Andrea Juhler, geboren 1963, ist ausgebildete Erzieherin und lebt als Familienfrau in Wartenberg/Pfalz.
Warum bin ich so traurig? Warum ist mein Herz so schwer? Auf Gott will ich hoffen, denn ich weiß: Ich werde ihm wieder danken. Er ist mein Gott, er wird mir beistehen. Psalm 42,6
„Mama! Das Auto! Bremsen!“
Meine Knie zitterten noch immer. In letzter Sekunde hatte ich das Auto noch nach links ziehen können. Nun hielten wir am Fahrbahnrand, und mir war zum Erbrechen übel.
„Mensch, Mama, hast du nicht gesehen, dass der angehalten hat?“
Nein, ich hatte nichts bemerkt. Ich war mit meinen Töchtern zu einem Termin in der Stadt gewesen, und nun waren wir auf der Heimfahrt. Der Wagen war in einiger Entfernung vor mir hergefahren, ich in Gedanken versunken hinter ihm her – dass er plötzlich stehenblieb, hatte ich nicht bemerkt. Erst das panische Schreien meiner Töchter hatte mich aus meinen Gedanken gerissen. Was hätte passieren können, wenn ich alleine unterwegs gewesen wäre? Nicht auszudenken auch, was geschehen wäre, wenn ich mit den Kindern im Auto und mit dieser Geschwindigkeit ungebremst auf den Wagen geprallt wäre!
Ich kann mich eigentlich nur an die Müdigkeit erinnern, die in dieser Zeit mein ständiger Begleiter war. Viele Abläufe im Laufe des Tages geschahen mechanisch, ohne großen Antrieb, routiniert, weil ich sie über Jahre hinweg eingeübt hatte. Doch zunehmend fehlte mir auch für die eingespielten Abläufe die Kraft. Manchmal saß ich schon am frühen Morgen im Wohnzimmer im Sessel und heulte. Wie sollte ich den Tag bestehen? Mir ging nur eine Bitte durch den Kopf: „Oh Herr, lass Abend werden! Ich kann schon jetzt nicht mehr.“
Wann diese Erschöpfung mich ergriffen hatte, weiß ich nicht mehr. Sicher war es die Länge, die die Last trug. Über zehn Jahre waren nun schon von unterschiedlichen Belastungen geprägt. Der Beruf meines Mannes brachte es mit sich, dass wir immer wieder umzogen. Nach dem schweren Verkehrsunfall meines Schwagers und seiner Familie entschieden wir uns, in die Nähe meiner alten Schwiegereltern zu ziehen. Mein Schwager verstarb Monate später an den Folgen des Unfalls. Anfangs fuhren wir jede zweite Woche am freien Tag meines Mannes zu den alten Eltern, um ihnen in Haus und Garten zu helfen. Die Aufgabe wurde schwieriger und größer, als mein Schwiegervater an Alzheimer litt und zunehmend pflegebedürftig wurde. Nur für unsere vier Töchter war es immer ein Highlight, bei den Großeltern zu sein: Der große Garten und wunderbare Plätze zum Spielen boten Abwechslung zu ihrem Alltag in der Stadt. Mein Mann und ich spürten aber bald, dass uns der freie Tag in der Woche fehlte. Aber wir waren jung. Und waren wir nicht 500 Kilometer umgezogen, um in der Nähe der Eltern zu sein? Ja, hier war unsere Aufgabe, und wir würden das schon schaffen.
Eines Tages rief eine Krankenschwester von der Sozialstation an und teilte uns mit, dass es mit den beiden Alten so nicht weitergehen könne. Die Schwiegermutter sei am Ende ihrer Kraft, und selbst mit Unterstützung ihrer Schwester, einer pensionierten Diakonisse, sei die Pflege und Versorgung nicht mehr gewährleistet.
Nach einigen Überlegungen beschlossen wir, die beiden zu uns zu holen. Zu diesem Zeitpunkt war unsere jüngste Tochter drei Jahre alt, und ich erinnere mich daran, dass ich den Schwiegervater fütterte und ihm dabei Bilderbücher von den Kindern zeigte, weil er dann leichter aß. Gott war gnädig, und zehn Tage nach dem Einzug starb er an den Folgen eines Lungenemphysems im Alter von 88 Jahren.
