Eine Woche ist vergangen, eine weitere einsame Woche, in der ich über die Hügel und durch die Täler gefahren bin, mit Dominic an seinem Grab gesprochen und mich durch alte Erinnerungen gekämpft habe. Jeden Tag komme ich an der Werkstatt vorbei, aber ich halte nie an. Da die Übergangsphase so gut wie beendet ist und Tobias überraschend gut kooperiert hat, weiß ich, dass meine Zeit hier fast zu Ende ist. Eigentlich bin ich hergekommen, um mit der Vergangenheit abzuschließen, aber nach allem, was passiert ist, nachdem ich erfahren habe, wie viel er für mich getan hat, wie er wirklich für mich empfunden hat und noch immer empfindet, kann ich nicht einfach fortgehen und alles vergessen. Er hat seine Entscheidung jedoch getroffen und hält mich weiterhin auf Abstand.
Doch mein armseliges Herz weigert sich zu vergessen, wie zerrissen er an dem Abend war, als er mich nach Hause gefahren hat. Seine Worte, die Art, wie er mich berührt hat. Er wollte mich berühren. Er hat Dinge zu mir gesagt, von denen ich bisher nur geträumt hatte.
Er liebt mich immer noch, aber will sich seine Gefühle nicht eingestehen.
Schuld. Schuld treibt einen Keil zwischen uns, nachdem es Fehler waren, die uns zusammengeführt haben.
Er will mich immer noch, trotz dieser Fehler, trotz unserer Vergangenheit. Trotz der schönen Frau, die in seinem Bett wartet.
Dennoch ist er mit ihr zusammen. Sie ist auch jetzt bei ihm, als er durch die Tür des Restaurants kommt.
Erschrocken über ihr plötzliches Auftauchen lasse ich mich auf meinem Stuhl zurücksinken, halte mein Buch höher und schaue nur vorsichtig über den Rand hinweg, als die Kellnerin mir ein neues Glas Wein bringt. Ich sende ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Kellnerin die beiden so weit entfernt von mir wie möglich platziert. Aber ich kann nicht wegsehen, als Alicia ihn über die Schulter anlächelt und er ihr die Jacke abstreift.
Es ist die Hölle auf Erden, den beiden zuzusehen, wie sie sich wie ein normales Paar benehmen. Ich hebe mein Glas und leere es halb, um die rasende Eifersucht zu bekämpfen, die sich in mir rührt.
Obwohl wir fast einen Monat im gleichen Haus gewohnt haben, hatten wir nie den Luxus, uns in der Öffentlichkeit zu zeigen. Als wir unsere Feindseligkeit vergessen und uns auf den anderen eingelassen hatten, habe ich die erfüllendsten Wochen meines Lebens erlebt. Doch heute Abend macht er seine Entscheidung wieder einmal deutlich, indem er sie zum Dinner hierher ausführt. Der Appetit ist mir vergangen.
Ich bedanke mich bei der Kellnerin, als sie mir meine Pasta serviert, und fluche leise, als sie zu der Sitznische neben mir geführt werden. Tobias sitzt mit dem Rücken zu mir, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis Alicia mich sieht, bis sie sieht, dass ich allein an einem Tisch für zwei sitze, gleich neben dem Fenster zur Straße hin. Ich blättere in dem Buch, das ich nicht mehr lese, und schiebe mir einen Bissen in den Mund. Auch wenn das Essen fad schmeckt, zwinge ich mich zu kauen und zu schlucken.
Alicia lächelt Tobias strahlend an, und in meiner Kehle bildet sich ein Klumpen.
Fuck.
Ich hebe die Hand, um bei der Kellnerin die Rechnung zu bestellen, stoße dabei jedoch versehentlich meinen Wein um. Er ergießt sich auf den Teppich, und obwohl ich froh bin, dass es nicht klirrt, fällt Alicias Blick in dem Moment auf mich, als ich Anstalten mache aufzustehen. Ich greife nach der Serviette, um den Teppich abzutupfen. Doch es ist nicht meine Serviette, sondern die Tischdecke, und mit einem Mal ist nicht nur der Wein auf dem Boden, sondern auch mein Essen. Auf dem Boden hockend sehe ich aus dem Augenwinkel das Flackern der Kerze, die die Tischdecke eine Sekunde später in Flammen aufgehen lässt.
Ich höre den ängstlichen Schrei einer Frau zu meiner Linken, doch schnell gieße ich mein Wasser über das Feuer, das zum Glück sofort erlischt. Leider hat auch mein Buch bereits Feuer gefangen. Ehe ich es mit der Tischdecke ersticken kann, werde ich aus dem Weg gestoßen, und jemand anderes kümmert sich darum. Ein würziger Zitrusduft weht durch die Luft, und wieder verfluche ich mein Schicksal. Und mich selbst, weil ich offenbar nicht in der Lage bin, einen unauffälligen Abgang hinzulegen.
