeit nicht mehr so wichtig ist. Meine Arbeit mit dieser Einstellung sehen zu können, habe ich mir früher schon immer gewünscht, aber ich konnte sie nicht durchhalten. Jetzt geht es. Ich gebe zu, dass es mir nicht immer leicht fällt; ich bin ein ziemlich ehrgeiziger Mensch.

Und mein großer Schmerz um meine Ehe?

„Sie dürfen die guten Erinnerungen behalten“, habe ich in der Therapie gehört, nachdem ich meine Wut endlich zugelassen habe. Die guten Zeiten zurückerobern – das übe ich gerade.

Protokoll: Claudia Filker