Ich wache aus einem traumlosen Schlaf auf der Couch auf, wo Tobias mich nach meinem Zusammenbruch hingetragen hat.
Dort hat er mich an seine Brust gedrückt, und wir haben wortlos dagesessen. Ich kann mich nicht daran erinnern, die Augen geschlossen zu haben und eingeschlafen zu sein, aber nun stelle ich fest, dass er eine Decke über mich gelegt hat und mein Kopf auf einem der Sofakissen ruht. Als ich mich leicht desorientiert aufrichte, höre ich gedämpfte französische Musik aus der Küche.
Ich folge den Klängen und sehe an der Türschwelle, dass Tobias gerade eine Flasche Wein entkorkt.
Ohne in meine Richtung zu schauen, füllt er zwei einfache Gläser und reicht mir eins davon. »Du kommst gerade rechtzeitig für die Show.«
Neugierig nehme ich das Glas und seine Hand, die er mir zeitgleich reicht. Schweigend folge ich ihm zur Hintertür. Die Luft wird sofort kühler, als wir nach draußen treten und uns weiter vom Haus entfernen. Insekten veranstalten einen seltsamen Lärm. Die Sonne geht langsam hinter den Bergen unter und nimmt einen Teil der Wärme mit sich. Das Gras fühlt sich unter meinen nackten Füßen kühl und feucht an.
Er führt mich den kleinen Hügel hinauf und zur Lichtung. »Une table pour deux.« Ein Tisch für zwei. Dann legt er sein Jackett auf die Erde und bedeutet mir mit einer Geste, mich hinzusetzen. Ich trage immer noch meine elegante Tweedhose und die zerknitterte Bluse. Meine High Heels sind längst vergessen.
Tobias hat immer noch seine Anzughose an und das von meinen Tränen befleckte Hemd. Er stellt sein Weinglas ab, zieht Schuhe und Socken aus und stellt seine Füße ins Gras.
So sitzen wir da und genießen den Ausblick.
Als der violette Himmel langsam schwarz wird und der Vollmond hell erstrahlt, beginnen die Leuchtkäfer um uns herum mit ihrem Schauspiel.
Mit dem nächsten Schluck von meinem Wein lasse ich mich auf die Erde zurückfallen. Vollkommen entspannt lehne ich mich an seine Seite und bemühe mich, nicht zu viel in seine Worte von vorhin hineinzuinterpretieren, in den weichen Ausdruck, der in seinen Augen lag, und die Zärtlichkeit seiner Küsse. Doch ich bin emotional zu ausgelaugt, im Moment ist mir alles egal. Er war in einem Augenblick für mich da, in dem ich mich vollkommen allein auf der Welt gefühlt habe; alles, was ich gerade empfinde, ist Dankbarkeit.
Mehrere Minuten vergehen, in denen wir mit unseren Blicken die Lichter von der Erde bis zu den hohen Baumwipfeln verfolgen. Der Nachthimmel wird von funkelnden Sternen erleuchtet, und wir lassen uns in eine andere Welt entführen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas so Atemberaubendes gesehen. Bis ich den Mann ansehe, der neben mir sitzt und mich eingehend beobachtet.
»Dein Ausblick gefällt mir um einiges besser«, flüstert er.
»Was soll das heißen? Wir haben doch beide den gleichen Ausblick?«
»Nein, haben wir nicht. Aber langsam sehe ich ihn wieder.« Er spannt sich an und stößt langsam den Atem aus. »Im Moment erlebst du vieles zum ersten Mal. Und in gewisser Weise … beneide ich dich darum.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Das ist eine gehörige Portion Ehrlichkeit. Wie viel Wein hast du getrunken?«
Sein Mundwinkel hebt sich, doch im nächsten Augenblick ist jeder Anflug von Humor wieder verschwunden, und er wendet den Blick ab.
