Ich fahre vor dem Haus meiner Mutter vor, einer Villa am See mit drei Schlafzimmern. Sie ist nicht protzig, aber der Garten erinnert mich sehr an den meines Vaters. Ich gehe um das Gebäude herum, folge der Musik, die aus einem Lautsprecher im Freien kommt. Ich finde sie im Mantel neben einem kahlen Strauch auf einer Bank vor, mit einem Glas Wein auf dem Tischchen vor sich. Timothy beugt sich zu ihr runter, sie flüstern miteinander, und er drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe.
Als er mich über ihre Schulter hinweg entdeckt, ist seine Begrüßung genauso warm wie sein Lächeln. »Hallo, Cecelia. Hab nicht damit gerechnet, dich heute zu sehen.«
Meine Mutter springt von ihrem Stuhl auf und wendet sich mir mit einem Lächeln auf den Lippen zu. »Hallo, Schatz. Ich hab gerade gedacht, dass ich dich anrufen muss.«
»Schön, dass du in Redelaune bist.«
Ihr Lächeln schwindet, als sie meine Miene sieht.
Ich ziehe den Brief aus meiner Handtasche.
»Was ist los?«
Timothy steht da und beobachtet uns beide. Ich gehe auf meine Mutter zu.
Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Brief, erbleicht und dreht sich zu Timothy um. »Gib uns einen Moment, ja?«
Timothy nickt und schaut mich an; er scheint zu spüren, dass etwas im Busch ist. »Bleibst du zum Dinner? Ich wollte gleich ein paar Steaks braten.«
»Nein, ich muss zurück, danke.«
Die Atmosphäre ist mehr als angespannt.
Als Timothy geht, nimmt sich meine Mutter eine Zigarette, zündet sie an und betrachtet mich eingehend. »Mein Brief?« Sie stößt den Rauch aus und zieht sich ihren Mantel enger um den Körper. Dann hebt sie die Weinflasche, um mir etwas davon anzubieten, aber ich schüttele den Kopf.
»Ich bin nicht hier, um mich nett zu unterhalten.«
»Das ist mir bewusst.« Sie schluckt. »Gib mir eine Sekunde.«
»Um dir mehr Lügen auszudenken?«
Sie senkt den Blick und hebt das Glas an ihre Lippen, nimmt einen großen Schluck.
»Warum hast du mir immer gesagt, es wäre sicherer für mich, keinen Kontakt mit meinem Vater zu haben?«
»Dein Vater war der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Ich bin mir sicher, dass es keine einzige Frau in der Fabrik gab, die nicht von ihm geträumt hat. Und ich war eine von ihnen.«
»Beantworte meine Frage.«
Sie sieht mich von der Seite an. »Willst du die ganze Wahrheit oder eine schnelle Antwort?«, fragt sie bissig.
»Wie konntest du nur? Wie konntest du mich glauben lassen, dass er nichts von mir wissen wollte? Wie konnte er das zulassen?«
»Weil es so sicherer war.«
»Und du glaubst, er hat dich geliebt?«
»Das weiß ich sogar. Genauso wie er dich geliebt hat.«
»Er hat uns in all den Jahren nicht beachtet. Er hat dich angesehen, als wärst du nichts, und hat dich fürchterlich behandelt. Das nennst du Liebe?«
»Ich nenne es Buße. Setz dich, Cecelia.«
Ich gehe zu ihr. Scham blitzt in ihren Augen auf, stumm fleht sie mich an, ihr zuzuhören.
Ich setze mich auf einen der beiden Stühle, die der Bank gegenüber an dem kleinen Gartentisch stehen, und greife nach ihrem Wein.
