KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

Ich setze mich unter der schweißnassen Bettdecke auf. Meine Glieder schmerzen, und ein gequälter Schrei dringt aus meiner Kehle. Ich habe Sean die ganze Nacht durch den Wald gejagt, habe ihn angebettelt, stehen zu bleiben, aber er ist einfach weitergerannt, ohne sich umzuschauen.

»Verdammt!« Ich werfe meine Wasserflasche quer durch das Zimmer, und sie prallt gegen die Wand, um dann vor der vom Mond erleuchteten Balkontür auf dem Teppich zu landen. Flüssigkeit ergießt sich auf den Boden.

Ständig kämpfe ich gegen mein Unterbewusstsein an. Es ist einfacher, wenn ich wach bin, aber fast jede Nacht trauere ich um einen von ihnen oder um alle drei.

Und es ist erbärmlich, weil sie mich in meinen Träumen fast immer zurückweisen.

Ich bettele und flehe sie an, mich nicht zu verlassen, meine Liebe zu erwidern, mir zu verzeihen. Nur einmal in diesen Träumen möchte ich wütend sein, ihnen vorwerfen, dass sie Lügner sind, dass sie mich, meine Loyalität, meine Hingabe, mein immer treues Herz nicht verdient hatten. Und dennoch sind immer sie es, denen ich hinterherrenne, die ich um Vergebung anflehe, um Absolution, darum, dass sie meine Gefühle erwidern.

Trotz der Stärke, die ich tagsüber ausstrahle, und obwohl ich erwachsene Männer mit meinen Business-Deals in die Knie zwinge, bin ich in meinen Träumen immer schwach. Und mein Geist lässt in diesen Nächten nicht zu, dass ich mich an die Realität von heute oder gestern erinnere. Ich wähle Christys Nummer und bete, dass sie drangeht.

»Ich bin ganz Ohr«, sagt sie mit verschlafener Stimme.

»Es wird immer schlimmer. Dieser Ort macht alles nur noch schlimmer.«

»Ich bin da, erzähl mir davon.«

»Tut mir leid.« Ich seufze und werfe einen Blick auf die Uhr. »Ich weiß, dass es spät ist.«

»An meiner Brust nuckelt gerade ein Baby, und ich schaue mir Videos auf Instagram an. Du störst also überhaupt nicht.«

»Gib ihm einen Kuss von mir.«

»Mach ich.«

Ein paar Sekunden lang schweigen wir beide.

Sie wartet.

»Ich bin so dumm. Alle haben einfach weitergemacht mit ihrem Leben.«

»Ich bin deine beste Freundin, und ich sage dir, du warst wie ein Roboter, als du aus diesem gottverdammten Ort zurückgekommen bist. Seitdem warst du nie wieder dieselbe. Und ich behaupte nicht, dass ich dich nicht auch so, mit all deinen Macken, liebe, aber ich sehe doch dein Gesicht, wenn du glaubst, dass dich niemand beobachtet. Du hattest drei Freunde, die dich mental vollkommen fertiggemacht haben. Und dann ist einer von ihnen auch noch bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und du hattest nie die Chance, richtig um ihn zu trauern.«

Schuldgefühle nagen an mir, weil ich so viele Geheimnisse vor ihr habe.

»Kann ich dich was fragen, Cee?«

»Blöde Frage. Klar.«

»Bist du schwanger?«

»Was? Nein.« Ich bin schwach. In diesem Zustand kann ich nicht mit ihr reden. Ich trage diese Geheimnisse schon zu lange mit mir herum. »Es war nur wieder ein Albtraum. Alles in Ordnung.«

»Hör mal, irgendwann wird es keine Kinder mehr geben, die mir den Schlaf rauben, weil sie an meiner Brust hängen, und dann werde ich dich umbringen, wenn du mich mitten in der Nacht aufweckst. Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn du das mit Collin nicht sein kannst, ist das in Ordnung. Wenn du in das Kaff zurückkehren musst, um mit dem ganzen Scheiß abzuschließen, schön, aber achte darauf, dass du es für dich tust. Du hast unter diesen Arschlöchern schon genug gelitten.«

»Ja, das mache ich.«

»Gut. Vergiss nicht, warum du zurückgegangen bist.«

»Glaub mir, das kann ich gar nicht vergessen.«

»Und vergiss vor allem nicht, wer du bist, verdammt noch mal. Du bist CEO und eine absolute Hammerfrau. Du bringst jeden Tag erwachsene Männer zum Weinen.«

»Danke. Ich hab dich lieb.«

»Hab dich auch lieb.«

Ich schaffe es durch drei Viertel meiner Präsentation, wobei ich die ganze Zeit seinen durchdringenden Blick auf mir spüre. Es ist unser erstes gemeinsames Meeting. Tobias hat schon alle Mitglieder des Vorstands gefeuert. Zusammen widmen wir uns der Aufgabe, die Fabrik umzustrukturieren, damit die Angestellten größeres Mitspracherecht haben. Ich frage erst gar nicht, was er mit den anderen Fabriken vorhat, weil ich vermute, dass er sich etwas von mir abschauen wird, wenn er versteht, welche Pläne ich für diesen Standort habe.

