Ines Emptmeyer, Jahrgang 1977, ist sozialpädagogische Mitarbeiterin an der Evangelischen St.-Matthäus-Gemeinde in Bremen.
Ich darf skeptisch, ironisch, sarkastisch und kritisch sein. Ich hab es selbst erlebt: eine Zeit hinter verschlossenen Türen. Tage, in denen die Abteilung der „Klinik für Menschen mit psychischen Problemen“ zur geschlossenen Abteilung wurde. Tage, an denen ich dachte, ich sei im falschen Film, weil ich es doch immer war, die anderen half! Jetzt sollte ich auf einmal in der morgendlichen Befindlichkeitsrunde erzählen, wie ich geschlafen hatte und ob die Nacht gut war? Moment, fangen wir von vorne an!
Wie oft liefen mir die Tränen. Einfach so, grundlos. Wie so oft konnte ich sonntagabends bei Rosamunde Pilcher nicht mehr aufhören zu weinen, schleppte mich weinend ins Bett und verdrängte mit letzter Kraft die Gedanken an die kommende Woche. Die vergangenen Jahre waren voll von solchen Szenen. Viele Menschen, viel Verantwortung, viele Gedanken, viele unerfüllte Sehnsüchte, viele Emotionen, viele Ehrenämter, viele Stationen, Jobs, Umzüge, Neues. Ich zog wieder um. Eine neue Station mit neuem Job. Für mich war es eine Aufgabe, Teil einer Berufung zu etwas ganz Großem. Die von Gott gegebenen Gaben einzusetzen, Gott zu dienen! Dabei war die Sehnsucht in mir eine ganz andere: Hausfrau und Mutter sein. Ankommen, Nest bauen, entschleunigen. Doch offenbar war ich nicht zu dem berufen, wonach ich mich sehnte. Innen und außen passten nicht zusammen. Vor lauter „action“, lauter Herausforderungen, Möglichkeiten, offenen Türen erlaubte ich es mir nicht, auf mein Herz zu hören, dem Ort, dem die Sehnsüchte entspringen. Nur manchmal traten sie an die Oberfläche, aber dann vermischten sie sich mit Rosamunde-Pilcher-Tränen, und das machte mir unmöglich, auf sie zu hören. Also ging es weiter. Auf zu immer wieder neuen Ufern!
Ich galt als Deko-Queen und Wohnungseinrichtungs-Fan, und deshalb war es für mich selbst und manche Freundin verwunderlich, dass ich so gar nicht an die Umzugskartons ran wollte. Als ich am Sonntagabend vor Beginn des neuen Jobs noch 400 Kilometer von meiner neuen Heimat entfernt in einem See schwamm und so gar nicht losfahren wollte, fragte mich meine Freundin, ob das wohl die richtige Entscheidung gewesen sei.
So wie es begann, ging es weiter. Schnell sah ich alles negativ. Mir wurde alles zu viel. Ich wurde entgegen meinem Naturell sehr motzig, genervt, und die Sunshine-Eigenschaften – meine Ermutigungsstärke, meine Gabe zu motivieren, zu begeistern, die Dinge positiv zu sehen – wichen negativen Stimmungen. Ich erkannte mich selbst nicht mehr wieder. Es nervte mich, wenn jemand mit der Kaffeetasse im Türrahmen stand, und ich musste mir schwer auf die Zunge beißen, um nicht feldwebelmäßig zu fragen: „Hast du nichts zu tun?!“ Es regte mich auf, wie langsam die anderen zum Kopierer gingen, wie viel Zeit sie verbummelten … Je mehr negative Gedanken ich entwickelte, je mehr Dinge mich nervten, je mehr doofe Kommentare ich machte, desto mehr wuchs mein schlechtes Gewissen, übte ich mich in Selbstkritik, ja in Verachtung meiner selbst. Ich schlief mit schlechtem Gewissen ein, enttäuscht von mir selbst. Ich bekam Bauchschmerzen und am Ende eine Magenschleimhautentzündung. Ob bei der Arbeit oder bei ehrenamtlichen Aufgaben, immer häufiger fragte ich mich, was ich hier gerade eigentlich machte, selbst in Situationen, in denen ich eigentlich froh und dankbar sein konnte, weil ich positives