Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner, geboren 1942, arbeitet als Daseinsanalytikerin und Therapeutin für Katathym-imaginative Psychotherapie (KIP) in eigener Praxis in Zürich.
Zur Therapie angemeldet hat sich ein 30-jähriger Sozialpädagoge. In die Praxis kommt ein verzweifelter, total erschöpfter, fast kindlich wirkender Mann mit eingefallenem, unter einer Strickmütze tief verstecktem Gesicht. Ich werde Gianni Esposito10 während unserer fast dreijährigen gemeinsamen Arbeit noch einige Male in diesem bedauernswerten Zustand erleben. Eigentlich aber ist Gianni ein großer, gut aussehender südländischer Typ mit dunklen Augen und schwarzen Locken, seit fünf Jahren mit seiner Jugendfreundin glücklich verheiratet. Was ist geschehen? Gianni erzählt eine typische Burn-out-Geschichte:
Der in Gesprächstherapie-Ausbildung befindliche Sozialpädagoge hatte vor einigen Jahren seine erste Stelle in der Asylantenbetreuung angetreten. Im Umgang mit den Menschen zeigte er ein besonderes Geschick. Mehr und mehr wurden ihm Aufgaben anvertraut, die ihn sehr belasteten. Seine emotionale Kompetenz wurde überschätzt. Insbesondere aber litt er unter strukturellen und organisatorischen Unklarheiten im Mitarbeiterbereich. Seine Vorgesetzten gaben widersprüchliche Anweisungen. Gianni hatte gelernt, durch Leistung Anerkennung zu erhalten, und sein kritischer Perfektionismus trieb ihn an. Er kam auf allen Ebenen in die Retterrolle, wollte alles besser machen – nur die Anerkennung blieb zunehmend aus. Die Erschöpfung begann schleichend, depressive Verstimmungen kamen hinzu, Versagensgefühle und Gedanken an Suizid. Er konnte sich am Wochenende nicht mehr erholen und auch mit 14 Stunden Schlaf seine Müdigkeit nicht überwinden, sondern erlebte sich zeitweise in einem Zustand „wie im Wachkoma“. Er kam „nicht mehr runter“, seine Seele „überschlug sich“. Die kleinsten Erledigungen im Alltag wurden ihm zur unüberwindlichen Last. Am Ende dieser Entwicklung stand die Unfähigkeit, Auto zu fahren. Seit sechs Monaten war er nun Woche um Woche krankgeschrieben und wurde vom Hausarzt mit Medikamenten und Psychotherapie betreut. Die Stelle war gekündigt, aber Entlastung stellte sich nicht ein. Es blieb ein schwammiges Gefühl von Trauer und Wut, ein suizidales Selbstmitleid und Opfergefühl, das er aus seiner Kindheit kannte. Was weiß Gianni bereits über sein Werden und Sein?
Gianni ist italienischer Herkunft, in Zürich geboren als jüngstes Kind mit drei älteren Schwestern. Der Vater freute sich nicht über seinen sensiblen Sohn, gab ihm keine Anerkennung, konnte hingegen gewalttätig und sadistisch sein. „Er raubte dem Kind die Kraft“, sagte Gianni rückblickend, „das suchte dann die Beachtung durch kompensatorisch aufgesetzte Überheblichkeit.“ Die Mutter verhielt sich überfürsorglich-verwöhnend, aber nicht schützend. Unterordnung unter den Ehemann war angesagt; eine Haltung der Demut, die Gianni verachtete. Für den Großvater väterlicherseits hingegen war er der sehnlichst erwartete Enkel, der Prinz, der Größte. Gianni lernte zwei Verhaltensstrategien: einerseits eine Anpassung, die zur Selbstunsicherheit führte, so dass er sich nicht bewusst wurde, wer er ist und sein könnte. Andererseits ein kompensatorisches Aufbegehren, Wut und destruktive Aggression, da, wo es möglich war. Er verstand es nämlich gut, schwächere Schulkollegen zynisch-sadistisch fertigzumachen. Er war der Held, der starke Max. Und suizidal. Er spielte mit dem Gedanken, sich im offenen Dachstuhl des Elternhauses zu erhängen, um endlich mit seinem Leiden gesehen zu werden. „Jetzt zeige ich es euch …“ Das erzählt mir Gianni voller Trauer und Scham in der dritten Sitzung. Er hat Vertrauen in unsere Zusammenarbeit gefasst.
