Das Heulen des Windes vor meinem Fenster weckt mich aus einem unruhigen Schlaf. Als ich mich aufsetze, sehe ich zwei Advil und eine Flasche Wasser auf meinem Nachttisch. Ich trinke die Flasche leer, aber meine Kopfschmerzen sind immer noch so stark, dass ich mit dem Gedanken spiele, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Doch stattdessen ziehe ich meinen Morgenmantel über und beschließe, dass mir frische Luft guttun wird. Ich öffne die Türen zum Balkon und schaue in den Himmel mit seiner Wolkendecke, die sich vom Horizont aus immer näher auf mich zubewegt. Die kühle Luft lässt mich zittern, und auf einmal überkommt mich ein Prickeln. Ich schaue in den Garten hinab und sehe Tobias auf einem der Liegestühle neben dem abgedeckten Pool. Er trägt noch immer den Anzug von gestern Abend und einen schwarzen Trenchcoat aus Wolle. Er hat sich zurückgelehnt, hält eine brennende Zigarette zwischen den Fingern und hat die Augen geschlossen.
Er war die ganze Nacht hier.
Obwohl mein Schädel pocht, ziehe ich mir schnell etwas Warmes an und gehe hinunter und hinaus auf die Terrasse. Leise nähere ich mich und setze mich auf den Liegestuhl neben seinem, um ihn zu betrachten.
Er ist mittlerweile siebenunddreißig, und als wir zusammen waren, habe ich immer geglaubt, wir würden nicht altern. Die Zeit hat nicht existiert, und tatsächlich haben die Jahre seiner unvergleichlichen Schönheit, seinen markanten Zügen und seinem Körperbau nichts anhaben können. In dem Moment fallen mir seine Worte von gestern Abend wieder ein, seine Berührungen, die sanften, aber besitzergreifenden Liebkosungen seiner Finger, wie sanft er mich aus meinen schmutzigen Kleidern befreit hat.
Ich betrachte ihn, weiß, dass ihm bewusst ist, dass ich hier bin.
Er zieht an seiner Zigarette und setzt sich auf, öffnet die Augen, aber richtet seinen Blick auf den rauen Zement unter seinen Füßen.
»Meine allererste Erinnerung ist ein roter Mantel«, sagt er leise. »Er hatte schwarze Knebelknöpfe und hing neben der Tür. Meine Mutter hat ihn vom Haken gerissen, ihn mir angezogen und eilig zugeknöpft. Ich habe gespürt, dass sie Angst hatte. ›N’aie pas peur, petit. Nous partons. Dis au revoir et ne regarde pas en arrière. Nous partons à l’aventure.‹ «
Hab keine Angst, mein Kleiner. Wir gehen fort. Schau dich nicht um. Wir begeben uns auf ein Abenteuer.
»Aber sie hatte eindeutig Angst. Und als es an der Tür geklingelt hat, stand ein Mann davor, den ich noch nie gesehen hatte, und hat mich angelächelt.«
»Beau? Dominics Vater?«
Er nickt und schnippt die Asche von seiner Zigarette. »Er hat gesagt, dass er uns mit nach Amerika nimmt und dass wir dort glücklich sein würden. Er hat uns und die paar Habseligkeiten, die meine Mutter eingepackt hatte, in seinen Wagen verfrachtet, und dann sind wir losgefahren. Das ist alles, woran ich mich von der Flucht aus Frankreich erinnere. Den Mantel, die Angst meiner Mutter, den rothaarigen Fremden und meinen ersten Flug.« Er fährt sich mit einer Hand über den Bartschatten. »Und wir waren hier glücklich, zumindest meistens. Aber meine Mutter hat Frankreich schrecklich vermisst. Sie hat niemanden kontaktiert. Das war der Preis, den sie dafür bezahlt hat, vor meinem Vater zu fliehen. Damals hatte er viele Kontakte, und es war zu riskant. In den folgenden Jahren habe ich sie mehrmals dabei erwischt, wie sie sich weinend alte Bilder angesehen hat. Sie hat um ihre Familie getrauert. Besonders um ihre Mutter. Aber sie hat Beau King geliebt, das war klar. Und er war gut zu mir. Streng, aber gut. Er hat uns gerettet. Sie hat mir immer wieder gesagt, dass er uns gerettet hat. Und ich habe ihr geglaubt. Die einzige Erinnerung, die ich an meinen leiblichen Vater habe, ist die, von der ich dir berichtet habe.«
»Saint-Jean-de-Luz.«
Er nickt erneut und zieht wieder an seiner Zigarette.