Feedback bekam. Ich konnte kaum noch irgendwo Positives sehen und begann, mich ständig mit anderen Menschen zu vergleichen – wobei ich immer schlecht abschnitt. Es gab nur noch wenige Sachen, an denen ich mich freuen konnte. Wenn ich Komplimente bekam oder ein positives Feedback, dann empfand ich selbst das als Druck, nämlich noch besser zu werden oder erklären zu müssen, warum das Lob gar nicht mir gebührte, sondern anderen Leuten, die mir geholfen hatten. Ich war gefangen in einer Negativspirale und verurteilte mich gleichzeitig dafür. Von Woche zu Woche wurde das Leben anstrengender. Dazu kam: Je länger ich im Job war, desto voller wurde mein Terminkalender. Mit der bevorstehenden Weihnachtszeit wuchsen außerdem die ehrenamtlichen und privaten Termine. Das berühmte „Hamster im Rädchen-Gefühl“ überkam mich, und ich sehnte mich immer mehr nach freien Minuten. Sehnsüchtig lebte ich auf die Uhrzeit hin, wo es endlich „erlaubt“ war, ins Bett zu gehen. Doch der Schlaf bot keine Erholung. Meine Gedanken überschlugen sich. Nächte mit ständigem Licht an, Licht aus, Notizen machen, Gedanken aufschreiben, Notizen machen, To Dos notieren, Tees trinken gegen Bauchschmerzen oder zur Beruhigung. Ob Schokolade essen (Nervennahrung!) und Bibellesen gegen das immer heftiger werdende Herzklopfen half? Es half nicht. Ich nahm zu und bekam auch an dieser Stelle noch mehr Druck und ein schlechtes Gewissen. Ich fühlte mich nur noch dick, fett, hässlich, nervig, negativ und begann mir die Frage zu stellen, was Gott denn mit einem so negativen, destruktiven Menschlein wie mir auf dieser Erde überhaupt anfangen sollte. Ich gab Vollgas. Mein neuer, unbewusster Plan: Ich arbeite mich einfach tot. Nachts packte ich Päckchen an Freunde, die Geburtstag hatten, schrieb ein Ermutigungskärtchen nach dem anderen für Menschen, denen es nicht gut ging und die Ermutigung brauchten. In freien Minuten nahm ich Freundinnen ihre Kinder ab, kämpfte dann während des Kinderbespaßungsprogramms gegen Tränen und Selbstmitleid an, weil ich doch selbst so gern Kinder gehabt hätte und, statt die eigenen zu versorgen, nun neben meinem vollen Terminkalender auch noch die Kinder meiner Freundinnen bespaßte. Egal, weitermachen. Volle Kraft voraus. Woche für Woche, Tag für Tag.
Dann fuhr ich eines Tages zum Geburtstag einer Freundin. Lange hatte ich Geburtstagsfeiern und Gottesdienste gemieden, um nicht mit dem Glück anderer konfrontiert zu werden. Bloß nicht sehen, dass andere schöner, dünner, begabter, erfolgreicher sind, außerdem verheiratet und mit Baby. Und dann sah ich prompt all die schönen, glücklichen, begabten jungen Frauen, die attraktiven Paare … Als ich nachts zurückfuhr, heulte ich wie ein Schlosshund und tat mir selber leid. Der ganze Schmerz, die ganze Erschöpfung brachen aus mir heraus – vielleicht auch das ganze Selbstmitleid. Ich fuhr schneller und schneller, die Tränen flossen, in einer Kurve drückte ich richtig aufs Gas. Kurze Zeit danach stand ich tränenüberströmt, schluchzend, erschöpft und mit Herzklopfen auf einem Parkplatz irgendwo in der Walachei. Es war zu viel, was ich unter dem Deckel halten wollte. War ich tatsächlich so schnell gefahren, um meinem Leben ein Ende zu setzen? Zum Glück hatte ich Angst vor meiner eigenen Courage bekommen. Und doch wollte ich raus und weg von allem. Dem Hamsterrädchen ein Ende setzen. Schluss, aus, vorbei. Es war dunkel, mein Handy hatte keinen Empfang, und ich wusste, dass ich am nächsten