Die Wende seines jugendlichen Lebens ereignete sich nach Jahren des Drogenkonsums. Er hatte eine Gotteserfahrung, fühlte sich durchströmt von warmer Liebe und angenommen. „Es gibt einen Gott!“ Er ging auf die Suche nach einer Pfarrei und erneuerte seinen katholischen Glauben. Für den 20-Jährigen ein Erlösungszustand. Er begann aktiv ein christliches Leben zu führen. Ob der Glaube in der Therapie Raum einnehmen dürfe, fragt Gianni am Ende unserer ersten Sitzung. Er möchte herausfinden, warum er in so frühem Alter trotz seines Glaubens krank geworden ist und warum er kaum noch Gefühle spüren kann. Für mich ist es selbstverständlich geworden, Glaubensfragen – je nach Bedürfnis eines Patienten – als dessen wichtigste Überzeugung in den therapeutischen Prozess miteinzubeziehen, sei es als Teil seines Problems, sei es als hilfreiche Ressource. Für einen Teil meiner Klientel ist der christlich praktizierte Glaube unverzichtbares Lebenselement. Diese finden den Weg zu mir ja auch über ein Verzeichnis christlicher Fachleute12. Gianni fragt auch nach meiner therapeutischen Methode und nach dem Vorgehen. Ich erkläre es ihm: Das Gespräch ist der Angelpunkt der Therapie und immer auch Begegnung; das psychodynamische Verständnis vom Werden eines Menschen und seinem Leiden kann zudem durch den Einsatz von therapeutischen Imaginationen anschaulich gemacht werden. Die Therapie wird stützende, aber auch konfliktorientierte Elemente enthalten.
Imaginationen13, auch Tagträume genannt, werden in der Regel zielgerichtet angeboten: um Schutz und Geborgenheit erfahren zu können, zur Erholung und Kräfteerneuerung, zur Konfrontation mit Konfliktsituationen, zum Erinnern und Verstehen von Kindheitserfahrungen und deren Auswirkungen auf das gegenwärtige Leben, zum Erkennen von psychosomatischen Zusammenhängen, zur Entwicklung von kreativem Potenzial. Es zeigt sich, dass es im Tagtraum auch möglich ist, spirituelle Erfahrungen zu machen, und dass diese auf ganz besondere Weise zur Ressource für den Heilungsprozess werden können. Wo immer es sich anbietet, gebe ich deshalb Hilfen und Unterstützung, damit ein Patient oder eine Patientin diese heilenden Erfahrungen machen kann. Wenn also in der Imagination nach einer sogenannten „Hilfreichen Gestalt“ gesucht wird, kommt es nicht nur bei gläubigen Patientinnen und Patienten vor, dass sie eine Gestalt erblicken, die eine heilige Ausstrahlung hat. Bei frühtraumatisierten Frauen ist das oftmals die Gottesmutter Maria. Aber auch ein Schutzengel oder Jesus Christus können in einer Imagination auftauchen. Und beim Imaginieren eines „Sicheren und schützenden Ortes“ kann dieser auch einen heiligen und sakralen Charakter haben und z. B. eine Kirche sein, ein Kloster, oder einfach die Natur.
In unserer vierten Sitzung teilt mir Gianni mit, dass er bereits einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben hat. Wir sind uns einig, dass die drei Monate bis zum Arbeitsbeginn wohl nicht ausreichen werden, um die volle Gesundheit wiederzuerlangen, aber er steht unter Druck von Seiten des Arbeitsamtes und der Invalidenversicherung. Die Arbeitsbedingungen scheinen günstig; er wird sich mit nur 60 Prozent als therapeutischer Mitarbeiter in einem Jugendheim versuchen. Wir besprechen einige unterstützende Maßnahmen für den Alltag, die er zum Teil bereits mit Erfolg anwendet: eine klare Tagesstruktur und ausreichender Schlaf, sportliche Aktivitäten in der Natur und nur mäßig viele soziale Kontakte, Umstellung der Ernährung. Entspannungs- und Stressbewältigungstechniken wird er im Rahmen der Imaginationen lernen.
