KAPITEL VIERUNDDREISSIG

Ryan trinkt einen Schluck von seinem Kaffee und betrachtet mich über seinen Laptop hinweg. »Er wird durchdrehen, wenn er das sieht. Jeden Tag ein Morgenmeeting? Temporäre Verlegung des Hauptfirmensitzes nach Triple Falls und … Meinst du das ernst?« Er deutet auf die Liste mit meinen Bedingungen.

»Jepp.«

»Bist du dir sicher, dass er das unterschreiben wird?«

»Jepp.« Und zwar, weil er glaubt, dass er gewonnen hat. Tobias ist übertrieben selbstsicher, was mich betrifft, so war es schon immer. Obwohl er mir gestern ganz schön zugesetzt hat, bin ich fest entschlossen, professionell zu bleiben.

Ryan tippt in Windeseile, während ich mich lächelnd mit meinem Kaffee zurücklehne.

»Du hast dir in den Kopf gesetzt, den Typen zur Weißglut zu bringen?«

»Wie gesagt, ist er mir was schuldig. Und wir verkaufen so oder so. Du kannst ruhig mit einem anderen Interessenten in Verhandlung treten, aber sieh zu, dass er davon Wind bekommt.«

»Was interessiert den Kerl denn so an dieser Firma, abgesehen von dir?«

»Das ist privat.«

»Mich treibst du auch zur Weißglut.«

»Genau das ist mein Ziel.«

»Eins würde mich aber schon interessieren.« Er lehnt sich zurück und sieht mich forschend an. »Was genau erhoffst du dir davon?«

»Einen Neuanfang.«

»Und warum brauchst du den?«

Ich schaue auf den Ring an meinem Finger. »Weil ich meine Fehler wiedergutmachen muss.«

»Inwiefern?«

»Menschen sind wegen Tobias und mir verletzt worden. Und das hat sich bis heute nicht geändert.«

»Sprichst du von deiner Trennung?«

»Nicht direkt.«

»Fuck.« Schwungvoll klappt er seinen Laptop zu, schiebt ihn in die Hülle und steht auf.

»Ryan, es tut mir leid, aber ich kann dir nicht mehr …«

Er greift nach seiner Jacke und zieht sie an. »Ich gehe spazieren.«

»Ryan …« Ich bin im Begriff, ihm hinterherzulaufen, doch in diesem Moment vibriert mein Handy in der Tasche. Die angezeigte Nummer ist mir unbekannt, hat aber eine örtliche Vorwahl. »Cecelia Horner.«

»Findest du das lustig?«

Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Guten Morgen, Tobias. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«

»Das wird nicht geschehen. Ich habe all deine anderen Bedingungen akzeptiert.«

»Alle außer einer. Die einzige, die wichtig ist, hast du nicht akzeptiert.«

»Dir ist hoffentlich bewusst, dass du dich mit dem Falschen anlegst.« Es ist keine Frage.

»Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist und wozu du fähig bist?«, frage ich schnaubend und steuere auf die Ecke der Lobby zu, wo mich niemand hören kann. Ich schaue zur Überwachungskamera hoch und weiß, dass er mich sehen kann.

»Ezekiel Tobias King, geboren als Ezekiel Tobias Baran am dreißigsten Juli 1984, siebenunddreißig Jahre alt, Sohn von Celine Moreau und Adoptivsohn von Guillaume Beau King. Mit sechs in die USA eingewandert, verwaist mit elf Jahren, zusammen mit einem Bruder namens Jean Dominic King, gestorben mit siebenundzwanzig, keine Autopsie.« Ich schlucke den Schmerz herunter, den mir diese Worte bereiten. »Mit sechzehn bist du nach Frankreich an die IPESUP Prep School gegangen, um am renommierten HEC in Paris angenommen zu werden und deinen BW L -Abschluss zu machen. Deine Zeit dort hast du dazu genutzt, um Verwandte zu rekrutieren und zu überprüfen, damit sie dir bei deinem Vorhaben helfen. Nach deinem Abschluss hast du deine eigene Firma, Exodus Inc, gegründet, was du vor vier Jahren öffentlich gemacht hast. Ihr Wert liegt laut am Ende des gestrigen Tages aufgerufener Quelle, bei knapp zwei Milliarden Dollar. Nach der Gründung deiner Firma hast du damit begonnen, deinen letzten lebenden engen Verwandten zu suchen, deinen leiblichen Vater Abijah Baran, ein französischer Hebräer und Mitglied der Parti Radical, bis bei ihm im Alter von achtundzwanzig Schizophrenie diagnostiziert wurde. Vor sechs Jahren hast du ihn gefunden. Kurz danach hast du ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, wo du ihn einmal im Jahr besuchst. Eine Tatsache, die du allen verheimlicht hast. Seine Verbindungen zu gewissen Extremisten und seine psychische Erkrankung sind bestimmt die Gründe dafür, dass du nie geheiratet und keine Nachkommen hast, ebenso wie für deine Geheimniskrämerei. Und natürlich die Tatsache, dass du dich im Leben um nichts scherst als um deine engsten Verwandten, deinen persönlichen Rachefeldzug gegen Roman Horner, deine ambitionierten Pläne und deine Selbstsucht.« Ich hebe das Kinn in Richtung Kamera. »Seinen Gegner muss man gut kennen, Tobias. Du bist am Zug, King.« Mit diesen Worten lege ich auf.