Schnee fällt träge aus den Wolken über uns, und ich sitze reglos da aus Angst, den Zauber zu brechen.
»Kurze Zeit später wurde ihr Bauch immer größer, und eines Tages sind sie mit Dominic nach Hause gekommen.« Sein Lächeln ist schwach, aber es ist da. »Zuerst habe ich ihn gehasst. Ich wollte die Aufmerksamkeit meiner Mutter nicht teilen.« Er lächelt verlegen. »Also habe ich ihn in eine Orangenkiste gelegt und ihn nach draußen zum Müll gebracht. Ich habe eine Flasche Milch dazugelegt, damit er nicht verhungert.«
»O mein Gott.« Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken, und er stimmt mit ein.
»Als sie erkannt hat, was ich getan hatte … Na ja, so wütend habe ich sie noch nie erlebt. Sie hat mir den Hintern versohlt, aber sie hat es Papa nie erzählt.« Er schüttelt den Kopf. »Am nächsten Tag hat meine Mutter darauf bestanden, dass ich Dominic halte. Sie hat mich in ihren Schaukelstuhl gesetzt und ihn in meine Arme gelegt.« Er schaut mich an, aber in Gedanken ist er meilenweit entfernt, und ich bin dankbar, ihm lauschen zu dürfen. »Und da hat er mir gehört. Von dem Moment an hat er mir gehört.«
Ich nicke, und eine heiße Träne läuft mir die Wange hinunter.
»In den ersten Jahren war unser Englisch ziemlich schlecht. Wir hatten richtig zu kämpfen, waren auf den Kulturschock nicht vorbereitet gewesen. Ich glaube, Mom hat Amerika für den Wilden Westen gehalten. Sie war komplett paranoid und hat mich nur selten draußen spielen lassen. Sie und Papa haben sich oft deswegen gestritten, und sie hat immer gewonnen. Sie war so starrsinnig.«
»Kommt mir bekannt vor.«
Tobias verdreht die Augen, und ich muss schon wieder lachen.
»Ich habe die Schule gehasst. Du weißt ja, wie grausam Kinder sein können. Sie haben sich über meinen Akzent lustig gemacht und über meine Klamotten. Wenn ich nach Hause gekommen bin, habe ich Dominic mit in mein Zimmer genommen. Dort habe ich ihm Musik vorgespielt, von den alten Kassetten meiner Mutter.«
Dieses Geständnis lässt mein Herz schmerzen. Die Musik. Die Musik seiner Mutter.
Er wirft seine Zigarette weg und schiebt die Hände in die Taschen seines Trenchcoats. Sein dichtes Haar weht ihm in die Stirn. »Er war so ein glückliches Baby. Hat die ganze Zeit gelacht. Eine Weile war er derjenige, der alles wieder gut gemacht hat. Wegen ihm haben wir die ersten Jahre überstanden. Er hat uns so viel Freude bereitet. Und irgendwann ist alles besser geworden. Mom hat mich draußen spielen lassen, und wir haben uns an das neue Leben gewöhnt.« Er seufzt und betrachtet die Packung französischer Zigaretten neben ihm. »Meine Mom ist immer erschöpft aus der Fabrik wiedergekommen, aber sie hat sich nur selten beschwert. Papa dagegen hat immer von dem Chef erzählt, der seine Angestellten ausgenommen hat, und dass sie sich wehren würden. Sie hat ihm immer gesagt, dass er sich raushalten soll. ›Je ne lui fais pas confiance. Il y a quelque chose dans ses yeux. Il est mort à l’intérieur‹.«
Ich traue ihm nicht. Irgendwas liegt in seinen Augen. Als wäre er innerlich tot.
»Da sie nur ein Arbeitsvisum hatten, das Roman ihnen besorgt hatte, hat sie ihn immer wieder angefleht, die Sache auf sich beruhen zu lassen und dankbar zu sein. Aber Papa wollte nicht hören. Er hat angefangen, uns öfter abends allein zu lassen. Ich habe nicht immer alles mitbekommen, aber sie haben sich oft heftig gestritten. An eine Nacht erinnere ich mich gut, denn ausnahmsweise hat Dominic nicht aufgehört zu weinen.«
Ich greife nach seiner Hand, aber er reibt sich den Oberschenkel und weicht meiner Berührung aus.
Ich schlucke den Schmerz der Zurückweisung herunter.