Wir stehen am Anfang unserer gemeinsamen Arbeit, die mit Unterbrechungen fast drei Jahre dauern wird und 57 eineinhalb- bis zweistündige Sitzungen mit 40 Imaginationen umfasst. Noch fühlt sich Gianni seinen körperlichen Reaktionen hilf- und schutzlos ausgeliefert, hin- und hergeworfen zwischen Panik und wütender Verachtung. In den ersten Imaginationen geht es daher darum, Schutz und Geborgenheit zu finden, sich zu entspannen und zu Kraft zu kommen. Er sieht zum Beispiel einen gläsernen Tränen-Tropfen, in dem er sich wie in einem Schutzraum warm, wohl und fern von allen Sorgen und wie in Gottes Hand geborgen fühlt. Ein Wärmestrahl breitet sich im Bauchraum aus, und alle Spannungen lösen sich auf. Im imaginierten Zwiegespräch mit Jesus weinen beide über Giannis mangelndes Gottvertrauen. Das Im-Tropfen-Sein wird für ihn auch zur Entspannungsübung zu Hause. Weitere imaginierte Rückzugsorte sind eine Schaffellhöhle, ein Baum und eine Düne am Meer. Oft kommt es dabei auch zu Begegnungen mit religiösen Gestalten: mit David, mit dem Guten Hirten, mit dem Schutzengel und immer wieder mit Jesus. Und erst in der imaginierten Gegenwart von Jesus wird es ihm gegen Ende der Therapie möglich sein, auch seinen introjizierten bösen Persönlichkeitsanteil – seinen „Giftzwerg“ – zu wandeln und zu integrieren. Denn dieser ist es, der ihn immer wieder zu Fall bringt und ausbrennen lässt.
Die Sicherheit und Schutz gebenden Imaginationen dienen der körperlichen Entspannung und psychischen Stressreduktion. Sie werden im Verlaufe der Therapie nach Bedarf immer wieder eingesetzt. Der therapeutische Fokus richtet sich dann aber vor allem auf die Veränderung der Stressverstärker: Giannis Perfektionismus und Anerkennungssucht, seine Bereitschaft, in die Retterrolle zu schlüpfen, seine destruktiven Denkmuster zwischen Angst, Selbstüberschätzung und wütender Entwertung. Im Gespräch wie auch in der Imagination geht es einerseits um Begegnungen mit dem verletzten inneren Kind, d. h. auch um das Erkennen und Entkräften frühkindlicher traumatischer Erfahrungen; andererseits sind wir gemeinsam hellhörig auf aktuelle Konfliktsituationen am neuen Arbeitsplatz und bereiten gezielt Gespräche, Abgrenzungswünsche und Konfrontationen vor. Gianni ist begeistert von der Wirkungsweise der Imaginationen. In kindlich anmutender Freude schmückt er sie spielerisch mit märchenhaften Elementen aus. Das hilft ihm offensichtlich, den schmerzhaften Schritt zu den Erfahrungen des kleinen, vom Vater sehr verletzten Gianni zu tun.
