KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

»Horner«, ruft der Gefängniswärter, als die vierte Stunde hinter Gittern für mich vorbeigeht.

Ryan betrachtet mich durch das kleine Fenster, als ich unterschreibe, dass ich meine Sachen wiederbekommen habe, die ich anschließend in einer Plastiktüte durch die Tür trage, die für mich aufgedrückt wird.

Erst als wir draußen sind, beginnt der Vortrag. »Was zur Hölle sollte das?«

»Was meinst du?«, frage ich und ziehe den Mantel enger um meinen Körper.

»Stell dich nicht dumm. Du bist verhaftet worden, weil du hundertsechzig in einer Achtziger-Zone gefahren bist und mit knapp dreißig Gramm Gras erwischt wurdest. Wie würdest du das nennen?«

»Einen geilen Donnerstagnachmittag?«

»Das ist nicht lustig.«

»Kommt drauf an, wen man fragt.« Ich runzele die Stirn. »Und außerdem war es verdammt gutes Gras. Ich glaube, ich muss noch mal zurück in den Laden.«

Ryan sieht mich verzweifelt an.

»Ich wollte einfach nur in Erinnerungen an alte Zeiten schwelgen.«

»Wer zur Hölle bist du?« Er betrachtet mich forschend.

»Mach dich locker, du kannst dafür sorgen, dass sie die Anklage fallen lassen. Sie haben nicht mal meine Fingerabdrücke genommen. Es war ein Machtkampf. Er wollte mir eine Botschaft senden.«

»Du meinst …«

»Schhh.« Ich lache und schaue nach links und rechts. »Sprich nicht seinen Namen aus.«

»Cecelia, das ist nicht lustig. Ich habe ein bisschen über ihn recherchiert. Ihm gehört der halbe Ort, auch das Hotel, in dem ich übernachte.«

»Und die Polizei. Das weiß ich alles. Und ich habe dir gesagt, dass du keine Nachforschungen über ihn anstellen sollst.«

»Dann weißt du also, dass Exodus Inc …«

»Ja.«

»Er hat mehr Macht als Jerry Siegal.«

»Jerry hat keine Macht mehr.«

»Ich traue ihm nicht über den Weg.« Ryan nimmt mich beim Ellbogen und führt mich zum Parkplatz.

»Ich auch nicht«, erwidere ich trocken.

»Warum provozierst du ihn dann?«

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass er mir was schuldet.«

»Er hat dich in den Knast gebracht. Rechne besser nicht damit, dass dein Plan aufgeht.«

»Doch. Siehst du nicht, dass er funktioniert?«

»Ja, eindeutig«, erwidert er sarkastisch.

»Du musst mir vertrauen.«

»Dieser Ort macht mir langsam Angst.«

»Hast du das Gefühl, dass du beobachtet wirst?«

»Wieder nicht lustig.«

»Finde ich schon. Ich hab ihn genau da, wo ich ihn haben will.«

»Auf mich wirkt er ziemlich wütend.«

»Genau.«

»Ich hoffe wirklich, dass du weißt, was du tust.«

»Das tue ich. In gewisser Weise.«

Er seufzt. »Ich kann dafür sorgen, dass sie die Anklage wegen Besitz von Drogen fallen lassen und dass dein Strafzettel wegen Raserei weniger kriminell aussieht, aber dein Auto bekommst du nicht zurück.«

Ich bleibe stehen. »Was?«

»In der Nähe war auch noch ein Van, deshalb glauben sie, ihr hättet ein Straßenrennen veranstaltet. Die behalten deinen Audi für mindestens dreißig Tage ein. Ich kann die Anzeige verschwinden lassen, aber Kleinstädte wie diese hier nehmen dich aus wie eine Weihnachtsgans, um Geld zu machen.«

»Schon in Ordnung.«

»Nichts ist in Ordnung, das war verdammt noch mal gefährlich. Was ist los mit dir?«

Als wir seinen Wagen erreichen, will ich nach seinem Schlüssel greifen, aber er tippt sich an die Stirn. »Auf keinen Fall. Du hast Glück, dass du deinen Führerschein behalten kannst.«

»Na schön.« Ich seufze und steige ein, als er mir die Beifahrertür aufhält.

»Das sieht dir gar nicht ähnlich. Was geht hier ab?«

»Tut mir leid, Dad . Lass uns einfach das Bußgeld zahlen, und ich kümmere mich um ein Auto.«

»Ich hab schon einen Leihwagen reserviert. Aber Cee …«

»Ich hab mich für einen Moment vergessen«, gebe ich beschämt zu. »Es war dumm. Aber jetzt ist es vorbei.«

Als er hinter dem Steuer sitzt, betrachtet er mich eingehend. »Du hast dich schon viel zu oft vergessen, seitdem wir hier angekommen sind.«

»Das weiß ich selbst, okay? Ich weiß es. Ich bin in letzter Zeit etwas rastlos.«

»Was genau ist hier eigentlich passiert?«

»Zu viel, um es zu erklären, und zu unglaubwürdig, als dass du es dir vorstellen könntest.« Ich wende mich in seine Richtung. Ich vertraue Ryan vollkommen. Er ist der Einzige, der mir dabei geholfen hat, die Schlimmsten zu Fall zu bringen. Er hat sich immer wieder bewiesen. »Willst du wirklich kündigen?«

»Ja. Beantworte meine Frage.«

»Die habe ich dir schon beantwortet, kurz bevor du gekündigt hast.«

»Und solange du mir Halbwahrheiten auftischst, werde ich meine Meinung auch nicht ändern.« Er lässt den Motor an und fährt los.