Im darauffolgenden Winter erkrankte meine Schwiegermutter an einer Grippe, von der sie sich nur schwer erholte. Erst die Freude, ihren 80. Geburtstag feiern zu dürfen, gab ihr wieder neuen Lebensmut. Vom Tag ihres Geburtstages an hatte ich allerdings den Eindruck, dass sie beschlossen hatte, alt und hilfsbedürftig zu sein. Immer wieder erzählte sie, dass sie selbst ihre beiden Schwiegermütter zehn Jahre gepflegt habe – und nun sei ich ja da. Vielleicht wollte sie mir gar nicht sagen, dass ich alles genauso machen müsse wie sie. Aber der Druck, den ich empfand, war groß, und meine Schwägerin, die mich hätte entlasten können, hatte wieder geheiratet und war ins Ausland gezogen.
Zunächst machte die Dankbarkeit, die meine Schwiegermutter uns gegenüber zeigte, die Aufgabe leicht. Wenn wir in den Urlaub fahren wollten, kam ihre Schwester und kümmerte sich um sie, und auch einen freien Tag mit den Kindern gab es nun wieder regelmäßig. Ältere Gemeindemitglieder nahmen Anteil am Ergehen unserer Oma, und in der Gesellschaft von Gleichaltrigen blühte sie auf. Sie musste sich um nichts mehr kümmern und konnte ihren Lebensabend genießen.
Dennoch bemerkte ich in dieser Zeit zum ersten Mal, dass ich mit Schlafproblemen zu kämpfen hatte. Wir planten eine Gemeindefamilienfreizeit, und ich sollte die Kinderstunden leiten. Bis dahin war es für mich ein Ausgleich zum Familienalltag gewesen, mich ehrenamtlich in unserer Gemeinde zu engagieren, aber nun merkte ich, wie mich die Vorbereitungen für die vierzehntägige Freizeit stressten. Ich versuchte mit Hilfe verschiedener „Mittelchen“ zur Ruhe zu kommen und wieder in einen Schlafrhythmus zu finden, aber es half nichts. Zusätzlich bekam ich einen juckenden Hautausschlag. „Sie haben einfach zu viel um die Ohren“, war alles, was mir der Arzt dazu sagen konnte.
Seltsamerweise schlief ich am ersten Abend im Freizeitheim wie ein Baby, tief und fest. Der Schalter war umgelegt, die Vorbereitungen waren abgeschlossen, und ich konnte schlafen. Der Ausschlag verschwand.
Doch dann stand der nächste Umzug an. Trotz ihrer zunehmenden Gebrechlichkeit stimmte meine Schwiegermutter einer erneuten Versetzung meines Mannes zu. Dieses Mal ging es knapp tausend Kilometer Richtung Süden. Die gesamte Familie freute sich auf die Veränderungen. Aber so einfach wie erhofft wurde es für uns alle nicht. Unsere Jüngste fand sich im neuen Kindergarten nicht zurecht und weigerte sich ein halbes Jahr lang, ihn zu besuchen. Die Älteste litt unter den neuen Klassenkameraden und zog sich immer mehr zurück. Eine andere Tochter trauerte um die verlorene Freundin, mit der sie bisher alles geteilt hatte, und reagierte mit Schlafstörungen. Außerdem machte uns allen das Klima in dieser Region zu schaffen. Wir waren so oft krank wie nie zuvor, und meine Schwiegermutter erlitt einen Herzinfarkt, von dem sie sich nie mehr richtig erholte. Da mein Mann beruflich sehr gefordert war, lag die Hauptlast der Familienarbeit bei mir. Die Pflege der Schwiegermutter nahm einen immer größeren Raum im Tagesablauf ein. Die Freude auf das Neue wandelte sich in Enttäuschung und Entmutigung.