Die Probezeit ist bestanden, aber Gianni kann sich nicht freuen, kann Lob und Anerkennung kaum an sich heranlassen. Wie ist das zu verstehen? Statt zu entspannen hat Gianni Angst, von Lob abhängig zu werden. Da ist diese bodenlose Bedürftigkeit nach Anerkennung, die nicht zu sättigen scheint und nicht mehr kontrollierbar sei. Freude über Lob und Anerkennung zu empfinden, würde heißen: Du musst noch mehr leisten! Aber Giannis akute Leistungsgrenze wird in diesem halben Jahr bereits sehr deutlich: Er muss sich zeitliche Freiheiten herausnehmen dürfen, um bestehen zu können. Er geht morgens oft erst spät zur Arbeit, muss sich immer wieder mal einen Tag krankmelden, braucht Krankschreibungen vom Hausarzt – und macht Überstunden. Die Therapie geht gut voran, aber nach sechs Monaten bahnt sich eine neue Krise an. Gianni ist sich nicht bewusst, dass er sich auch in seinen Ferien schonen müsste. Er kommt daher recht erschöpft von einer langen Autoreise in den Alltag zurück und erleidet einen Rückfall mit allen Symptomen des Burn-out. In der Imagination sieht er eine Vulkan-Explosion. So geht es ihm: Alles fliegt weg, er muss sich wieder einsammeln. In der erneuten Suche nach einem „Sicheren Ort“ sieht er sich auf dem Tafelberg in Kapstadt. Um vor einem Tsunami sicher zu sein, baut er sich auf dem Berg eine Burg mit Stadtmauer, ein Haus aus festem Stein mit bruch- und sprengsicheren Fensterscheiben, worin sich eine mit Schaffell ausgelegte Höhle befindet. Gianni beschreibt seinen dramatischen Zustand so: „Als ich mich versicherte, dass die Burg uneinnehmbar war, das Haus erst recht, Raketen abprallten am Glas, war ich mir sicher, geborgen zu sein, und musste nichts mehr befürchten. Ich konnte loslassen und mich fallen lassen.“
Erneut müssen wir mögliche Abgrenzungen durch Struktur- und Arbeitspläne besprechen, Prioritätenlisten erstellen, Teamgespräche vorbereiten und nach Supervision Ausschau halten. Seine Devise – „Wenn ich nicht genug leiste, wenn ich ohne Stress bin, bin ich nichts wert. Wann ist gut wirklich gut? Ich will der Welt zeigen, wie gut ich bin!“ – ist noch lebendig in ihm wirksam. Aber er muss sich erlauben, für sich einstehen zu dürfen: Statt Überstunden zu machen, muss er seine Arbeitszeit durch Delegation reduzieren lernen.
Wir arbeiten weiter und Gianni erholt sich. Noch steht er auf Kriegsfuß mit seinen Kindheitserfahrungen und lehnt die Zustände von Bedürftigkeit, Angst und ohnmächtiger Wut, die tief in ihm verwurzelt sind, schamvoll ab. In den Imaginationen jedoch blickt er als Erwachsener auf sein inneres Kind, drückt es ans Herz und wird von Trauer übermannt. Gianni schreibt nachträglich: „Ich drückte den Kleinen sehr fest, sehr stark und musste sehr weinen. Ich hatte ihm so viel Schreckliches angetan, so viel Schmerzen bereitet, ihn so oft übersehen. Andererseits lehnte ich ihn irgendwie ab, hatte Angst vor ihm, er kam mir vor wie ein Stiefkind, mir unbekannt, nicht mein eigen Fleisch und Blut, obwohl ich wusste, dass das nicht wahr war. Ich liebte ihn, liebte das Bild, wie ich ihn hob, und beim zweiten Mal Hinschauen sah ich, wie er lächelte.“ In anderen Imaginationen begegnet Gianni dem Vater seiner Kindheit, ist dessen Willkür und seinen Machtdemonstrationen massiv ausgesetzt und von Hass gegen ihn übermannt. Von Versöhnung mit Vater und Schicksal kann noch keine Rede sein.