»D-danke. Für heute.«
»Du musst dich nicht bedanken«, entgegnet er, sobald die Worte meinen Mund verlassen haben. Er hebt sein Kinn, als das Licht um uns herum heller wird. »Schau.« Wie auf Kommando scheint sich die Anzahl der Leuchtkäfer zu verdoppeln, und es fühlt sich vollkommen unwirklich an. Es ist, als wären wir von einem überirdischen Licht umgeben.
»Dieser Ort. Er ist magisch«, sagt er und klingt erstaunt.
Ich schnaube. »Du bist viel zu realistisch und pragmatisch, um an Magie zu glauben.«
»Es ist realistische Magie«, kontert er. »Denn hier können wir Licht einfangen.« Er streckt den Arm nach einem Glühwürmchen aus, das auf seiner halb geschlossenen Hand funkelt. »Keine Entscheidungen, keine Last, keine Schulden, keine Deals, nicht hier und nicht jetzt.«
»Das ist pragmatisch.«
»Ah.« Er öffnet die Hand, und das Glühwürmchen fliegt zwischen uns in die Luft, bevor es sich entfernt. »Und praktisch ist es auch noch. Denn wenn du dir etwas wünschst, dann musst du es dir an diesem Ort nur erträumen, dann kannst du die Hand danach ausstrecken und danach greifen.«
Vielleicht liegt es am Wein und am Ausblick, aber im Moment klingt das nicht allzu weit hergeholt. Ich trinke noch einen Schluck. »Dann ist dir dieser Ort also wichtig?«
Er nickt. »Dieser Ort hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Er kennt jedes meiner Geheimnisse.«
Ich schaue ihn an, doch er richtet seinen Blick weiter auf die schimmernden Baumkronen. Ich schließe kurz die Augen und lasse den Stress des Tages von mir abfallen, auch wenn der Schmerz bleibt. Er wird wahrscheinlich nie vergehen, aber im Moment nehme ich ihn nur als ein erträgliches Pochen wahr.
Als er wieder spricht, klingt seine Stimme rau, durchzogen von der Vergangenheit. »Einer der angsteinflößendsten Momente meines Lebens war, als mir bewusst geworden ist, dass ich nichts wusste, außer den Dingen, die mir irgendjemand beigebracht hat. Ich habe mich noch nie so demütig und verletzlich gefühlt wie zu dem Zeitpunkt, als ich erkannt habe, wie sehr ich auf andere Menschen angewiesen bin.«
»Wann war das?«
»In der Nacht, in der ich die Menschen verloren habe, die mir am meisten beigebracht hatten. In der Nacht, als Delphine gekommen ist, um uns zu sagen, dass unsere Eltern nie wieder zurückkommen würden … Ich bin aufgestanden, bin aus dem Haus gegangen und einfach weitergelaufen. Ich weiß nicht mehr, wie ich hierhergelangt bin, aber ich bin auf dieser Lichtung gelandet, habe zu den Bäumen aufgeschaut und im Himmel nach Antworten gesucht.«
»Hier hat also alles …«
Er wendet sich mir zu. Sein Haar ist zerzaust, und an seinem Kiefer zeichnet sich ein Bartschatten ab. »Für mich hat es hier begonnen.« Er schluckt. »Am Anfang war dieser Ort wie eine Art Kirche, ein Zufluchtsort. Verwildert, überwuchert und unberührt. Die Reinheit hat mich fasziniert. In den folgenden Jahren war es, als würde mich der Ort immer wieder rufen. Zuerst habe ich hier getrauert, weil ich nicht wollte, dass Dom mich so sieht. Irgendwann bin ich hergekommen, um Zukunftspläne zu schmieden und einen klaren Kopf zu bekommen. Nacht für Nacht, wenn Dom geschlafen hat, bin ich die neun Meilen bis hierher gerannt. Manchmal, wenn Delphine nicht bei Bewusstsein war, habe ich ihren Wagen genommen.«
»Deshalb warst du in jener Nacht also hier?« In der Nacht, in der ich in den Wald gelaufen bin und die Namen seiner Brüder gerufen habe. Als er mich geküsst hat und meine ganze Welt auf den Kopf gestellt hat.