Wir waren gerade ein Jahr am neuen Ort, da erhielt mein Mann eine Berufung in eine Leitungsaufgabe, der ich schweren Herzens zustimmte. Die beiden älteren Mädchen verknüpften mit einem erneuten Umzug die Hoffnung, dass sich ihre Situation verbessern würde, und so zogen wir wieder los. Sieben Personen, von der Stadt aufs Land, in eine völlig veränderte Lebenssituation. Rückblickend würde ich heute, mehr als sieben Jahre später, sagen, dass sich die Spirale von diesem Punkt an abwärts bewegte. Bis dahin hatte ich immer das Gefühl, dass es vielen anderen Menschen in meiner Umgebung nicht anders erging als mir, dass meine Situation nicht dramatisch war, sondern dass hohe Anforderungen in Familie und Beruf einfach zu dieser Lebensphase gehörten. Mein „Berufsfeld“ war die Familie, und ich wollte meine Arbeit gut machen. Heute frage ich mich, wem ich eigentlich etwas beweisen wollte. Hatte ich vielleicht das Gefühl, um meine „Daseinsberechtigung“ als Hausfrau, Mutter und Altenpflegerin kämpfen zu müssen?
Und doch machte ich gerade in dieser Zeit viele tiefgreifende geistliche Erfahrungen. Sie gaben mir immer wieder Kraft, ein Ja zu meiner Situation zu finden, auch wenn sie mich oft an den Rand der Belastbarkeit brachte. Die Liste meiner Ehrenämter in der Gemeinde und im Dorf wurde immer länger, und sie schafften mir einen Ausgleich zu meinen häuslichen Aktivitäten. Ich erfuhr dadurch Wertschätzung und Anerkennung, die mir im Alltag so oft vorenthalten wurden. Mein Mann unterstütze mich, wo immer es ihm möglich war.
„Wie du das alles schaffst, ich kann dich nur bewundern!“, hörte ich oft von anderen Frauen. Ja, nach außen hin schaffte ich es. Ich war selbstbewusst. Und weil ich mit sechs Geschwistern groß geworden war, war ich einiges gewöhnt. Trotzdem sehnte ich mich nach Unterstützung, und die Rolle der „perfekten Frau“ erschien mir immer zweifelhafter.
Inzwischen musste immer jemand in der Nähe meiner Schwiegermutter sein. Mal verzichteten wir auf gemeinsame Unternehmungen, mal baten wir „Fremde“ aus der Nachbarschaft oder der Gemeinde, nach Oma zu schauen. Dabei fand ich es zunehmend anstrengend, immer andere Leute bitten zu müssen, denen ich jederzeit zugestand, auch wieder abzusagen, weil etwas dazwischen gekommen war oder sie sich mit der Situation überfordert fühlten. Alle anderen durften Gründe haben, sich nicht um Oma kümmern zu müssen. Nur ich nicht. Mein Mann hatte seine dienstlichen Aufgaben zu erledigen, was natürlich vorrangig war. Die Kinder mussten in die Schule und sollten ihre Kindheit und Jugend genießen. Mein Dienst war eben die Oma und die Kinder und das Haus und der Garten und die vielen anderen Menschen, für die ich mich verantwortlich fühlte. Und eigentlich hatte ich ja gar keinen Grund, mich zu beschweren. Oma war doch immer dankbar.
Trotzdem geriet ich im Lauf der Jahre in die Isolation. Ich vermied es möglichst, anderen Menschen zu begegnen. Was sollte ich schon sagen, wenn sie fragten: „Wie geht es Oma?“ Wer wusste schon, wie es sich anfühlt, immer im Dienst zu sein? Keine Zeit der Entspannung mehr zu finden, weil ein alter Mensch das Gefühl für die Tageszeiten verloren hat und die Nacht zum Tage macht? Ich wechselte lieber die Straßenseite, wenn ich Bekannte traf, um nur nicht reden zu müssen. Ich wollte nicht „die Arme“ sein, „die aber auch wirklich viel zu tragen hat“. Außerdem war es für mich leichter, im Hamsterrad weiterzulaufen als auszusteigen. Zum Ausstieg fehlte mir die Kraft.
An offiziellen Anlässen nahm ich nur noch teil, wenn es unbedingt nötig war. Wer war ich denn unter all den Honoratioren? Eine erschöpfte Hausfrau und Altenpflegerin, die nicht mitreden konnte. Wer wollte schon etwas über Altersstarrsinn und pubertierende Mädchen hören?