»Na schön. Sprich. Und ich schwöre es dir, Mom, wenn du irgendwas auslässt, wird das unsere letzte Unterhaltung sein.«
Ihr schwaches, gequältes Lächeln entgeht mir nicht. »In gewisser Weise bist du genauso wie er. Aber im Gegensatz zu ihm bist du schlecht darin, deine Gefühle zu verbergen. Du hast ein großes Herz, verschenkst vorbehaltlos deine Liebe, ganz egal, wie weh es tut. Und ich stelle mir gern vor, dass du das von mir hast.«
»Ich bin kein bisschen wie du.«
»Doch, Schatz, das bist du. Du liebst blind. Schon als du klein warst, wusste ich, dass du mein Herz geerbt hast, und es gab keinen Weg, dich davon abzuhalten, so zu lieben, wie es in deiner Natur liegt. Ich konnte nicht verhindern, dass dir das Herz wieder und wieder gebrochen wurde. Glaubst du, ich habe die Veränderung in dir nicht bemerkt?«
»Stell es bloß nicht so dar, als wärst du mir in den letzten sieben Jahren eine Mutter gewesen.«
»Den Tadel hab ich verdient. Und noch viel mehr. Aber es war dein Vater, der mich vor diesem Schicksal bewahrt hat.«
»Inwiefern?«
Sie drückt ihre Zigarette aus und wendet sich mir zu. »Er war ein Arschloch. Knallhart, geradlinig, machtgeil, geldgierig und so gut wie nicht zu durchschauen. Zuerst dachte ich, ich sei nur ein Spielzeug für ihn. Und das hat er mich eine Weile auch glauben lassen. Er war zu sehr darauf fokussiert, ein Imperium aufzubauen, als dass er sich Sorgen um eine Neunzehnjährige hätte machen können, die keine andere Zukunft als die verdammte Fabrik hatte. Ich wusste, dass es dumm war. Ich wusste, dass es leichtsinnig war, ihn so tief zu lieben, und er hat mich tatsächlich oft beinahe in den Wahnsinn getrieben. Aber dann hat sich eines Tages alles verändert. Es war, als hätte er sich selbst die Erlaubnis erteilt, mich zu lieben. Wir haben unsere Beziehung erfolgreich geheim gehalten. Deine Großmutter hat nichts geahnt. Es war schwer. Nur einer Person habe ich mich anvertraut, während wir zusammen waren. Einer wunderschönen Französin namens Delphine.«
Fast lasse ich das Glas fallen, aber irgendwie schaffe ich es, es an meine Lippen zu führen und einen großen Schluck zu nehmen.
»Wir haben uns angefreundet, weil sie auch nicht glücklich war. Ein paar Jahre zuvor war sie für einen Mann aus Frankreich weggezogen und hat ihn geheiratet. Aber als sie zum ersten Mal mit blauen Flecken bei der Arbeit erschienen ist … wusste ich einfach, dass sie jemanden brauchte, dem sie sich anvertrauen konnte. Und ich ja auch. Dein Vater war so ein Geheimniskrämer, er hat es mir wirklich schwer gemacht, ihn zu lieben. Es war, als würden wir beide die Erlaubnis brauchen, diese Männer zu lieben, und hätten sie uns gegenseitig erteilt. So falsch es auch war, wir waren beide das Opfer unserer naiven Herzen. Und so sind wir Freundinnen geworden.« Sie schluckt und nimmt sich noch eine Zigarette aus der Packung.
»Sie war die Einzige, die es wusste?«
Mom nickt und nimmt mir das Glas ab.
»In der Nacht … der Nacht des Feuers hatte ich einen fürchterlichen Streit mit Roman. Es ging um … dich. Er wollte dich nicht behalten, und ich wollte mich nicht von ihm zwingen lassen abzutreiben.«
»Dann wollte er mich also wirklich nie. Überraschung.«
»Es ist nicht so, wie du denkst. Es hatte nichts damit zu tun, dass er kein Vater sein wollte.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Cecelia, du bist hergekommen, weil du eine Erklärung willst. Also lass mich reden.«
»Schon gut.«
»Wir waren so verliebt, als wir dich gezeugt haben. So sehr, dass ich gedacht habe … Ich dachte, er würde mir vielleicht einen Heiratsantrag machen. Aber dann ist alles so schnell gegangen. In einem Moment war ich sein Spielzeug, im nächsten hat er mir den Eindruck vermittelt, besessen von mir zu sein. So gut hab ich mich nie wieder in meinem Leben gefühlt, abgesehen von dem Tag, als die Ärztin dich in meine Arme gelegt hat.«
Sie schnippt die Asche von ihrer Zigarette, und ich schaue auf den See hinaus.
»Der Streit, den wir hatten, war fürchterlich. Dein Vater hat sich aufgeführt wie ein Monster, und ich habe all meine Gründe, ihn zu lieben, hinterfragt. Ich konnte nicht glauben, wie heuchlerisch er war.« Sie schluckt, und Tränen steigen ihr in die Augen. »Jedenfalls war ich unaufmerksam und so aufgebracht, dass ich nichts und niemanden um mich herum wahrgenommen habe. Ich fand den Gedanken, dass er nicht mit mir zusammen sein wollte, wenn ich dich zur Welt bringen würde, unerträglich. Ich war so verliebt in ihn, dass ich tatsächlich eine Abtreibung in Erwägung gezogen habe, Cecelia. Nur ganz kurz, aber dennoch. Und ich habe mich dafür gehasst.«
Ich schweige getroffen.