Tag 200 Kilometer entfernt sein sollte, für ein ganzes Wochenende. Aber nicht zur Entspannung, nicht in einem Wellness-Hotel, nicht so, wie ich es eigentlich gebraucht hätte. Ich sollte das Wochenende zusammen mit einer Freundin als Leiterin einer Frauengruppe verbringen. Über achtzig Frauen wollten wir etwas Gutes tun – zumeist kirchendistanzierten Frauen, die Gott nicht kannten und denen wir ein großer Segen sein wollten. Wieder geben, geben, obwohl nichts mehr da war, was ich hätte geben können. Dasselbe Programm hatte ich kurz zuvor schon einmal durchgeführt, und eigentlich hätten das durchweg positive Feedback und die euphorischen Glücksgefühle beim Abschluss meinen „Tank“ füllen und mir unendlich viel Motivation für das kommende Wochenende geben sollen. Stattdessen sagte ich nun, im Auto sitzend, zum ersten Mal aus tiefem Herzen in die Nacht hinein einen Satz, der mich selbst erschrecken ließ: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr leben, ich will in den Himmel.“ Da saß ich nun, die strahlende Motivationsbombe. Jämmerlich klein und hoffnungslos. Vielleicht war es gut, dass ich keinen Handyempfang hatte und dass es ohnehin zu spät war, um jemanden anzurufen. Jeder hätte mir geraten, das Wochenende abzusagen. Doch ich zog es durch.
Am nächsten Tag duschte ich, ging zur Arbeit, fuhr nach der Arbeit nach Hause, packte meine Sachen, lud die Kisten mit Deko, Kerzen und anderen Materialien ins Auto, fuhr zum Blumenladen und holte die vielen vorbestellen wilden Rosen ab, von denen jede Frau eine an ihr Bett gestellt bekommen sollte, um auch beim Schlafengehen kostbare Momente zu erleben. Dann trat ich die Reise ins weit entfernte Städtchen an. (Dass ein vernünftiger Mensch wohl keine Stunde Umweg in Kauf genommen hätte, um genau diese Rosen zu bekommen statt einfacher Supermarkt-Rosen, sei an dieser Stelle nur kurz angemerkt.) Ich zog das Programm durch. Ich tanzte und flog innerlich durch das Wochenende. Bis tief in die Nacht führte ich seelsorgliche Gespräche, früh um sieben Uhr ermutigte ich die anderen Mitarbeiterinnen, versprühte Begeisterung, Herzlichkeit und Ermutigung für jede, die es brauchte. Am Ende des Wochenendes fuhr ich in der Kurve kurz vor meinem Heimatstädtchen (das mir keine Heimat war) ganz langsam. Wieder weinte ich. Noch im Auto rief ich meine beste Freundin an und erzählte ihr von den vergangenen Tagen. Sie blieb ganz ruhig, fragte mich, ob sie mir etwas vorlesen dürfe, und las mir dann aus dem Internet die Wikipedia-Definition von „Burn-out“ vor. Ich war damals mittendrin in einer Seelsorgeausbildung und dachte eigentlich, dass ich mich mit psychischen Problemen bestens auskennen würde. Doch das, was meine Freundin mir da vorlas, hörte sich an wie etwas, von dem ich noch nie gehört hatte. Weil ich es zum ersten Mal auf mich bezog. Ich hörte nicht mehr mit den Ohren für andere. Begriffe wie „innere Leere“, „keine Kraft, keine Begeisterung“, „alles negativ sehen, schlecht machen“, „schlafen und trotzdem müde sein“, „Hamster im
Rad“, „körperliche Anzeichen wie Magenprobleme, Herzrasen, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, Schlafstörungen, kribbelnde Finger“ – das waren doch alles meine Worte und Empfindungen. Ich weinte und weinte und weinte und saß jämmerlich zusammengekauert im kalten Auto vor meiner Haustür in einer neuen Stadt, in der ich niemanden richtig gut kannte … Ich versprach meiner Freundin, gleich am nächsten Tag zum Arzt zu gehen.