Ryan sitzt neben Tobias’ Assistentin Shelly und hört mir zu, während ich meine Präsentation halte, an der ich die halbe Nacht gearbeitet habe – ein Schritt-für-Schritt-Plan, um die Fehler von Horner Tech aus der Vergangenheit auszumerzen. Die Arbeit soll für die Angestellten reizvoller werden, und sie sollen eine bessere Krankenversicherung und Rente bekommen. »Ihr Leben wird sich nicht von heute auf morgen verändern, aber nach einem Jahr sollten sich die Neuerungen auszahlen.« Nachdem ich diesen Gedanken ausgesprochen habe, mache ich eine Pause, denn mit einem Mal spüre ich das volle Gewicht der Aufmerksamkeit, die mir der Mann schenkt, der lange nur in meinen Träumen existiert hat.

»Cee?«, fragt Ryan, da ich schweigend dastehe.

Ich bin vollkommen gefangen in der Erinnerung an einen warmen Sommerabend voller berauschender Küsse, Wein, Glühwürmchen; an einen magischen Ort, den wir erschaffen haben, an dem nur wir existierten und an dem wir einander so gesehen haben, wie wir wirklich waren.

»Cee?«, wiederholt Ryan, als ich aus meiner Starre hochschrecke und versuche die Stelle zu finden, an der ich meinen Vortrag unterbrochen habe.

»Sorry.« Ich räuspere mich und spüre, wie mir Hitze am Hals bis ins Gesicht hinaufsteigt.

Ich habe Tobias noch keinen einzigen Blick zugeworfen, aber der gesamte alte Meetingraum knistert vor Energie, seitdem er eingetreten ist.

»Innerhalb des kommenden Jahres wollen wir Angestellten nicht nur mehr Anreize geben, weiterhin für uns zu arbeiten, sondern wir werden auch zwölf neue Führungspositionen schaffen.«

»Ich habe schon eigene Pläne für die Fabrik.« Es ist das erste Mal, dass sich Tobias zu Wort meldet, und ich schaue zu ihm auf.

»Ich wollte dir nur ein paar Optionen aufzeigen.«

Seine Antwort ist knapp. »Kein Interesse. Ist das alles?«

»Okay, lass es mich spezifizieren«, versetze ich. »Du hast keine Wahl. Plan B wird durchgeführt.«

»So steht es auch im Vertrag«, kommt Ryan mir zu Hilfe.

Tobias würdigt ihn keines Blickes, sondern sieht mich wütend an.

»Ich schaffe Arbeitsplätze, ich ruiniere nicht deine Pläne.«

»Das ist fraglich«, kontert er und steht auf.

»Es dauert nur noch fünfzehn Minuten.«

Er lässt den Blick an meinem engen Hosenanzug hinabgleiten.

Ich habe mir heute Morgen ein bisschen mehr Zeit genommen, mich zu stylen, als sonst.

»Wenn du ohnehin machst, was du willst, warum muss ich dann überhaupt hier sein?«, fragt Tobias.

»Ihre Anwesenheit in den Meetings ist ebenfalls vertraglich festgesetzt«, sagt Ryan.

Endlich sieht Tobias ihn an. »Leckst du die Sohlen ihrer Stilettos, wenn wir hier fertig sind?«

»Schuhfetisch-Kram ist nicht so ihr Ding«, erwidert Ryan mit einem selbstsicheren Lächeln.

Tobias schaut nun wieder mich an. Sein Blick ist verurteilend. Und jetzt weiß er auch noch, dass ich mit meinem Anwalt geschlafen habe. Wütend funkele ich Ryan an, doch der zuckt nur mit den Schultern und lässt seinen Blick anerkennend an mir hinabwandern, was Tobias nicht entgeht.

»Meine Herren, lassen Sie Ihre Hosen an, und atmen Sie durch«, erwidere ich schnippisch. »Hier geht es nicht darum, wer mehr zu sagen hat. Es geht um die Zukunft von Tausenden Angestellten und was das Beste für sie ist. Ich muss nicht zwingend im Recht sein. Lasst uns einfach zusammen überlegen, was im Interesse der Mitarbeiter liegt.«

Nun meldet sich Shelly zu Wort. »Einverstanden. Was wir geplant haben, ist ähnlich. Ich kann unsere Punkte mit Ihren abgleichen, dann können wir zusammenarbeiten und müssen uns nicht weiter über Fetische unterhalten.«

»Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Wort übergeben zu haben«, beschwert sich Tobias.

Shelly schießt zurück, ohne zu zögern. »Ich lecke keine Schuhe und ich krieche niemandem in den Hintern, Mr King. Deswegen haben Sie mich doch eingestellt. Cecelia, ich finde die Idee hervorragend, und da ich diejenige bin, die die Informationen zusammentragen und veröffentlichen wird, würde ich gerne die letzten vierzehn Minuten Ihrer Präsentation hören.«

Ich beiße mir auf die Lippe, um mein Lächeln zu verbergen.

Tobias sieht Shelly mit verengten Augen an, ehe er wieder Platz nimmt. »Dann los.«

Alle wenden sich mir zu und schauen mich erwartungsvoll an.

Und das war erst Tag eins.

Fuck.