»Meine Eltern haben sich nicht hinter verschlossenen Türen gestritten, deshalb habe ich mich immer zusammen mit Dominic im Schrank im Flur vor ihrem Schlafzimmer versteckt, damit ich meine Mutter im Blick hatte. Papa war nie gewalttätig, aber er war zumindest so aggressiv, dass ich Angst hatte.«
Ich überspiele mein sarkastisches Lachen mit einem Husten.
Er sieht mich scharf an. »Halt die Klappe.«
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
»Er war nicht mein leiblicher Vater.«
»Aber du bist dennoch Beaus Sohn.«
»Das stimmt.« Er steckt sich noch eine Zigarette an und zieht lange daran. »Papa hat danach immer häufiger mit mir geredet. Ich glaube, er hat angefangen, Mom dafür zu hassen, dass sie nicht begriffen hat, dass er etwas Gutes bewirken wollte. Nicht nur für uns, sondern auch für die anderen Leute, die in der Fabrik gearbeitet haben. Er hat mich auf lange Spaziergänge mitgenommen und lange Gespräche mit mir darüber geführt, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Sich um andere zu kümmern. Ich hab mir nicht viel dabei gedacht, sondern einfach angenommen, er wollte mich zu einem guten Sohn erziehen.«
»Meinst du, er wusste, dass er in Gefahr war?«
»Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich, dass er den Glauben daran verloren hatte, sich hier ein gutes Leben aufbauen zu können. Nichts ist so gelaufen, wie er es geplant hatte. Sie waren erschöpft und konnten sich kaum über Wasser halten.« Er zieht an seiner Zigarette. »Und dann haben die Treffen begonnen. Sie haben in unserem Haus stattgefunden, jede zweite Woche des Monats.«
»Dort ist die Bruderschaft gegründet worden?«
Tobias nickt. »Frères du Corbeau.« Brüder des Raben. »Ich habe nicht viel mitbekommen, weil ich erst elf war. Aber eines Abends war mir langweilig, und ich hab mich auf der Treppe versteckt, um zu lauschen. Ein paar von ihnen haben drastische Maßnahmen gefordert. Delphine gehörte dazu. Du weißt ja, dass sie meinen Eltern den Job besorgt hatte.«
Ich nicke.
»Sie war auf Papas Seite. An diesem Abend gab es viel Streit, und meine Mutter hat alle überrascht, indem sie sich zu Wort gemeldet hat. Ich vermute, es war das erste Mal. »C’est la peur qui va nous garder en colère, nous garder confus, nous garder pauvres. Nous devons cesser d’avoir peur des hommes comme eux, des gens qui profitant de nous. Si la peur vous arrête, la porte est grande ouverte. Nous ne pouvons pas compter sur vous.«
Es ist die Angst, die uns wütend, verwirrt und mittellos bleiben lässt. Wir müssen aufhören, uns vor Männern wie ihm zu fürchten, vor den Leuten, die uns ausnutzen. Wenn ihr euch von eurer Angst zurückhalten lasst, dann geht jetzt. Wir können es uns nicht erlauben, euch in unseren Reihen zu haben.
»Mittlerweile weiß ich, dass meine Mutter einst Aktivistin war, genauso wie mein leiblicher Vater. Aber als sie mich bekommen hat, hat sie aufgehört. Ich glaube, Papa war enttäuscht von ihr, und der Grund für ihre Diskussionen war, dass sie sich geweigert hat, an seiner Seite zu kämpfen. Nachdem sie sich nun aber zu Wort gemeldet hatte, war er stolz auf sie. Und nur eine Person ist gegangen. In der Woche darauf sind meine Eltern gestorben, und niemand in der Fabrik hat geredet. Niemand wusste irgendwas darüber, was geschehen war. Aber Delphine hat rausgefunden, dass der Schichtaufseher, der nicht mal auf derselben Etage war, als sie gestorben sind, kurz danach eine Gehaltserhöhung bekommen hat und befördert worden ist.«
»Was Romans Schuld bestätigt.« Der Magen dreht sich mir um.
»Vermutlich. Danach hat uns Delphine bei sich aufgenommen. Dominic hat dauernd geweint.«
Der Schnee rieselt leise auf die Erde und bedeckt den Boden um uns herum.