Einmal saß ich während einer Veranstaltung den ganzen Tag in einem Sandkasten hinter dem Gebäude und schob den Sand mit meinen Füßen und Händen hin und her. Ich wollte nicht gesehen werden und mich nicht unterhalten. Stundenlang kämpfte ich mit den Tränen. Ich wollte noch immer stark sein, es schaffen. War ich es nicht immer gewesen, die kein Verständnis aufbrachte, wenn alte Leute „ins Heim abgeschoben wurden“? Nein, diesen Gedanken ließ ich nicht zu. Und das konnten wir uns doch finanziell auch gar nicht leisten.
Es war wieder einer jener Tage, an dem Oma bereits am frühen Morgen ständig nach mir rief. Sie müsse zur Toilette, sie brauche ein Stück Schokolade, oder sie rief: „Komm schnell, komm schnell, der Herr holt mich!“ Kaum hatte ich sie zur Toilette gebracht, war die Hose schon wieder voll. Noch während des Waschens lief ihr der Stuhlgang zwischen den Beinen herunter, und wieder begann die ganze Prozedur von vorn. Wir hatten bereits eine weitere Mülltonne beantragt, weil wir bis zu 150 Windeleinlagen und Windeln in der Woche verbrauchten.
Meine Schwiegermutter wollte, dass ich den Arzt rufe, sie bekomme keine Luft mehr. Wie oft hatten wir schon den Arzt gerufen! „Ihr Herz ist schwach, und sie kann eben den Darm nicht mehr regulieren. Lagern Sie sie hoch, dann wird es leichter“, sagte er jedes Mal und verschwand.
Diesmal bat ich meinen Mann, den Arzt zu rufen, ich würde die Kinder in der Schule abholen. Ich wollte raus. Dem Arzt nur nicht begegnen müssen, dem Blick ausweichen, der mir deutlich sagte: „Wegen so etwas brauchen Sie mich nicht zu rufen.“
Aber genau, als ich mit den Kindern nach Hause kam, stand der Arzt im Flur vor mir. „Ach, Sie Arme, wie sehen Sie denn aus?“
„Sagen Sie, wäre es nicht möglich, dass meine Frau einmal eine Kur beantragt?“, wandte sich mein Mann an den Arzt. In letzter Zeit hatten wir schon öfter über diese Möglichkeit nachgedacht.
„Wie lange waren Sie denn berufstätig?“ – „Hmm, ich fürchte, da ist nichts zu machen.“
Ich hatte das Gefühl, dieser Mann reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Es ist nichts wert, was du tust. Du bist nichts wert! Dein Ideal vom Einsatz für die Gesellschaft bringt nichts ein. Du bist selbst schuld, wenn du deine Kinder erziehst, ihnen ein intaktes Elternhaus und alle mögliche Förderung zukommen lässt. Du bist selbst schuld, wenn du deine Schwiegermutter versorgst und dich ehrenamtlich engagierst! Wie hatte ich kurz zuvor noch gelesen? „Hausfrauendasein ist ein parasitäres Verhalten.“ Soeben war es mir bestätigt worden. Du lebst von den anderen, auf Kosten der anderen. Wie sollte ich seine Aussage sonst deuten? Meine Arbeitskraft zu erhalten, war nicht wichtig.
Mir rauschte es in den Ohren. In diesem Moment merkte ich, dass mein Wille mir nicht mehr gehorchte. Erst konnte ich nicht mehr, jetzt wollte ich nicht mehr.
In der Folgezeit holte uns meine Schwiegermutter nun auch nachts häufig aus dem Bett. Ich versuchte, ihr Rufen zu ignorieren. Sie konnte ja den ganzen Tag Schlaf nachholen, aber ich musste am Morgen aufstehen, die Kinder zur Schule schicken … Doch sie klopfte mit dem Stock so lange auf den Fußboden, bis ich aufstand. „Kannst du nicht mal gehen?“, fragte ich meinen Mann. „Ich bin jetzt nur noch wütend. Ich will einfach nicht mehr.“ Und er ging. Aber ich konnte trotzdem keine Ruhe mehr finden.