Er schüttelt den Kopf. »Das hier war mein Ort. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Schicksal gibt, aber als ich den Ort entdeckt habe, wusste ich es. Ich wusste einfach, dass er für mich bestimmt war.« Er rupft einen Grashalm neben mir aus der Erde und dreht ihn zwischen seinen Fingern. »Deshalb war ich auch nicht überrascht, als Roman hier gebaut hat, nur ein paar Hundert Meter von der Stelle entfernt, an der ich meine und seine Zukunft geplant habe.«
Ich versuche, mir Tobias hier als Jungen vorzustellen, Waise und vollkommen allein im Wald, wie er in den Nachthimmel hinaufschaut. Das Bild, das ich im Kopf habe, zieht an meinem Herzen. In so jungen Jahren alles in einem einzigen Moment zu verlieren ist unvorstellbar.
Er trinkt von seinem Wein und schluckt hörbar.
»Ich höre Papa immer noch, wie er uns seine großen Träume schildert. Seine Pläne für uns, hier in diesem neuen Ort, den er uns allen schmackhaft machen wollte, in dieser neuen Welt, an die er so sehr geglaubt hat und die sich gegen ihn gewendet und ihm seinen Lebenstraum geraubt hat. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich mich vollkommen zurückgezogen. Und je mehr ich über das gelernt habe, woran mein Vater geglaubt hat, über die Leute, denen er blind vertraut hat, desto wütender bin ich geworden.« Er betrachtet mich eingehend. »In meinem Leben gab es keinen Platz für irgendetwas anderes als meine neuen Ziele. Jeden Plan, den ich hier geschmiedet habe, habe ich in die Tat umgesetzt.« Er wendet sich mir zu. »Aber irgendwo auf dem Weg habe ich vergessen zu leben. Ich habe diesen Ort zu etwas Negativem gemacht. Nach ein paar Jahren war er nicht mehr mein Zufluchtsort, denn mit meinen Plänen habe ich ihn in ein Kriegsgebiet verwandelt. Deshalb sehe ich ihn gern mit deinen Augen. Du siehst den Ort jetzt so wie ich, als ich zum ersten Mal hier war.« Er trinkt einen großen Schluck Wein, während ich über seine Worte nachdenke.
»Ich persönlich glaube an Schicksal«, entgegne ich. »Wirklich. Heute in dem Konferenzraum habe ich es gespürt. Etwas in mir hat klick gemacht. Es war wie eine Stimme, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Und ein paar Sekunden lang habe ich meine Zukunft ganz klar vor mir gesehen. Ich halte es nicht für Zufall, dass ich nach Triple Falls gekommen bin oder dass ich die Erfahrungen des letzten Jahres sammeln konnte. Es war, als hätten mich all die Qualen, die ich durchstehen musste, zu diesem einen Moment geführt.« Ich drehe mich in seine Richtung. »Vor nicht allzu langer Zeit hast du mich gefragt, was ich vorhabe, und heute ist es mir klar geworden.«
Er richtet seine Aufmerksamkeit auf den Boden und nickt, bevor wir beide aus unseren Gläsern trinken.