»Bei ihr sind wir dann bettelarm und in den schlimmsten Verhältnissen aufgewachsen.«
»Das habe ich gesehen.«
Tobias hält inne und schaut mich an. »Ihr Mann war ein richtiges Arschloch und hatte sie ein paar Monate vor dem Tod meiner Eltern verlassen. Sie hat viel getrunken und war manchmal streng, besonders zu Dom, als er angefangen hat, sich danebenzubenehmen. Nicht alles war schlimm, aber es …« Er seufzt. »Na, du hast es ja selbst gesehen.«
Ich nicke und blinzele eine Träne weg.
»Ein paar Wochen, nachdem wir bei Delphine eingezogen waren, hatten wir einen merkwürdigen Besucher.«
»Sean?«
»Ja«, sagt er leise. »Von da an ist er einfach immer wieder vorbeigekommen. Er und Dominic haben sich schnell angefreundet, und ich war oft für die beiden verantwortlich, hab sie zur Schule gebracht und wieder abgeholt.« Tobias schüttelt den Kopf, und ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. »Er war ein richtiger Draufgänger. Seine Haare waren immer durcheinander, immer. Er war schmutzig, ist andauernd auf Bäume geklettert und ist erst nach Hause gegangen, wenn es schon lange dunkel war. Manchmal hat er sich nachts in mein Zimmer geschlichen, und wir drei sind raus in den Wald gegangen. Er hatte vor nichts Angst, dabei war er erst fünf. Fast jeden Morgen hat er sich die Klamotten vom Körper gerissen, die ihm seine Mutter angezogen hatte, und hat sich dasselbe zerfetzte Shirt angezogen. Er hat sich nie an Regeln gehalten, schon damals nicht.«
Wir lächeln uns an.
»Tyler ist kurz danach dazugekommen. Wir hatten nicht viel bei Delphine, aber wir haben uns irgendwie durchgeschlagen. Und die Männer aus der Bruderschaft haben meine Eltern nie vergessen; sie waren unsere Rettung. Sie haben oft was zu essen vorbeigebracht oder auch Kleidung oder Geld mit der Post geschickt – Kleinigkeiten, um uns über die Runden zu helfen. Meine Tante war dankbar und hat begonnen, die Treffen bei sich abzuhalten. Mit der Zeit war ich immer öfter dabei. Delphine war extrem. Ihre Ideen, wie man zurückschlagen könnte, kamen nicht immer gut an, aber dennoch war sie die Anführerin. Zu dem Zeitpunkt gab es nur noch ein paar Leute aus der ursprünglichen Gruppe. Die meisten waren ausgestiegen, weil sie gesehen hatten, was mit meinen Eltern passiert war. Aber ich hab mich mehr und mehr eingebracht, und an meinem fünfzehnten Geburtstag bin ich zum ersten Mal aufgestanden, um etwas zu sagen.«
»Und die anderen haben zugehört.«
Er nickt.
»Kurz bevor ich zur Prep School gegangen bin, habe ich die Treffen schon geleitet und durch Networking mehr Leute an Bord geholt. Sean und Dom haben auch immer mehr mitbekommen. Meine Pläne für die Bruderschaft waren um einiges größer geworden. Die Sommerferien hab ich immer mit Dom und Sean verbracht, die inzwischen aktiv bei den Raben mitgemischt haben. Als ich nach meinem letzten Jahr zurückgekommen bin, hat Dom die Treffen geleitet und die Fraktion im Ort angeführt. Und damals habe ich dich zum ersten Mal gesehen.« Tobias blickt auf und sieht mich an, sieht mich zum ersten Mal richtig an, und ich kann es bis in die Zehenspitzen spüren. Er zieht meine Bibliotheksausgabe der Dornenvögel aus seiner Manteltasche. Das Buch passt mühelos in seine Hand.
Erschrocken reiße ich die Augen auf. »Du warst da, als ich es geklaut habe?«
»Dominic hat quasi in der Bibliothek gewohnt. Es war sein Lieblingsort. Er hat Delphine an den meisten Tagen verabscheut, weil sie furchtbar betrunken war. Also ist er dorthin geflohen, wenn er nicht gerade mit Sean unterwegs war. Ich habe ihn abgeholt und mich ein bisschen umgeschaut, während ich auf ihn gewartet habe. Du standest eine Regalreihe weiter, aber ich habe dir keine große Aufmerksamkeit geschenkt, bis Roman hinter dir aufgetaucht ist. Er hat dir gesagt, dass er dir Bücher kaufen kann und du dir keine ausleihen musst. Du hast die Augen verdreht und ihn leise Langweiler genannt, bevor du das Buch in deinen Hosenbund geschoben hast.«
Erstaunt über diese Offenbarung lasse ich meinen Blick zu dem Buch in seiner Hand wandern.