„Ich hasse Oma, wenn sie nachts klopft und ruft!“ Der Satz unserer Tochter traf mich. War es schon so weit, dass sie es als ihre Aufgabe ansah, mich zu schützen? Sollte ich nicht eigentlich für meine Tochter da sein, jetzt, wo der erste Liebeskummer ihr das Herz zerriss, es in der Schule nicht rund lief, das Abitur in Gefahr geriet? Stattdessen machte sie sich Sorgen um mich, wollte mich vor der alten, kranken Frau schützen.
In dieser Zeit las ich in der Bibel immer wieder die Geschichte von der verkrümmten Frau. Sie steht in Lukas 13, Vers 10-13. Drei kurze Verse, die meine Situation beschrieben:
Am Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge. Eine Frau hörte ihm zu, die ein böser Geist krank gemacht hatte: Seit achtzehn Jahren saß sie gebeugt da und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich: „Frau, du sollst von deinem Leiden erlöst sein!“ Er legte seine Hände auf sie. Da richtete sie sich auf und dankte Gott von ganzem Herzen.
Der Rücken dieser Frau war gebeugt. Was hatte sie sich wohl im Laufe ihres Lebens alles aufgeladen, wofür hatte sie sich verantwortlich erklärt, worüber war sie krumm geworden? Mir fiel auf, dass die Frauen der Bibel oft an Rückenproblemen leiden. Wenn Krankheiten von Männern beschrieben werden, handelt es sich oft um Blindheit oder Taubheit. Vielleicht ein Bild? Und erging es mir nicht ähnlich wie dieser Frau? War mein Rücken nicht auch gebeugt unter der Last der Aufgaben? Sah ich nicht wie sie nur noch das, was andere im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen treten? Hatte man sich nicht an ihren und auch an meinen Zustand gewöhnt?
Und Jesus sah sie! Dieser Vers war wie Balsam für mich. Einer sieht mich, einer nimmt mich wahr. Einer gibt mir Wertschätzung und Anerkennung. Er sieht meine Müdigkeit, meine Erschöpfung. Er sieht meine Wertlosigkeit, meine Enttäuschung. Er sieht meine Verkrümmung. Nach nichts sehnte ich mich mehr, als dass mich einer ansah und aufrichtete.
Eines Tages haderte ich während der Hausarbeit mal wieder mit Gott. Wochenlang hatte ich ihn gebeten, mir doch jemanden zu schicken, der mich einmal bei der Hausarbeit entlasten würde. Vielleicht einmal die vielen Fenster putzte, die seit Monaten nicht geputzt worden waren und die in meinen Augen von Tag zu Tag sichtbar schmutziger wurden, sodass wir bald nicht mehr hindurchsehen würden … (Auch das war eine Auswirkung der Erschöpfung: Belanglosigkeiten wurden übermäßig groß.) Ich sagte Gott, dass ich nicht verstehen könne, weshalb er mir und uns das alles zumutete. Warum sah denn niemand meine Not? In diesem Moment war es mir, als wenn sich eine Hand auf meine Schulter legte und jemand zu mir sagte: „Mein liebes Kind, überlass mir doch die Dinge, für die ich mich verantwortlich erklärt habe, und tu du, was in deinen Aufgabenbereich fällt. Vertraue mir, dass ich zur rechten Zeit handle.“ Ich spürte eine Hand und ich hörte eine Stimme.
In diesem Augenblick wurde mir bewusst: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Es war so etwas wie eine vorsichtige Wende, ein zarter Aufbruch. Dass es noch tiefer gehen würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
Immer öfter bemerkte ich, dass es bei mir zu Aussetzern kam. Termine zu vergessen war noch eines der geringsten Probleme. Mir fehlten die Worte. Ich stand vor Gegenständen, und mir fiel der Begriff dafür nicht ein. Ich fuhr mit dem Auto und nahm den Verkehr nicht wahr. Ich hatte den Eindruck, neben mir zu stehen und mich wie in einem Film zu beobachten, ohne handeln zu können.