Ich glaube, ich saß drei Stunden im Wartezimmer. Ich hatte noch nicht mal mehr die Kraft, negativ zu sein. Die vielen alten Leute im Wartezimmer nervten mich nicht, sie waren mir egal. Mir war alles egal. Egal, wie lange ich warte, egal, was aus mir wird, egal, was in diesem Leben noch kommt. Ich ging ins Behandlungszimmer, der Arzt kam, und ich brach in Tränen aus. Ich hatte das Gefühl, auf diesem Stuhl in der Praxis bricht ein Kartenhaus zusammen, und es wird sehr viel Liebe und Zeit brauchen, um es Stück für Stück wieder aufzubauen. Die Frau des Arztes war Psychotherapeutin; er rief sie sofort an und fragte sie, ob ich gleich kommen könne. Ich, die ich anderen Seelsorge gebe, sollte zu einer „weltlichen“ Psychotherapeutin! Aber auch das war mir jetzt egal. Ich wusste von Freunden, dass die Psychotanten, wie ich sie nannte, die auf Kasse arbeiten, überall eine Wartezeit von bis zu sechs Monaten haben. Also tat ich, was der Arzt empfahl. Beim Hinausgehen sagt er noch, dass er sich Sorgen um mich mache und dass er mich nun jeden Abend anrufen werde. Ich dachte nur: „Meister, ich bin es gewohnt, Dinge durchzuziehen, und wenn du mich in den vergangenen drei Tagen mit achtzig Frauen erlebt hättest, wüsstest du, wie gut ich den Schalter umlegen kann. The show must go on, so ist mein Leben.“
Doch schon sein erster Anruf am Abend tat gut. Ein fremder Arzt in einer fremden Stadt, der nur wissen wollte, ob ich noch lebe. Das war schön und seltsam zugleich. Schön daran war, dass es um mich ging. Und schön war auch, dass er mich und meine Situation ernst nahm. Ein guter Freund hatte ganz anders reagiert: „Jetzt schläfst du mal ordentlich, isst was Gutes, kaufst dir Obst, und dann sieht morgen die Welt wieder ganz anders aus. Immerhin hast du einen neuen Job, da kann man sich nicht so gehen lassen. Reiß dich zusammen!“ Der Freund aus Kinderzeiten, der Unternehmer, der ohne „Durchziehen“ sicher nicht so erfolgreich geworden wäre, wie er heute ist, war restlos überfordert. Dass die starke, immer fröhliche Freundin aus frühen Jahren nach so vielen Jahren schlapp macht? Unvorstellbar.
Bei anderen Menschen ging es mir oft nicht anders. Es ist einfacher, einen Arm in Gips zu haben, als innerlich krank zu sein. „Du siehst aus wie immer, so schlimm kann es ja nicht sein“, hörte ich, als ich begann, mit der Situation offen umzugehen. Ich schrieb meinen Freunden eine E-Mail mit der Bitte, nichts von mir zu erwarten. Ich könne gerade nicht mehr. Es wäre alles zu viel. Ich fuhr zu einer Freundin nach Stuttgart, die sich fortan um meine Banksachen, den Kontakt zu meinen Eltern und um manche Ehrenämter kümmerte. Heute sagt sie noch oft, dass sie mich damals nicht wiedererkannt hat. Wir besuchten den Weihnachtsmarkt, aber ich wollte nur Reißaus nehmen. Ich konnte nichts genießen, ich wollte Ruhe. Die Freundin kämpfte mit mir und der Psychotherapeutin dafür, noch vor Weihnachten einen Klinikplatz für mich zu bekommen. Doch es war nichts zu machen. Alle Kliniken, die ich in Erwägung zog, waren voll. Weihnachten: eine Zeit, in der das dunkle Innere bei vielen nach außen kommt? Von einem Tag auf den anderen entschied ich: So geht es nicht mehr weiter, ich gehe in eine Akutklinik. Da kann man einfach hinfahren, wusste ich. Sie muss nur in der Region sein. Mir war egal, ob sie einen guten oder einen schlechten Ruf hatte. Ich wollte nur noch weg, nicht mehr konfrontiert sein mit dem Glück anderer Menschen, sehen, wie sie mit dem Leben zurechtkommen. In der Nacht vor der Fahrt in die Klinik schrieb ich Karten über Karten, packte Kekse in Tütchen, schrieb ermunternde Worte, suchte christliche Blättchen zusammen und verteilte alles in den Briefkästen meiner Nachbarschaft. Statt zu schlafen, statt mich innerlich auf die Klinikzeit vorzubereiten, nutze ich die letzten Minuten, um „für Gott noch ein wenig sinnvoll zu sein in meiner neuen Stadt“. So sah ich das. Heute sage ich mir: Ich war echt schräg drauf.