»In diesem Moment wusste ich, dass du nur ein unschuldiges Kind warst. Du wusstest nicht, wer dein Vater wirklich war und was für krumme Dinger er dreht. Man konnte sehen, dass ihr euch nicht nahestandet. Er hat dich hinausgeschoben, und ich bin euch auf den Parkplatz gefolgt. Du hast so unglücklich ausgesehen, aber trotzdem hattest du ein Lächeln auf den Lippen. Als wärst du glücklich darüber, dass du ein bisschen rebelliert hast, indem du das Buch mitgenommen hast.«
Ich war ganz bestimmt glücklich. Das war der letzte Sommer, den ich bei Roman verbracht habe, bevor wir den Kontakt zueinander abgebrochen haben.
Tobias fährt mit den Fingern über den zerfledderten Einband des Buches. »Du warst nur ein Kind, und ich habe mir an diesem Tag geschworen, dass ich dich aus der Sache raushalten würde. Anschließend habe ich dich immer im Auge behalten, und als du nach jenem Sommer nicht mehr wiedergekommen bist, habe ich angenommen, so würde es bleiben.«
Ich reibe meine Handflächen aneinander. »Das hab ich auch gedacht.«
»Dominic war noch am College, und ich wollte uns Zeit geben, um mehr Leute zusammenzutrommeln, bevor wir irgendwas Ernsthaftes starten. Sean hat damals schon die Werkstatt geführt, die wir mit Doms Anteil der Abfindung gekauft hatten, und hat die Treffen dorthin verlegt. Dom hatte sich seinen Platz gesichert, bevor er ans College gegangen war, und hat dafür gesorgt, dass es alle wussten. Sean hat die Gruppe zusammengehalten, während wir beide weg waren.«
Der Schnee weht immer noch zwischen uns durch die Luft, und ich zittere trotz meiner Jacke.
Tobias steht auf und drückt seine Zigarette aus. »Mit vierundzwanzig habe ich meine erste Million verdient, und zu dem Zeitpunkt, als Dominic seinen Highschool-Abschluss gemacht hat, hatte ich gute Kontakte zu großen Unternehmen. Tyler ist zum Militär gegangen, Sean hat vor Ort alles geregelt. Ich konnte also abwechselnd hier und in Frankreich leben, das Netzwerk stärken und alte Verwandte ausfindig machen, die uns helfen wollten. Als ich fünfundzwanzig geworden bin, waren wir schon eine internationale Bewegung, keine Kleinstadtorganisation mehr. Mit den Jahren sind wir nur noch stärker geworden.«
»Und dann bin ich aufgetaucht.«
Er senkt das Kinn. »Als du wieder aufgetaucht bist, hatten wir Hunderte Mitglieder an unterschiedlichen Orten, und wir wurden jeden Tag mehr. Dom hatte seinen Abschluss von der MIT und hat es sich zur Aufgabe gemacht, zukünftige Geldprobleme auszuschließen, indem er größere Summen von Wirtschaftskriminellen gestohlen hat. Die Namen habe ich ihm geliefert. Gleichzeitig habe ich immer mehr Leute rekrutiert. Bei Roman war es nur eine Frage der Zeit, aber als du hergekommen bist und Sean und Dominic Wind davon bekommen haben, haben sie sich mit dir angefreundet und gedacht, sie hätten dich unter Kontrolle.«
Ich nicke, denn diesen Teil der Geschichte kenne ich.
»Du weißt ja, dass ich meinen leiblichen Vater gesucht habe, weshalb ich in Frankreich war und nicht viel mitbekommen habe.«
Wieder nicke ich.