Es kam die Zeit, wo ich schon am Morgen so erschöpft war, dass ich im Sessel in einer Ecke saß und mich nicht in der Lage sah, meiner Arbeit nachzukommen. Warum erhörte Gott nicht die Gebete meiner Schwiegermutter, sie doch endlich heimzuholen? Ich selbst hatte aufgehört, ihm deshalb in den Ohren zu liegen. Ich hatte nicht das Recht, ihn darum zu bitten. Bibellesen konnte ich schon lange nicht mehr. Aber täglich las ich ein Gebet von Sabine Nägeli; es war überschrieben mit „Dankbarkeit“. Im letzten Absatz konnte ich mich wiederfinden:
Ich muss das Dunkel nicht hell sprechen,
um mich zu freuen,
es ist da, aber es bannt mir nicht mehr den Blick.
Ich danke dir für das Schöne in meinem Leben
und erfahre, dass Dankbarkeit befreit.
Sanft werde ich losgelöst von dem,
was mich reich gemacht hat und erfüllt.
Ich weiß nicht, ob ich es je wieder so erleben darf,
aber mein dankbares Herz will nichts an sich reißen,
sich nicht in Erwartungen verirren,
sondern wach sein für neuen,
vielleicht ganz anderen Reichtum.
Noch vermag ich dir nicht zu danken
für das Leidvolle in meinem Leben,
denn ich bin noch sehr arm an Vertrauen,
aber manchmal ahne ich, dass der Tag kommen wird,
da ich dir für alles danken werde, was mir widerfuhr.14
Eines Morgen saß ich wieder im Sessel, traurig, mutlos. Bald würde es wieder Weihnachten werden. Fast zehn Jahre lebte die Großmutter nun schon bei uns. Unsere Älteste würde bald heiraten. Und ich? Schon mit Anfang dreißig hatte ich neben vier Kindern zwei alte Leute zu versorgen gehabt. Ich fühlte mich so unendlich alt, müde und ausgelaugt. Ich hatte das Gefühl, um Jahre betrogen worden zu sein.
Und wieder war es das klare Reden Gottes, das mich in meinem Sessel erreichte: „Mein liebes Kind, ich nehme dir nicht alle Entscheidungen im Leben ab. Es ist die Zeit gekommen, eine Entscheidung zu treffen, die du bislang nicht treffen wolltest.“
In diesem Moment wusste ich, dass ich Gott die Entscheidung zugeschoben hatte. Er hätte unsere Oma heimholen können, aber nun sollte ich die Entscheidung treffen, die ich bislang nicht hatte treffen wollen, die aber auch andere nicht für mich getroffen hatten. Ich stand endlich auf, ging zu meinem Mann ins Arbeitszimmer und sagte: „Entweder deine Mutter geht, oder ich gehe. So kann es nicht weitergehen!“
Die Entschlossenheit in meiner Stimme löste etwas in ihm aus, was mir zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl gab, wahrgenommen zu werden. In all den Jahren hatte mein Mann mich unterstützt, wo er konnte, mir abgenommen, was in seiner begrenzten Zeit möglich war, aber die Tragweite meiner Erschöpfung hatte er bis zu diesem Augenblick nicht wahrgenommen. Noch heute sagt er, dass ich so stark gewesen sei. Er hätte immer den Eindruck gehabt, dass ich es schaffen würde. Es war wie mit einem großen Panoramabild. Mit einigem Abstand kann man die Dinge manchmal besser erkennen, als wenn man direkt davor steht. So erging es auch dem Menschen, der mir am meisten vertraut war: Ausgerechnet mein Mann hatte das Ausmaß meiner Erschöpfung nicht erkannt!
Ich ging zurück, setzte mich in meinen Sessel und konnte zum ersten Mal seit langer Zeit weinen. Alle Anspannung entlud sich. Nun war ich nicht mehr alleine für mich verantwortlich. Währenddessen griff mein Mann ohne zu zögern zum Telefonhörer und rief in einem Pflegeheim an. Es war in einem Ort, an dem wir vor Jahren gewohnt hatten. Mein Mann hatte dort oft Andachten gehalten und war mit den Diakonissen, die es führten, sehr verbunden. Er schilderte der leitenden Schwester unsere Situation, die Zusage kam prompt.