Ich kann ihn nicht ansehen. Ich will ihn nicht ansehen.
»Danke.«
Sein tiefes Lachen erklingt, erfüllt die Luft zwischen uns. »Mit elf warst du geschickter.«
»Eindeutig.«
Er hebt das halb verbrannte und halb nasse Buch auf.
Mit schmerzender Brust betrachte ich es, denn nun ist es nur noch ein weiterer zerstörter Teil meiner Vergangenheit – unserer Vergangenheit. Tränen steigen mir in die Augen, doch ich blinzele sie weg und greife nach meiner Tasche.
»Es ist doch nur ein Buch, Cecelia.«
Nein, es ist der letzte Teil von mir, der sich an einer Hoffnung festgeklammert hat. Es ist mehr als nur ein Buch, und das weiß er.
Endlich schaue ich zu ihm auf, und in unseren Blicken treffen Feuer und Wasser aufeinander. Ich denke an die Tage zurück, die wir im Haus seines Feindes verbracht haben. An die Stunden, in denen wir uns unterhalten haben, gelacht, gevögelt und uns geliebt haben und er mir Dinge zugeflüstert hat, die mir die Luft zum Atmen geraubt haben. »Genau, es ist nichts , richtig?«
»O mein Gott, alles in Ordnung?« Die Kellnerin drängt sich zwischen uns und bückt sich, um das Geschirr vom Boden aufzusammeln.
»Es tut mir so leid«, sage ich leise und schaue Tobias an. Meine Worte sind an ihn gerichtet, und er hört aufmerksam zu. »J’espère que je pourrais …« Ich wünschte, ich könnte …
»Könntest was?«, fragt Tobias leise.
Seine Worte legen sich um mein Herz, und die Sanftheit in seinem Blick raubt mir den Atem.
Ich weiß, dass Alicia uns beobachtet, aber ich weigere mich, meinen Blick von ihm zu lösen.
Die Kellnerin steht wieder auf. »Ich decke Ihren Tisch neu ein und bringe Ihnen das Gericht noch mal.« Sie lacht leise. »Sorry, das Buch kann ich nicht ersetzen.«
»Das ist nicht nötig. Und um ehrlich zu sein, war die Verfilmung sowieso besser«, scherze ich in einem schlechten Versuch, meinen Schmerz zu überspielen, aber das Zittern in meiner Stimme verrät mich. »Und ich wollte gerade gehen.«
Sie schaut Tobias an, und ihre Augen weiten sich anerkennend.
Er ist schön, nicht wahr? Er ist mein Dorn, und mit ihm habe ich das schönste Lied gesungen.
»Und ich habe ihn verloren«, beende ich laut meinen Gedankengang.
In den darauffolgenden Sekunden öffnet er sich mir voll und ganz. In seinem Blick liegen Sehnsucht und das Wissen um unsere gemeinsame Vergangenheit. Er erinnert sich. Er erinnert sich an uns. Er weiß noch alles.
»Pourquoi la vie est-elle si cruelle?« Warum ist das Leben so grausam? Diese Frage stelle ich ihm mit trübem Blick.
»Ist das Französisch?«, fragt die ahnungslose Kellnerin, die immer noch vergeblich versucht, alles wieder aufzuräumen. »Das klingt wunderschön.«
»Wie viel bin ich schuldig? Denn ich glaube nicht, dass ich noch viel mehr bezahlen kann.« Die Worte sind an den Mann gerichtet, der vor mir steht.
»Nichts, Schätzchen. Ich kümmere mich drum. Sie haben ja nicht mal was gegessen.«
Tobias schluckt, und in seinen Augen zeichnen sich widersprüchliche Emotionen ab.
Ich öffne meine Handtasche und lege Geld auf den neu gedeckten Tisch, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
»Ich hole schnell Wechselgeld«, verkündet die Kellnerin, nimmt die Scheine vom Tisch und blickt zwischen uns hin und her. Ihr Gesicht wird mit einem Mal ernst.
Ich schüttele den Kopf. »Behalten Sie den Rest.«
Sie bedankt sich und geht eilig weg.
Mehrere Sekunden starren wir uns an, sehen einander zum ersten Mal richtig, nicht durch jenen Nebel aus Schmerz.
»Vielleicht hätte ich nicht herkommen sollen, aber ich wollte einfach sehen …« Tränen laufen mir die Wange hinab. Kopfschüttelnd schaue ich auf das Buch und lege seine Finger darum. Durch die Tränen stoße ich ein ironisches Lachen aus. »Je suppose que je serai toujours la fille qui pleure à la lune.« Ich werde wohl wie Meggie immer das Mädchen sein, das um den Mond weint.
Ich lasse Tobias mit dem Buch in der Hand an meinem leeren Tisch stehen und eile hinaus in den kalten Wind.