»Als ich ihn gefunden habe, war er schon nicht mehr ganz bei sich. Ich werde also nie erfahren, wer er wirklich war.«
»Das tut mir leid.«
»Schon gut.« Er senkt den Blick, was mir verrät, dass nichts gut ist. »Ich konnte ihn aber so, wie ich ihn vorgefunden habe, auch nicht allein lassen.«
»Du hast das Richtige getan.«
»Wirklich?« Er schluckt. »Ich weiß nicht recht. So, wie meine Mutter über ihn geredet hat …« Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß auch nicht.«
»Man kümmert sich um ihn, das ist das Wichtigste.«
Tobias fährt sich mit den Zähnen über die Lippe und betrachtet mich. »Als ich rausgefunden habe, was hier vor sich geht, dass sie dich versteckt haben, bin ich nach Hause geflogen, um ihnen die Leviten zu lesen. Aber verdammt …« Er streicht sich mit einer Hand durch die Haare, und ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht zu berühren. Er lässt seinen schuldbewussten Blick über mich wandern, ehe er ihn abwendet. »Als ich sie bestraft habe, ging es nicht nur um dich. Ich musste sie daran erinnern, warum wir mit der ganzen Sache begonnen hatten, also habe ich sie nach Frankreich zu einem der Partner geschickt, denen ich vertraue. Er hat dafür gesorgt, dass sie das Ziel nicht aus den Augen verlieren, und hat ihnen alles gezeigt, was ich aufgebaut habe. Ich hatte gerade wieder die Führung übernommen, als wir beide unseren Deal ausgehandelt haben.«
Tobias seufzt, legt das Buch auf den Stuhl und die Hände zwischen seinen Oberschenkeln zusammen. »Ich habe verstanden, dass du dich um deine Mutter kümmern musstest, Cecelia. Und du hattest schon genug durchgemacht. Es gab einen guten Grund dafür, dass du nie Teil der Raben werden solltest.«
»Das sagst du immer wieder, aber dann ist es anders gekommen.«
»Ja, weil ich mir erlaubt habe, mich in dir zu verlieren, so wie sie es getan hatten.«
Ich beiße mir auf die Lippe, und meine Augen brennen.
»Ich wollte dich unbedingt vor allem beschützen, weil du so unschuldig warst. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, warst du ein Kind und hattest keine Ahnung, was dein Vater treibt. Und so habe ich dich immer in Erinnerung behalten, bis zu dem Tag, an dem ich dich am Pool gesehen habe.«
Alles hat sich in der Minute verändert, als unsere Leben miteinander kollidiert sind.
Er hält seinen Blick nach unten gerichtet und blinzelt, als sich ein wenig Schnee in seinen dichten Wimpern fängt. »Noch nie hat mir jemand so große Angst eingejagt wie du. Du hattest dich von einem trotzigen Kind in die schönste, lebendigste und größte Versuchung verwandelt, der ich je begegnet bin. Ich war so wütend, dass sie dich entdeckt und dich vor mir versteckt hatten. Ich war vollkommen perplex, als ich zum Pool gekommen bin und von dir zur Rede gestellt wurde.« Er schüttelt den Kopf. »Aber es hat sich wie ein Schlag in die Magengrube angefühlt zu wissen …«
»Zu wissen, dass ich mit ihnen zusammen war.«
Er nickt ernst, und seine Stimme wird mit jedem Wort bitterer. »Ich habe mich von dir ferngehalten, aber dich beobachtet. Dass zwischen uns etwas passiert, war nie meine Absicht. Doch als du mit der Kette um den Hals zur Lichtung gekommen bist und ihre Namen gerufen hast, bin ich wieder wütend geworden. Hauptsächlich, weil ich dich jahrelang vor uns beschützt hatte und du ahnungslos in eine Falle getappt bist, die nie hätte gelegt werden dürfen. Sean dachte, er würde das Richtige tun, indem er dich in die Gruppe einführt. Dominic war so hardcore, dass ihm – zumindest am Anfang – scheißegal war, ob dir was passieren würde.«
»Sie haben mich gewarnt. Sie haben es wirklich versucht, aber ich wollte nicht auf sie hören«, gebe ich zu.
»Ich wusste, dass du damals noch nicht bereit warst«, flüstert er aufgebracht. »Obwohl du behauptet hast, du wüsstest, worauf du dich einlässt, stimmte das nicht. Ich habe gesehen, dass du das Ausmaß des Ganzen erst begriffen hast, als Dominic in deinen Armen gestorben ist. Ich weiß auch nicht …« Er stößt die Luft aus. »Vielleicht habe ich dir nicht genug zugetraut, aber ich wollte dir Leid ersparen. Aber dann …« Seine Stimme klingt brüchig vor Reue. »Du solltest keine Soldatin in dem Krieg werden, den ich angezettelt habe.«
»Sie haben mich dazu gemacht. Und wie sollte ich denn nicht kämpfen, wo ich dich zum Gegner hatte?«
Wir lächeln uns traurig an.
»Bitte erzähl mir, was in der Nacht damals passiert ist.«
Seine Miene verdunkelt sich, und er senkt wieder den Blick.
»An dem Nachmittag habe ich den Hinweis bekommen, dass Andre und Matteo auf Roman angesetzt worden waren.« Er schaut mich an. »Der Hinweis kam von deinem Vater selbst.«