Warum mein Mann dem Impuls folgte und in jenem Altenheim anrief, obwohl es doch 300 Kilometer entfernt lag, konnte er nicht sagen. Es war so, und wir waren uns sicher, dass es richtig war. Wäre meine Schwiegermutter in der Nähe geblieben, hätte ich mich wahrscheinlich verpflichtet gefühlt, sie jeden Tag, zumindest aber jeden zweiten Tag zu besuchen.
Es war nicht leicht ihr zu sagen, dass ich eine Auszeit bräuchte und sie erst einmal ins Pflegheim gehen müsse. Wir hatten es so mit der Schwester vereinbart. Sollte es mir wieder besser gehen, dann könne Oma jederzeit wieder nach Hause kommen.
Weihnachten verbrachte sie noch bei uns, und kurz danach brachten wir sie ins Heim. Der Tag ihrer Abreise war schrecklich: Ich fühlte mich scheußlich, und meine Schwiegermutter machte es uns schwer.
Von da an fuhr ich anfangs jede Woche die 600 Kilometer an einem Tag hin und zurück, um sie zu besuchen. Manchmal begleitete mich mein Mann. Ich telefonierte täglich mit den Schwestern und sorgte dafür, dass ehemalige Gemeindeglieder Oma besuchten. Und: Es ging ihr gut und sie blühte noch einmal richtig auf. Nach zwei Wochen bat sie uns, doch für immer im Heim bleiben zu dürfen.
Mitte April starb sie. Wir waren gerade auf dem Weg in die Osterferien, als der Anruf kam. Sie war bereits zweimal reanimiert worden. Wir kehrten um und trafen sie noch einmal bei Bewusstsein an. Danach aß und trank sie nicht mehr und starb zehn Tage später.
Oft wurde ich gefragt, ob ich es die paar Monate nicht auch noch geschafft hätte. Nein, ich hätte es nicht mehr geschafft, weil ich nicht wusste, wann der Zeitpunkt kommen würde, an dem Gott sie heimholte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Erschöpfung nie als „Burn-out“ bezeichnet. Ich war ja nur Hausfrau. Burn-out, das hatten die anderen, die Manager, die in verantwortungsvollen Aufgaben, aber sicher keine Hausfrau, wie ich es war. Doch als ich meiner Hausärztin nach dem Tod der Großmutter meine Geschichte erzählte, sprach sie zum ersten Mal dieses Wort aus: „Du bist ausgebrannt. Du hast ein Burn-out. Zu lange schon hast du über deine Kräfte gelebt und die Signale deines Körpers ignoriert.“ Zweimal stellte sie einen Kurantrag, zweimal wurde der Antrag abgelehnt. Ich solle zunächst ambulante Hilfen in Anspruch nehmen, ich sei ja nicht berufstätig. Ich war nicht in der Lage zu kämpfen. Noch immer hatte ich das Gefühl, ich sei es nicht wert, eine Kur zu bekommen.
In dieser Zeit las ich ein Buch von Kerstin Hesslefors Persson: „Am Ende der Kraft beginnt ein neuer Weg. Eine Frau erlebt den Burn-out“. Was sie beschrieb, deckte sich an vielen Stellen mit meiner Erfahrung. „Es gibt so vieles, was uns unter den Nägeln brennt, aber alles schaffen wir nicht. Wenn sich unser Leben dreht wie ein Karussell, wenn die Kräfte versiegen, kann der Wille nichts mehr ausrichten. Am Ende der Kraft beginnt ein neuer Weg.“
Wie sah dieser neue Weg aus?
Zunächst fing ich an, über die Zeit der Pflege zu reden. Jedem, der es hören wollte, und auch denen, die mich nicht danach fragten, erzählte ich es. Ich ging in die Offensive und machte meine Erschöpfung „öffentlich“. Ich lehnte mich dabei weit aus dem Fenster und stieß sowohl auf Dankbarkeit als auch auf Unverständnis, weil das alles zu privat sei. „Darüber spricht man nicht!“
Im eigenen Nachdenken und im Gespräch mit meinem Mann fing ich an, alte Denkmuster aufzuarbeiten. Noch heute sehe ich ein Kalenderbild vor meinem inneren Auge: drei brennende Kerzen und darunter der Spruch: „Wer leuchten will, muss sich verzehren.“ Ja, ich hatte eine Leuchte sein wollen und war verbrannt – wegen der Erwartungen, die ich an mich selbst hatte, und wegen der Erwartungen, die oft unausgesprochen an mich herangetragen wurden.