Zu meiner Überraschung bahnt sich nach einem Jahr eine weitere Krise an. Auslöser sind Konflikte mit Kollegen, die ihre Arbeit nicht tun, was Giannis Arbeit betrifft und belastet. Er entscheidet sich, nicht länger in der ohnmächtigen Wut hängenzubleiben. Er kündigt seine Stelle ohne Rücksprache mit mir und ist stolz auf sich. Und er erleidet einen erneuten Zusammenbruch: Paradoxe Gefühle in Extremform, Energieschub bei totaler Erschöpfung, der Körper dreht durch wie im Karussell – so seine Beschreibung –, und er weiß nicht mehr, wer er ist. Sinnlosigkeitsgefühle beschleichen ihn, er will endlich wieder ein normales Leben führen und seine eheliche Beziehung pflegen können. Er ist wütend über die Situation, sich selbst und die Therapie: „Ich stehe am gleichen Punkt wie vor drei Jahren. Warum habe ich mich durchgebissen? Ich will und kann nicht mehr kämpfen.“ Seine Wut auf sich selbst ist maßlos, steht aber im Gegensatz zur Angst vor drei Jahren: Damals fürchtete er, an Erschöpfung zu sterben. Am liebsten möchte er sich für ein bis zwei Jahre eingraben, in ein Kloster zurückziehen. Gianni klammert sich an das Gebet. „Es tut gut, alles loszulassen vor Gott. Ich habe Zweifel, ob ich etwas verändern kann. Die Hoffnung ist gestorben. Ich weiß nicht, ob ich da rauskomme. Dein Wille geschehe.“
Giannis Zusammenbruch kommt für mich unerwartet. Ich hinterfrage die Wirksamkeit von Therapie, von meiner Therapie … Wir arbeiten weiter. Zunächst gilt es, Schadensbegrenzung zu leisten. Gianni ist wiederum krankgeschrieben. Wir bereiten die Übergabe seiner Arbeit an einen neuen Kollegen vor. Wir denken über sein Arbeitsfeld nach. Sollte er nicht eher im wissenschaftlichen oder Ausbildungs-Bereich arbeiten und eine therapeutische Verantwortung meiden? Die Arbeitslosen- und Rentenversicherung schalten sich ein. Sollte er vielleicht eine Invalidenrente beantragen? Eine Frage drängt sich auf: Scheitert er an der Überforderung wegen fehlender Strukturen am Arbeitsplatz – oder weil man ihn nicht mag? Eigentlich hat Gianni ein gewinnendes Wesen, aber unter Stress zeigt er eine andere Seite: Er will erneuern, alles besser machen, er kritisiert, stellt in Frage. In der Jugend hatte er Klassenkameraden zynisch fertiggemacht, das wissen wir schon. Er erlebte die eigene Größe durch die Entwertung anderer. Und heute? Gilt das auch heute noch? Gianni hatte mit zwanzig Jahren zum Glauben gefunden und fühlte sich befreit und erlöst. Waren damit seine bösen Charakteranteile unschädlich gemacht? Langsam dämmert es uns: Er sieht sofort die Missstände im neuen Arbeitsbereich und deckt sie auf; er erkennt die Schwächen seiner Arbeitskolleginnen und -kollegen und überhebt sich; als junger Neuling wird er in seinem Perfektionismus zum Besserwisser, zur Bedrohung der Alteingesessenen und von den anderen ausgestoßen. Das aber ist unerträglich für ihn, daran scheitert er letztendlich. Denn über allen Lebensthemen steht ja das eine: Gesehen- und vor allem Geliebtwerdenwollen.
Wir wenden uns Giannis Schattenseiten vertieft zu. Sie zeigen sich auf unterschiedlichste Weise. Die Kehrseite seines Perfektionismus wird erst jetzt, in der aktuellen Auseinandersetzung mit den Ämtern, deutlich. Mit Befremden sehe ich den Schriftverkehr ein: Seine Auskünfte an die Ämter sind schludrig verfasst und voller Fehler! Meine kritische Feststellung, er lasse es ja wohl reichlich an Sorgfalt und Respekt fehlen, löst in ihm trotzige Empörung aus, obwohl es klar ist, wer hier was von wem will: „Ihr könnt mich alle mal … Ich will gar nichts beweisen müssen. Es ist unter meiner Würde“, kommentiert der „Giftzwerg“ in ihm, dem jegliche Selbsterkenntnis und Betroffenheit abgehen. Wir kennen ihn ja bereits: Der innere „Giftzwerg“ ist ein „Zombie, ein aufgeblasener Sumo-Ringer“. Vom Großvater hatte der Enkel viel Bestätigung erhalten, sodass er wachsen konnte; aber der „Zombie“ ist wohl dessen überheblicher, grandioser Schattenaspekt, dem jetzt endlich die Luft rausgelassen werden muss.