»Du bist noch so jung.« Er schaut mich an und streicht eine Haarsträhne beiseite, die mir an den Lippen klebt. Als ich den Mund öffne, um etwas zu entgegnen, legt er einen Finger darauf und bringt mich zum Schweigen. »Ich meine das nicht herablassend. Aber wenn man lange genug lebt, betrachtet man die Dinge nicht mehr als unumstößlich, so wie du jetzt. Du hast einfache Lösungen für komplexe Probleme. Aber je mehr man dazulernt, desto flexibler wird man. Je mehr man seine Entscheidungen hinterfragt, desto bitterer bereut man einige davon. Lass dich nicht verändern. Und vergiss niemals, wie du dich heute in dem Konferenzraum gefühlt hast. Ganz egal, wie viel Zeit vergangen ist.«
»Das werde ich nicht.«
Er beißt sich kurz auf die Lippe, ehe er weiterspricht. »Ich bereue nichts, weißt du? Wirklich nicht. Ich habe Dominic bei den Hausaufgaben geholfen. Ich habe meinen ersten Job mit vierzehn angenommen und habe im Supermarkt Einkaufstüten gepackt, damit ich dem Kleinen zu Weihnachten ein neues Fahrrad kaufen konnte.« Er zieht die Knie an und stützt seine Unterarme darauf ab. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihn so großzuziehen, wie es Papa getan hätte, ihm alles zu geben, was ich nur konnte. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich ihm gezeigt habe, wie man sich rasiert. Ich habe mich geehrt gefühlt, dass er mich gefragt hat.« Er lächelt, ein richtiges Lächeln. »Das war vor seinem zweiten Wachstumsschub, also war er noch mehr als einen Kopf kleiner als ich.«
»Dann warst du für ihn also eher wie ein Vater als wie ein Bruder«, schlussfolgere ich.
»So wollte ich es«, sagt er. »Wirklich. Beau war ein guter Mensch. Und ich wollte, dass Dominic aufwächst, als hätte er seinen Vater noch. Ich würde diese Erinnerungen gegen nichts eintauschen. Es ist nur …«
Er fühlt sich schuldig. Das erkenne ich an seiner Haltung und den unausgesprochenen Worten. Er hat sein eigenes Leben aufgegeben, um seinen Bruder großzuziehen und seine Rachepläne in die Tat umzusetzen. Ohne diese Ziele scheint er nicht zu wissen, wer er ist.
In diesem Moment wird mir klar, dass wir beide aus ähnlichen Gründen verloren sind.
Ich bin ihm genauso eine Stütze gewesen wie er mir.
Dass er mir in jener Nacht so viele intime Geständnisse entlockt und mir alle Stationen meines Lebens aufgezählt hat, lag nicht daran, dass er alle Details kannte, sondern dass er verstanden hat, welche Opfer ich erbracht habe. Denn ihm ist es genauso ergangen. Und auch heute noch stellen wir unser eigenes Leben hintan, weil wir uns um die Menschen kümmern wollen, die wir lieben. Er tut es nur schon viel länger als ich.
»Dominic und Sean sind die einzigen beiden Menschen, denen ich jemals vertraut habe.« Er fährt mit seinen großen Fingern durch das Gras. »Es ist nicht ihre Schuld.« Er schüttelt den Kopf. »Das weiß ich. Sie wussten nicht, wie sehr es …«
»Wehtun würde«, beende ich seinen Satz. »Wie sehr dir ihre Heimlichtuerei wehtun würde.«
»Aber das ist meine Schuld. Ich habe erwartet, dass sie genauso verbissen kämpfen wie ich … Ich habe zu viel von ihnen erwartet.«
Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich seine Sichtweise eines Tages verstehen würde. Für mich war er der Teufel. Und dennoch verstehe ich ihn nun, seine Logik. Doch was noch schlimmer ist: Ich kann es nachempfinden.
»Du vertraust ihnen immer noch, Tobias. Und du weißt, dass dein Vertrauen berechtigt ist.«
»Ich würde mein Leben in ihre Hände legen. Aber ich war einfach … eifersüchtig.« Er trinkt einen Schluck Wein und sieht mich an. »Und das bin ich immer noch.«
»Tobias, das kannst du ändern. Jetzt. Du kannst eine Entscheidung für dich treffen …«
Ich schaue ihm in die Augen, aber als ich sehe, wie er meinen Blick erwidert, wird meine Zunge trocken, und mir fehlen die Worte. Ich schlucke und schaue weg, versuche, ruhig weiterzuatmen.