Als mittleres von sieben Kindern hatte ich oft das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden. Auf der einen Seite wollte ich meinen Eltern keinen Kummer machen und verhielt mich brav; das kam immer gut an. Auf der anderen Seite sehnte ich mich nach Anerkennung, und die bekam ich, indem ich fleißig war und mithalf, wo immer jemand gebraucht wurde. Das wurde honoriert. „Bescheidenheit ist eine Zier“ war der Wahlspruch meines Vaters. Ansprüche hatte man nicht zu haben. Natürlich war mein Vater auch nur ein Kind seiner Zeit und hat im Alter vieles dazugelernt. Aber seine Strenge und Härte hat Spuren in meinem Leben und in dem meiner Geschwister hinterlassen. Noch heute wundern wir uns über die Wirkkraft solcher Sätze. Sätze, die es nicht zulassen, dass man Schwäche zeigt und seine Grenzen akzeptiert.
Heute muss ich niemandem mehr etwas beweisen oder mich gar lieb machen. Ich übe mich darin, mit gutem Gewissen Nein zu sagen, auch wenn ich weiß, dass ein anderer sich dadurch vielleicht zurückgesetzt fühlt.
Es half mir und hilft mir bis heute, mich an der frischen Luft zu bewegen. „Ich gehe mein Hirn lüften“, sage ich oft scherzhaft. Beim Gehen kann ich vieles, was mir im Kopf schwirrt, sortieren. Manches, was mich belastet, bekommt dabei die richtige Gewichtung.
Obwohl unsere vier Töchter erwachsen sind und nicht mehr bei uns wohnen, haben mein Mann und ich gemeinsam entschieden, dass ich nicht berufstätig werde, sondern mich weiter ehrenamtlich engagiere. Das ist nicht immer leicht durchzuhalten, weil die Erwartungen an eine Frau heute doch ganz anders sind als zur Zeit meiner Mutter. Dass ein Leben im Einsatz für andere, auch unentgeltlich, Sinn stiftet, scheint unsere Gesellschaft aus dem Blick verloren zu haben
Früher dachte ich, wenn es den Kindern und dem Mann gut geht, dann geht es auch mir gut. Aber selten blieb noch etwas vom Kuchen übrig, und ich ging leer aus. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich für mich selbst sorgen muss, weil das nicht wirklich ein anderer für mich tun kann. Obwohl es mir noch immer schwer fällt, habe ich angefangen, meine Bedürfnisse klarer zu formulieren.
Geblieben sind ein Tinnitus und hoher Blutdruck. Beides erinnert mich von Zeit zu Zeit daran, meine Bedürfnisse wahrzunehmen und manchmal etwas Tempo aus meinem Engagement zu nehmen. Nach wie vor kämpfe ich auch mit Schlafstörungen. Wenn der Druck zu groß wird, reagiert mein Körper mit Schlafentzug.
Noch immer gibt es Zeiten, in denen die Aufgaben zu viel werden und ich das Gefühl habe, mich in Stücke teilen zu müssen, um dem, was gerade ansteht, gerecht zu werden. Dann spüre ich: Jetzt fällst du in alte Muster zurück. Gib auf dich Acht.
Nun kann ich auch den Beginn des Gebetes von Sabine Nägeli mitsprechen:
Wie viel Dankbarkeit spüre ich in mir!
Wie ein unerwarteter Gast
hat sie Besitz von mir genommen.
Mein Gott, ich preise dich
für die Gabe des dankbaren Herzens.
Oft bin ich so verschlossen
für die Freude an kleinen Dingen,
so blind für die behutsamen Zeichen deiner Zuneigung.
14 Sabine Nägeli, in: Ich spanne die Flügel des Vertrauens aus, Verlag am Eschbach 1994.