Als ich hinausgehe, sehe ich Ryan auf der anderen Seite des Platzes, beschließe aber, ihn in Ruhe zu lassen, da ich ihm keine Antworten geben kann. Ich weiß, wie er sich fühlt, kämpfe ich doch gerade selbst darum, meiner Gefühle Herr zu werden.

»Cecelia, bist du das etwa?«, ruft jemand hinter mir, während ich die Main Street überquere.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Melinda mir mit großen Augen entgegenläuft.

»Hi, Melinda, wie geht’s dir?«

»Mädchen, du wirst ja immer hübscher, sieh dich nur an.« Sie zieht mich in eine Umarmung, und ich erwidere sie genauso fest. »Du siehst einfach toll aus. Und so erwachsen«, sagt sie, als sie sich wieder von mir löst.

»Danke, du siehst auch gut aus.«

»Das liegt daran, dass ich gerade hundert Dollar für meine Frisur ausgegeben habe.« Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Aber lieber Himmel, du bist ja damals ohne ein Wort verschwunden. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Und als du auch nicht zur Beerdigung deines Vaters zurückgekommen bist …« Als sie meinen Blick sieht, bricht sie ab.

»Tut mir leid. Es gab ein paar persönliche Dinge, um die ich mich kümmern musste, deshalb bin ich ganz spontan abgereist.«

»Bleibst du lange hier?«

»Nicht allzu lange.«

Ihre Miene erhellt sich. »Weißt du was? Bald haben wir eine große Hochzeit in der Familie. Du erinnerst dich bestimmt noch an meine kleine Nichte Cassie? Sie heiratet! Kannst du glauben, dass sie erwachsen ist? Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ich dir von ihrer Taufe erzählt habe.« Wie immer hat sie in Windeseile ein Foto auf ihrem Handy geöffnet und hält es mir hin.

»Sie ist sehr hübsch.«

»Das ist sie, und ihr Verlobter sieht auch richtig gut aus. Hast du jetzt eigentlich was vor? Komm, lass uns zusammen was essen.«

Als ich die Straße nach Ryan absuche, ihn aber nicht entdecken kann, nicke ich. »Gerne.«

Ihre Augen leuchten. »Super, ich kenne das perfekte Restaurant für einen kleinen Lunch.« Wir gehen die Main Street entlang, in jedem Schaufenster Valentinstagsdeko. Unter unseren Stiefeln knirscht der letzte Schnee.

Als sie mich in das Restaurant führt, ist mir bereits schwindelig von ihrem Geplapper. Nun berichtet sie mir von einem Theaterstück, bei dem sie mitwirkt. Als wir Platz genommen haben, wird ein Brotkorb gebracht, zusammen mit zwei Gläsern Wasser und der Speisekarte. Als ich das Logo auf dem Einband sehe, setzt mein Herz einen Schlag aus – The Pitt Stop.

»Entwickelst du etwa Gefühle für mich, Babe?«

Ich fahre die Buchstaben mit dem Finger nach und schaue über Melindas Schulter, während sie immer noch von der Fabrik erzählt. Bilder der Familie Roberts zieren die Wände, und ich versuche trotz der Entfernung, jedes einzelne zu studieren; schließlich entdecke ich Sean mit Anfang zwanzig mit verschränkten Armen und gegen seinen Nova gelehnt. Er lächelt in die Kamera, und seine grünbraunen Augen funkeln. Mein Herz brennt.

Als Melinda mein Gesichtsausdruck auffällt, schaut sie sich um und dann wieder mich an. »Ach Schätzchen, ich hab nicht nachgedacht. Ist es okay für dich, hier zu sein? Ich hätte wahrscheinlich vorher fragen sollen, aber der Klunker an deinem Finger sieht aus, als hättest du einen neuen Mann gefunden, und zwar einen guten

Ich blicke zu dem Diamanten an meinem Finger hinunter. Er ist tatsächlich ziemlich groß, aber alles, was ich sehe, wenn ich ihn betrachte, sind Collins Augen, als er ihn mir auf unserer Firmenweihnachtsfeier präsentiert hat. Bevor ich antworten kann, nimmt eine junge Kellnerin unsere Getränkebestellung auf. Ich entscheide mich für Eistee und gebe vor, dass ich zur Toilette muss; ich kann einfach nicht widerstehen.