»Ich habe ein Haus.« Seine Stimme ist leise. »In der Nähe von Saint-Jean-de-Luz. Mein Vater hat mich in diesen Ort mitgenommen, als ich noch ganz klein war. Es ist nur ein Erinnerungsfetzen, ein Gefühl von Glück. Aber ein paar Jahre nach meinem Collegeabschluss bin ich noch einmal dorthin gefahren und habe es wieder gespürt. Saint-Jean-de-Luz ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich genauso viel Frieden empfinde wie hier. Sobald ich es mir leisten konnte, habe ich mir also ein Grundstück gekauft, direkt am Wasser, und habe ein Haus gebaut. Vor einem Jahr ist es fertig geworden, und ich war noch nie dort.«
»Warum nicht?«
»Weil ich noch nicht würdig bin.«
»Das ist lächerlich.«
»Noch ist die Zeit nicht reif dafür. Saint-Jean-de-Luz ist mein großes Ziel. Dorthin zu gelangen muss ich mir verdienen. Und das habe ich noch lange nicht geschafft. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich auch Angst davor hinzureisen.«
»Warum?«
»Na ja, wenn die Rache irgendwann vollbracht ist, muss ich einen Weg finden, um mit mir selbst zu leben und mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe. Mit der Schuld, die ich noch auf mich laden werde.« Er schaut mich mit gehetztem Blick an. »Aber ich habe mir meine Zukunft erträumt, bis ins Detail. Saint-Jean-de-Luz existiert. Wenn ich bereit bin, wartet es auf mich. Und jetzt habe ich meinen besonderen Ort mit dir geteilt.« Er sieht mich forschend an. »Wovon träumst du?«
»Das mag albern klingen, aber … Paris.«
»Das ist zu einfach umzusetzen. Denk dir was Größeres aus.«
»Ich will Mitspracherecht haben.«
Er nickt und scheint zu verstehen. »Dann wirst du Mitspracherecht haben.«
»Ich will meinen eigenen Zufluchtsort.«
»Dann wirst du ihn bekommen. Träum weiter. Schmiede Pläne. Träume tausend Träume, und mache tausend Träume wahr.«
Er nimmt mir das Weinglas aus der Hand, stellt es hin und stellt seines daneben.
»Einfach so.« Ich lächele; mittlerweile fließt der Wein durch meine Adern. »Wie von Zauberhand.«
»Nein.« Er nimmt meine Hand in seine und dreht sie um, fährt mit der Handfläche darüber, streichelt sie mit seinen Fingerspitzen, und mir wird schwindelig von seinen Berührungen, mein Körper erwacht zum Leben. Eine Strähne seines schwarzen Haares fällt ihm in die Stirn, und ich sehne mich danach, es zu berühren.
Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Nachdem du geträumt hast, planst du, und dann beginnt die Arbeit. Das ist der Punkt, an dem es kompliziert wird. Deine Träume können unerreichbar erscheinen, und manchmal verliert man aus den Augen, was wichtig ist, und verletzt Menschen, die sich auf einen verlassen.« Unsere Blicke treffen sich. »Und wenn das passiert«, er schluckt, »fragst du dich vielleicht, wer du eigentlich bist und wie weit du gehen willst.«
Ich kann nicht wegsehen, starre ihn unverwandt an.
»Cecelia.« Seine Stimme wird leise, und noch nie hat mein Name aus dem Mund eines Mannes so schön geklungen.
Fasziniert von allem, was er mir offenbart hat, sitze ich da und kann nicht glauben, dass er der gleiche Mann ist, den ich vor Monaten kennengelernt habe.