Einen gefühlt hundert Meter langen Gang musste ich gehen, bis ich an die große Tür kam, an der man klingelte, um von einer Krankenschwester eingelassen zu werden. Tränenüberströmt und völlig erschöpft saß ich dann auf dem Gang vor dem Zimmer des Arztes, in dem das Aufnahmegespräch stattfinden sollte. Im Gepäck meinen Laptop, viele Unterlagen zum Durcharbeiten, haufenweise Bücher und Kärtchen für andere Patienten. Je mehr seltsame Leute an mir vorbeigingen, desto mehr fiel ich in Selbstmitleid. Gesichter voller Tränen, Arme mit Narben vom Ritzen, gesenkte Köpfe, hängende Schultern. Wie diese Menschen um mich herum aussahen, so fühlte ich mich. Endlich angekommen an einem Ort, an dem ich nicht mehr lachen, strahlen und funktionieren musste. Dann die Untersuchung. Erst wurden alle körperlichen Sachen abgeklopft und untersucht. Dann das Aufnahmegespräch. Familienstand: ledig. Der Arzt, Anfang vierzig, sehr attraktiv, fragte nach: „Nicht verheiratet, aber liiert?“ – „Nein, nicht liiert, Single. Und das schon seit dreißig Jahren.“ Ich weinte und weinte. Ich war eine alte Jungfer! Nicht mehr als ein Häufchen Elend.
Wir führten unser Gespräch und ich erntete Tipps. Ich solle mir mal die vielen tollen Patienten näher anschauen. Hier wäre doch die Gelegenheit zum Ausprobieren. Da seien auch Manager-Typen dabei – mit Burn-out, tolle Männer! Da würde ich bestimmt wieder aufblühen.
Ich wollte nicht diskutieren und hörte mir verschrocken alles an, frei nach dem Motto: „Prüfet alles, bewahret das Gute“. Dabei wollte ich jetzt gar nichts entscheiden, gar nichts tun, einfach nur sein. Nach wenigen Tagen stellte sich jedoch heraus, dass ich zwar gerade meinen Job und meine Ehrenämter nicht mehr ausführte, aber mein Helfersyndrom, der unbedingte Wille, für andere zu leben, flammte in diesem Umfeld erst richtig auf. Ich nutzte die evangelistische Chance und lud in mein Einzelzimmer ein, um Weihnachtslieder zu singen und die Weihnachtsgeschichte zu lesen. Ich führte viele, viele Gespräche. Über die Nachtschwester, mein Amazon-Konto und mein Online-Banking besorgte ich für meine Mit-Leidensgenossen ein Buch nach dem anderen. Ich war eine der wenigen, die ein Auto vor Ort hatten. Regelmäßig schlichen wir uns davon und machten lustige Ausflüge. Ein Zeuge Jehova wurde mir zum Freund. Er tat mir gut. Er war witzig, wir redeten viel über Gott, und wir gingen fast täglich spazieren. Ich war nicht ruhig zu bekommen – und ich erntete Dank: Täglich bekam ich Post von überall her. Offensiv mit meinem „Zustand“ umzugehen, schien der richtige Weg zu sein. Jede Woche wurden bis zu 50 Karten, Briefe und Päckchen in mein Einzelzimmer gebracht. Einmal rief mich die Dame aus dem Verwaltungsgebäude zu sich und fragte: „Wer sind Sie? Was sind Sie für ein Mensch? So viel Post! Eine Karte schöner als die andere. Von überall her. Künstlerische Schriften, wunderschöne Päckchen.“ Ich erzählte ihr von unserem christlichen Netzwerk, aber schon während ich von all den Kontakten und Freunden erzählte, merkte ich, dass vielleicht nicht alles, was sich um mein Leben gruppiert hatte, gut für mich war.