Dann verbringe ich gut zehn Minuten damit, die Wände zu studieren, und jedes Foto von ihm bereitet mir Qualen. Er hat sein Aussehen hauptsächlich von seiner Mutter, aber den Körperbau und das Lächeln von seinem Vater.

Zahllose Bilder aus allen Lebensphasen meiner ersten Liebe hängen an den Wänden – von Vereinsspielen bis hin zum Abschlussball, dazwischen die Familie zusammen mit Stars, die hier gegessen hatten. So intensiv ich auch nach aktuelleren Fotos suche, ich finde kein einziges. Ich weiß, dass sie irgendwo im Restaurant hängen müssen, und ärgere mich, dass es zu offensichtlich wäre, danach zu suchen. Ich habe keine Reaktion gezeigt, als Tobias mir erzählt hat, dass Sean verheiratet ist, aber das Wissen nagt an mir.

Sean hat eine Frau und zwei Kinder. Er hat geheiratet. Er hat sich eine Zukunft aufgebaut, genau wie es sein sollte.

Ich freue mich für ihn. Und ich bin auch ein bisschen eifersüchtig, will nur an die Zeit zurückdenken, als er mit mir zusammen war. Es ist mein Recht, nicht zu erfahren, wie glücklich er ist.

Ganz egal, wie unkonventionell unsere Beziehung war, sie war gut, bis sie geendet hat. Ich war in ihn verliebt, bis er mir entrissen wurde.

Die Träume, in denen er als Hauptperson vorkommt, sind oft die schwersten. Die Liebe, die ich für ihn empfunden habe, war rein und unverdorben. Ich weiß nicht, wie man Liebe misst, ich weiß nur, dass ich jeden von ihnen getrennt voneinander geliebt habe. Doch die Liebe, die ich für Tobias empfinde, kann ich nicht mit der für die beiden anderen Männer vergleichen. Auch meine Verachtung für Tobias ist größer, als ich sie jemals für einen anderen Mann empfunden habe.

Ich suche noch an einer weiteren Wand in der Hoffnung, dass ich verkraften kann, was immer ich vielleicht sehen werde, doch ich finde nichts. Vielleicht ist es besser, wenn ich ihn nicht sehe.

Alte Wunden drohen wieder aufzureißen, als ich zu Melinda an den Tisch zurückkehre und schließlich mit einem Kloß im Hals esse.

Ich bin eine Stalkerin.

Ich sollte nicht hier sein.

Aber ich kann mich nicht dazu durchringen zu gehen. Also stochere ich in meinem Essen herum und höre Melinda zu. Als wir vorn an der Kasse bezahlen, verwandelt sich der Kloß zu einem Felsblock. Über die Schulter des Kassierers hinweg sehe ich ein Bild von einem kleinen Jungen mit grünbraunen Augen wie denen seines Vaters. Er sieht so schön aus, dass ich das Foto viel länger anstarre, als angebracht wäre. Nachdem wir bezahlt haben, löse ich mich auf der Straße aus Melindas Umarmung, verspreche ihr, dass wir in Kontakt bleiben, und wende mich gerade rechtzeitig ab, um die erste Träne mit meinem Schal wegzuwischen.

Als ich an meinem Wagen ankomme, sehe ich, dass Ryan mit verschränkten Armen danebensteht. Sein Blick wird weich.

Ich weiß, dass meine Mascara verlaufen ist, und ich mache mir nicht die Mühe, die frischen Tränen zu verstecken, die in meinen Augen schimmern.

Er kommt auf mich zu und hebt langsam meinen Schal, um mein Gesicht abzutupfen. »Eins der Dinge, die ich am meisten an dir liebe, ist die Tatsache, dass du keine Ahnung hast, wie wunderschön du bist.«

Ich schaue in sein makelloses Gesicht. Mir ist bewusst, dass Ryan – wäre ich nicht mit neunzehn nach Triple Falls gezogen – wahrscheinlich meine erste wahre Liebe gewesen wäre. Collin wäre vielleicht meine zweite geworden. So oder so wäre ich jetzt nicht in einer ausweglosen Lage.

»Ich habe mich zu oft verliebt, bevor ich dich kennengelernt habe.«

Er zieht mich an sich und schlingt seine Arme um mich. »Er ist einverstanden mit den Bedingungen. Morgen unterschreiben wir«, flüstert er heiser. »Ich bleibe hier, solange du mich brauchst … Danach kündige ich.«