»Die Dinge, die ich dir angetan habe, tun mir aufrichtig leid. Was dir heute widerfahren ist …«
»Das hatte nichts mit dir zu tun. Und ich will nicht darüber reden.« Ich halte seine Hand fest, um gegen das anzukämpfen, was seine Liebkosungen in mir auslösen. Wenn ich nicht vorsichtig bin, wird es ihm gelingen, mein verhungerndes Herz mit seinen Worten und seinen Berührungen wieder zum Leben zu erwecken. »Du stellst es so dar, als ob das Spiel für dich schon aus ist, aber das stimmt nicht«, sage ich ihm. »Du bist noch jung genug, um deine Pläne zu ändern. Du hast dein ganzes Leben vor dir. Du kannst immer noch träumen. Du könntest theoretisch morgen in dein Haus in Saint-Jean-de-Luz einziehen, wenn du wolltest.«
»Nein, das könnte ich nicht.« Er dreht meine Hand um und teilt meine Finger, um sie an seine vollen Lippen zu heben und jeden einzelnen zu küssen. Die Funken sprühen, und Flammen züngeln an meiner Wirbelsäule hoch. Angespannt und erregt lausche ich seiner hypnotisierenden Stimme und sehe zu, wie er jeden meiner Finger an seine weichen Lippen drückt. Der Anblick entfacht ein Feuer in mir.
»Meine Pläne und meine Entscheidungen haben mich in die Ecke gedrängt. Aber hier an diesem Ort gibt es keine Außenstehenden, keine Bedrohungen, keine Vergangenheit, keine anderen Menschen. Hier gibt es nur uns.«
Seine Ehrlichkeit raubt mir den Atem.
Mit dem Daumen streicht er über meine Unterlippe und senkt kurz den Blick, ehe er mich anschaut.
»Und deinetwegen sehe ich diesen Ort zum ersten Mal wieder so, wie er ist. Er hat nichts von seiner Magie verloren. Ich habe einfach nur vergessen, danach Ausschau zu halten.«
Ohne den Blick aus meinem zu lösen, beugt er sich so weit vor, dass sich unsere Lippen beinahe berühren, und schaut mich flehend an.
Und ich kann mich nicht länger vor ihm und vor meinen Empfindungen verschließen, denn er sagt die Wahrheit. Seit dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben, fühlen wir uns zueinander hingezogen. Obwohl uns am Anfang nur Wut, Groll und Betrug verbunden haben, war die Anziehungskraft immer da. Trotz allem waren wir von Anfang an miteinander vertraut.
»Ich kenne dich, Cecelia, genauso wie du mich kennst. Und hier an diesem Ort ist uns bewusst geworden, dass es schon die ganze Zeit so war.«
Er drückt mir einen federleichten Kuss auf die Lippen, legt die Hände an meinen Hinterkopf und küsst mich nun fordernd.
Ich kann den Wein auf seiner Zunge schmecken, und ich wimmere in seinen Mund, als er mich erkundet, leckt und kostet. Mühelos hebt er mich hoch, schlingt meine Beine um sich und küsst mich weiter, plündert und vereinnahmt mich. Die Schwerkraft erdet uns, während ich seinen Kuss ungezügelt erwidere. Als er sich zurückzieht, sehe ich nichts als Zufriedenheit in seinen Augen. Er mag es als Erster erkannt haben, aber das Spiegelbild, das ich sehe, ist unverkennbar.
Ich durchschaue dich, Cecelia. Immer wieder versuchst du, dich, dein Herz, deine Treue zu verschenken, ob derjenige es haben will oder nicht. Die Gründe dafür verstehst du selbst nicht, dabei ist es so einfach.
Für ihn ist es einfach, schließlich lebt er in demselben freiwilligen Exil wie ich, aber statt sein Herz zu verschenken, hat er es weggesperrt. Unser Atem vermischt sich, wir schauen uns in die Augen und verstehen uns ohne Worte.
»Was willst du, Tobias?«, flüstere ich.
Er legt mich ins Gras, presst meine Handgelenke auf den Boden und beugt sich zu mir herunter, sodass seine Haare mein Kinn kitzeln. »Einen Moment, in dem ich nur an mich denken darf«, flüstert er sanft. Und er nimmt meinen Mund in einem alles verzehrenden Kuss gefangen.