Bei seiner Bekehrung hatte Gianni erlebt, dass Jesus ihn aufforderte: Zeige mir deine Lebenslügen! Das Sich-Offenbaren war aber wohl auf der Verstandesebene steckengeblieben. Erst die aktuelle Not und die symbolischen Bilder in den Imaginationen führen zu einer echten Erkenntnis all dieser Zusammenhänge. Er fühlt jetzt erstmals tiefe Trauer über seine existenziellen Ängste und seine Krankheit und empfindet Betroffenheit und Reue über seine zynisch-destruktiven Seiten, die introjizierte destruktive Macht des Vaters, die in Gianni erst noch entkräftet werden muss. In weiteren Imaginationen kommt es zu Begegnungen mit dem Vater.
Gianni wünscht sich einen Engel zur Unterstützung gegen den Vater an seine Seite und sinnt auf Rache, ja er hat geradezu Todeswünsche: Er möchte den Vater am liebsten zertreten, erwürgen oder aus dem Fenster werfen. Der Engel hilft ihm, auch die guten Seiten des Vaters zu sehen. Es kommt also zu einer Relativierung der übersteigerten Gefühle.
Im nächsten Tagtraum kommt der Vater in der Gestalt eines Stiers wutschnaubend auf seinen Sohn zugestürmt, prallt aber an einem Panzerglas ab, das den Patienten und den Engel vor seinem Angriff schützt. Warum ist der Stier so von Sinnen und außer Kontrolle? Er ist selbst verletzt wie im Stierkampf und weiß nicht mehr, was er tut. Das ist Giannis Erkenntnis. Und auch, dass das Kind nicht schuld am Verhalten des Vaters ist. Er sieht noch, wie der Vater schwer- und zugleich wehmütig auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe davongeht und nicht auf die Kontaktversuche seines Sohnes reagiert.
Im dritten Tagtraum sieht Gianni ein Zwergen-Männchen wie Rumpelstilzchen, das abwechselnd wächst und schrumpft. Es ist kein natürliches Wachstum, sondern noch immer die zusammengefallene oder aufgeblasene Hülle eines „Zombies“. Der Zwerg braucht die Erlaubnis, natürlich wachsen zu dürfen, und die kann er nur vom Vater bekommen. Der wird von zwei Engeln in Handschellen herbeigebracht und spricht die entscheidenden Worte aus: „Du darfst wachsen. Ich entlasse dich und bin stolz auf dich.“
Giannis Verhältnis zum Vater der Kindheit ist entspannter, er sehnt sich aber nach Versöhnung. Erst die imaginierte Wahrnehmung, dass auch der Vater einen inneren „Kleinen“ hat, macht dies möglich. Gianni schreibt: „Der Kleine meines Vaters sagte mir, dass er mich liebe und mich schätze. Ich dürfe so sein, wie ich bin. Er gab mir zu verstehen, dass es der Fehler des erwachsenen Vaters war. Ich bin in Ordnung, so wie ich bin. Ich war sehr betroffen von der Aussage, dass mein Vater mich im Grunde liebte. Ich habe gelernt, dass es nicht mein Fehler sei, sondern der meines Vaters, der in der Imagination mit dem Stier als krank und von Sinnen entlarvt wurde. Ich gab dem Kleinen die Hand, und es kam zu einer Art Versöhnung. Mein Körper entspannte sich. – Plötzlich entstand ein Bild von mir in meiner Kindheit, so wie ich einst ursprünglich war. Ich war voller Leben, ohne innere kritische Stimmen, einfach frei, spontan und zugleich völlig authentisch. Ich erinnerte mich an eine Situation, in der ich vor Freude schrie, rumtollte und mit Wasser um mich spritzte. Es war ein sehr ursprüngliches Gefühl, in dem ich mich völlig kongruent fühlte und frei war!“
Wir arbeiten intensiv weiter an der Entlarvung seiner Schattenseiten und deren Integration. In einer Imagination schaut Gianni sich auf die Finger. Er sieht, wie der rebellisch-böse und verletzte kleine Gianni seine Show abzieht und den Boss spielt. Der große Gianni erkennt zwar die Not, die dahintersteckt, belächelt ihn aber – und ist keineswegs betroffen. „Ich fing an zu sehen, dass ich genau zu ihm war, wie mein Vater zu mir, der mich immer belächelte, mich nicht für voll nahm, mich nicht sah. Ich machte exakt das Gleiche mit ihm und nahm ihn nicht ernst. Deshalb hatte er sich eine Fassade aufgebaut, um sich zu schützen und keinen an sich heranzulassen (so wie ich damals). Ich wurde mir auf einmal meiner eigenen Schuld bewusst und sah, wie ich mich selber bzw. den Kleinen in mir behandelte. Ich schämte mich, hatte Schuldgefühle und war zugleich traurig über mich selbst. Ich war mein eigener Feind geworden, ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein. – Ich wandte mich danach direkt an Jesus und bat ihn, mich zu einem guten Vater zu machen, mir die Gnade zu schenken, diese Aufgabe gut auszuüben und mir zu vergeben. Jesus tat dies in einer verständnis- und liebevollen Art und Weise, auch wenn es mir schwerfiel, dies ganz für mich anzunehmen.“ Betroffenheit und auch Demut sind für Gianni noch weitgehend unbekannte, neu zu erlernende Emotionen.