»Ich will nicht über die Vergangenheit reden.«

»Das musst du aber. Du hast einem Mann, der dir sowieso schon die ganze Zeit wütende Blicke zuwirft, eine Kriegserklärung gemacht.«

»Ist mir gar nicht aufgefallen.« Ich betrachte durch das Fenster das endlos vorbeiziehende Grün. »Tut mir leid, dass ich dir Umstände gemacht habe.«

»Schon in Ordnung, Cee, ich mache mir nur Sorgen.« Er schaut mich an. »Sag mir einfach, wie ich bei deinem wahren Problem helfen kann.«

»Das kannst du nicht. Das kann niemand. Er weiß, was ich will, und bis er mir genau das gibt, sitze ich hier fest.« Ich lege ihm eine Hand auf den Arm. »Du kannst nach Hause fahren. Hier ist für den Moment alles geregelt. Ich komme klar.«

»Nach dem, was gerade passiert ist, glaubst du, ich würde dich hier allein lassen?«

»Ich muss mich allein darum kümmern.« Als ich wieder aus dem Fenster blicke, sehe ich, dass wir schon auf der schnurgeraden Straße sind, die zum Haus meines Vaters führt. »Der geschäftliche Teil ist erledigt; der Rest ist privat.«

Ich spüre seinen Blick auf mir, aber beschließe, ihn nicht anzuschauen.

Als er vor dem Tor vorfährt, gebe ich ihm den Code, und er pfeift anerkennend, als wir uns der Villa nähern. »Ein Schloss.«

»Eine riesige verdammte Lüge.«

Er runzelt die Stirn. »Was meinst du damit?«

»In dem Haus steckt kein Leben. Willst du eine Führung?«

»Ja, aber ich verzichte trotzdem.«

»Warum?«

»Weil ich dann versuchen werde, dich zu küssen. Und das wirst du nicht zulassen.«

»Ryan …«

Wütend umfasst er das Lenkrad fester. »Wie ich das hasse. Ich hasse die Tatsache, dass ich nach Hause fahren und mir einen neuen Job suchen muss.« Er dreht sich in meine Richtung. »Aber das werde ich. Und ich werde auch eine andere Frau finden. Eine hübschere und schlauere. Eine Frau, die nicht in einen anderen verliebt ist. Sollte doch kein Problem sein«, sagt er sarkastisch.

Ich lehne mich zur Seite und küsse ihn auf die Wange. »Du wirst sie finden, Ryan. Das weiß ich. Gib dich nicht mit weniger zufrieden. Und wenn dein Groll gegen mich abgeklungen ist und du in eine andere verliebt bist, dann ruf mich bitte an. Ich vermisse dich jetzt schon.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja. Ich komme schon klar. Dein Job ist getan.«

Er schüttelt den Kopf. »Es fühlt sich nicht richtig an. Ich kann bleiben.«

»Er wird mich beschützen. Das würde er zwar niemals zugeben, aber du musst dir keine Sorgen um meine Sicherheit machen. Vertrau mir. Ich mache mir auch keine Sorgen. Fahr nach Hause, such dir einen Job, aber lass dich von uns bezahlen, bis du was Neues hast. Ich kenne da jemanden, der dich brauchen könnte.«

»Es wird aber nicht das Gleiche sein.«

»Collin braucht dich mehr als ich im Moment.«

Er nickt. »Red mir nur Schuldgefühle ein, Cee.« Er reibt sich das Kinn. »Fuck, ich fühle mich, als würde sich meine Band auflösen.«

»So ist das Leben. Menschen kommen und gehen. Aber ich will dich nicht ganz verlieren. Nicht dich, Ryan. Versprich mir, dass du dich irgendwann bei mir meldest.«

»Das werde ich. Immerhin war ich bereit zuzusehen, wie du einen anderen Mann heiratest. Ich versichere dir, zwischen uns ist alles in Ordnung.« Er streicht mit der Hand über das Lenkrad, ehe er seinen niedergeschlagenen Blick wieder mir zuwendet. »Ich musste es wenigstens versuchen, findest du nicht? Das ist doch der gleiche Grund, aus dem du hier bist.«

Ich nicke traurig. Noch ein Opfer meines grausamen Herzens.

»Ich liebe dich«, sagt er mit fester Stimme. »Komme, was wolle.«

»Ich liebe dich auch.«

Resigniert lässt er den Kopf gegen die Lehne sinken und wendet sich mir zu. »Und jetzt raus aus meinem Wagen. Du riechst nach Gras.«

Mit Tränen in den Augen lächele ich ihn an, steige aus und betrachte die Villa.

Ryan scheint mein Zögern zu bemerken. »Er liebt dich, weißt du?«

Ich drehe mich zu ihm um.

»Nicht dass ich diesen ganzen Mist unterstützen will, denn eins will ich klarstellen, er ist ein aufgeblasenes Arschloch. Aber kein Mann gerät so in Rage wegen einer Frau, die ihm nichts bedeutet. Er kämpft nur dagegen an.«

»Danke. Ruf mich an, wenn du angekommen bist.«

»Ich schreibe dir.« Er senkt den Blick, als ich vom Auto wegtrete.

Ryan ist seit Jahren ein Teil meines Lebens, und ich kann mir nicht vorstellen, ihn nicht mehr jeden Tag zu sehen. Ich habe mein Leben auf den Kopf gestellt und mich von Menschen getrennt. Menschen, die ich liebe. Und all das wegen eines schlechten Traumes, wegen einer Vergangenheit, der ich nicht entkommen kann. Ich schließe die Beifahrertür, er fährt weg – und ich bleibe allein zurück.

Sie sind am Zug, Mr  King.