Die Ärzte zogen derweil ihre eigenen Schlüsse: Wenn ich nicht ruhig zu bekommen sei, müsse ich eben ruhiggestellt werden. Ich bekam Schlaftabletten und schlief tatsächlich eine Woche durch. Weihnachten bei einer Freundin war schön und harmonisch, aber ich merkte wieder, wie das Glück der anderen mich quälte. Silvester wollte ich deshalb lieber in der Klinik bleiben. Man erzählte mir, dass wirklich nur die Härtefälle dableiben würden, und fragte mich diverse Male, ob ich mir wirklich sicher sei … Ich blieb. Es gab Raclette. Niemand sprach ein Wort, alle Köpfe waren gesenkt. Ich versprach den Schwestern, mit darauf zu achten, dass mit den Raclette-Geräten nichts passierte. Ich war in der Tat die Fitteste. Ich räumte die Spülmaschine ein, legte mich dann schlafen und beschloss, im neuen Jahr keine Medikamente mehr zu nehmen.
Das nächste erwähnenswerte Ereignis war der Besuch eines attraktiven Arztes um die Vierzig, von dem ich inzwischen wusste, dass er fünf Kinder hatte. Er kam nach dem Spätdienst in mein Zimmer und gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass auch er bereit wäre, mir die noch fehlenden Erfahrungen zu vermitteln, da sich ja offensichtlich bisher kein Patient gefunden habe … Irgendwie ging er dann auch wieder. Ich weiß davon nicht mehr viel. Ich weiß nur, dass ich den Arzt wechselte, dass ich beschloss, genug geruht zu haben, und dass ich mich auf meine Abreise vorbereitete. Am besten taten mir das morgendliche Joggen mit meinem Zeugen-Jehova-Freund und die Spaziergänge mit ihm. Bewegung, gute Luft, Natur. Ich beschloss, zu Hause mit dem Joggen anzufangen. Auch andere Ziele setzte ich mir: eine seelsorgliche Begleitung, mehr Zeit für Hobbys, mehr Zeit fürs Nichtstun und In-der-Sonne-Liegen, dazu Fernsehen auch tagsüber, kreativ kochen, niemanden mehr anrufen müssen.
Für manchen sind Ruhe, Klinik, Medikamente und Therapie bestimmt genau das Richtige. Ich kam an den Punkt, wo ich merkte: Das ist nicht mein Weg. Aus der Klinik entließ ich mich deshalb selbst. Die Medikamente schmiss ich weg. Die Therapie fühlte sich an, als wenn ich übertherapiert wäre. Zu viel Reflexion, zu viel In-der-Kindheit-Wühlen, das machte mich lebensunfähig. Was mir gut tat, war, mein Leben zu entschleunigen. Im Jetzt zu leben. Einfach zu sein. Und mir zuzugestehen, dass das Umgewöhnen lange dauern darf, denn die alten Gewohnheiten und alles Krankhafte durften ja auch über Jahre wachsen. Ich genoss es, als zwei gute Freunde mehr als hundert Kilometer anreisten, um dann mit drei Töpfen auf der Matte zu stehen und mir den ersten Abend zu Hause richtig schön zu machen. Ich badete in Kärtchen und Zettelchen, die meine Freunde und Arbeitskollegen in meiner Wohnung verteilt hatten, obwohl ich doch erst drei Monate an der neuen Stelle gearbeitet hatte. Ich empfand es als großes Geschenk, dass eine befreundete Familie mir ihre Türen öffnete – zu ihrem Haus, zu ihrem Kühlschrank und zu ihren Herzen – und ich fortan bei ihnen jederzeit ein- und ausgehen konnte. Ich war krankgeschrieben und genoss es, bei dieser Familie einfach mitleben zu dürfen. Ich aß dort, hängte ab, kaufte ein, brachte manchmal die Kids in den Kindergarten; wir tranken stundenlang Kaffee, gingen spazieren, beteten, lachten, hofften, rangen … Und ich meldete mich zu einem Marathon-Training an. Es wurde mir zum absoluten Segen! Unsere Gruppe joggte monatelang bis zu fünf Mal in der Woche. Ich hatte morgens einen Grund aufzustehen, und abends ging ich ins Bett mit dem Gefühl, etwas getan zu haben. Die Natur, die Jahreszeiten, die Leute, Wind und Wetter wurden mir zum Segen. Ich weiß: für andere passt das gar nicht. Für die wäre das der pure Stress. Für mich ist es ein Weg – ein Weg aus meinen eingefahrenen Mustern, die mich krank gemacht haben.