Rückblick: Nach der Kündigung der Arbeitsstelle hatte ich Gianni zur Imagination das Motiv „Weg“ vorgegeben. Er befand sich im Meer und fühlte sich wie an einem falschen Ort: „Ich habe Mühe, den Kopf über Wasser zu halten; ich sollte nicht im Wasser sein. Aber an Land ist es felsig. Um da raufzukommen, muss ich am Wasser entlang durch zehn Buchten laufen. Ich finde einen Weg durch Sand und Gras und kann mich auf einer Düne ausruhen.“ Nach sechs Monaten größter Anstrengung, den Kopf über Wasser zu halten – Gianni war nie in einer Klinik –, hat er die zehn Buchten durchquert, ist angekommen und hat eine neue Arbeitsstelle mit 70 Prozent im sozialpädagogischen Ausbildungsbereich angetreten. Hier hat er keine therapeutische Verantwortung, muss nichts neu entwickeln, sondern kann sich auf vorhandene Arbeitsunterlagen stützen. Assessments und Gutachten fallen ihm leicht. Er hat viel Freiraum bei der Arbeit, der Arbeitsplatz ist ruhig und ohne Störungen, die Arbeit ist vorhersehbar und gut strukturiert. Aber es kommt regelmäßig zu Energieverlust im Verlaufe der Woche, und er bleibt empfindlich gegenüber Stress. Er benötigt noch immer sehr viel Schlaf und nimmt zeitweilig Schlaftabletten. Sonntagabends hat er Anspannungen im Bauch. Da hilft ihm die imaginierte Vorstellung, dass er seinen inneren kleinen fröhlichen Gianni mit sich zur Arbeit nimmt, mit ihm durch den Garten vor dem Arbeitsplatz spazieren geht, an den Rosen riecht und gemütlich Tee trinkt. Die ihm wichtigste Erkenntnis ist, nichts erzwingen zu wollen.
Wir beenden die Therapie mit einer Sitzung zu dritt. Ich lerne Giannis Frau kennen, die ich während der Jahre im Hintergrund wirkend und stützend erlebt habe. Wir blicken zurück auf die vielen Gespräche und Imaginationen, von denen hier nur ein kleiner Ausschnitt sichtbar gemacht werden konnte. Die Espositos wünschen sich eine gemeinsame Imagination zum Thema „Liebe geben und Liebe empfangen“. Sie lassen jeder für sich Symbole der Liebe vor dem inneren Auge entstehen und einigen sich dann auf ein gemeinsames Bild, das Miteinander-Spielen am Meeresstrand. Manchmal kommen auch mir beim Zuhören und Protokollieren eigene Bilder. Ich sehe, wie das Paar einen Drachen steigen lässt.
10 Name und Geschichte meines Patienten sind anonymisiert.
11 Ich verwende oft den sprachlichen Ausdruck meines Patienten, auch wenn das nicht eigens gekennzeichnet ist.
12 www.eVBG.ch/psychologie: Verzeichnis christlicher Fachleute
13 Meine Ausbildung ist die „Katathym-imaginative Psychotherapie“ (KIP, früher KB), www.agkb.de