»Liebe kann einen dazu bringen, Fehler zu machen.« Sie trinkt einen Schluck Wein. »An dem Abend habe ich mit ein paar anderen Technikern gearbeitet, die aber gerade in der Pause waren. Ich war einfach … Ich war nicht ganz bei mir. Als mir der Fehler also unterlaufen ist, habe ich versucht, mich zusammenzureißen und das Richtige zu tun. Laut Sicherheitsprotokoll sollte das Gebäude evakuiert und die Tür abgeschlossen werden, um die Gefahrenquelle abzuschirmen. Ich bin also rausgegangen und habe das Protokoll befolgt. Doch ich habe nicht gewusst, dass ich nicht allein im Labor gewesen war. Und als …« Sie schaut mich an. »Ich habe sie nicht gesehen. Ich dachte, ich wäre allein. In dem Moment, in dem sie an der Tür erschienen sind, gab es eine Explosion. Es war zu spät. Ich kann sie immer noch sehen, wie sie schreien und gegen die Tür hämmern, eine Sekunde vor dem Knall. Ich kann immer noch ihr panisches Kreischen hören. Ich hab es mitansehen müssen.«
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie Tobias’ und Dominics Eltern um ihr Leben flehen und meine Mutter panisch auf der anderen Seite der Tür steht.
»Ich habe sofort deinen Vater angerufen. Er hat mich weggeschickt, denn er wollte nicht, dass ich die Schuld auf mich nehme. Ich war fast im dritten Monat.«
»Aber es war ein Unfall, warum konntest du nicht alles gestehen?«
»Zuerst dachte ich, es wäre eine reflexartige Reaktion, um mich zu schützen, aber er hatte ganz andere Gründe. Er hat sich um alles gekümmert, alles von mir ferngehalten. Und er ist ein Mann, den man nicht infrage stellt. Monatelang habe ich mich gefragt, was er sich dabei gedacht hat … bis du zur Welt gekommen bist.« Sie zieht an ihrer Zigarette. »Nach der Beerdigung der beiden habe ich auf Romans Geheiß aufgehört, in der Fabrik zu arbeiten. Aber als ich Delphine auf der anderen Seite der Särge gesehen habe, ist mir klar gewesen, dass sie es wusste. Sie hat mich auf diese ganz bestimmte Art angeschaut. Sie war außer sich vor Wut, da sie in den Verlauf der Ermittlungen nicht eingeweiht wurde. Als sie mich dazu ausgefragt hat, habe ich mich verschlossen, und schließlich hat sie ganz aufgehört, mit mir zu reden. Ich habe so getan, als wüsste ich von nichts. Roman und ich haben versucht, unsere Beziehung weiterzuführen, aber das war der Anfang vom Ende. Er hat mir ein Apartment besorgt, damit ich bei meiner Mutter ausziehen konnte. Ich dachte, er wollte einen Ort haben, an dem wir zusammen sein könnten, aber er hat sich mehr und mehr zurückgezogen. Nach dem Unfall war es zwischen uns nie wieder so wie zuvor. Doch durch dich waren wir immer miteinander verbunden. Manchmal hat er mich angeschaut – und meinen Bauch – , und ich konnte sehen, dass er mehr sein wollte, uns beiden mehr bedeuten wollte. Manchmal habe ich alte Gefühle in ihm aufblitzen sehen, doch abgesehen von gelegentlichen Besuchen hatte er die Beziehung da schon beendet.«
»Weil er sich schuldig gefühlt hat?«
»Mit Sicherheit. Er hat das meiste abgekriegt. Das Geheimnis hätte alles, wofür er gearbeitet hat, ruinieren können.«
»Aber wenn du es einfach zugegeben hättest …«
»Das Risiko wollte er nicht eingehen.«
»Ich verstehe nicht, warum.«
»Weil er nicht wollte, dass irgendjemand von unserer Beziehung erfährt.«
»Dann warst du also sein schmutziges kleines Geheimnis?«
»Nein, Schatz, du und ich waren seine Achillesferse. Ich wusste, dass er ein kalter Mann war. Ich wusste, dass er große Pläne hatte, was sein Unternehmen betraf, aber ich wusste nicht, dass es Leute gab, die ihn beobachteten. Er hatte sich alte Geschäftspartner zum Feind gemacht, und er wollte nicht, dass sie von uns wussten. Eines Abends, drei Monate nach deiner Geburt, hat dich dein Vater zum ersten Mal besucht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer es war, dich allein zur Welt zu bringen, in dem Wissen, dass er nichts mit uns zu tun haben wollte, dass er nicht dabei sein wollte. Er hat meine Anrufe ignoriert und mein Flehen, uns zu besuchen. Dafür habe ich ihn gehasst, aber du warst mein Trost. Du standest für all das Schöne, das wir erlebt haben, bevor unsere Beziehung in die Brüche gegangen ist. Am Tag, an dem du drei Monate alt geworden bist, bin ich neben deinem Bett im Schaukelstuhl eingeschlafen.« Ihr Blick verklärt sich, und sie klingt, als könne sie alles ganz klar vor ihrem inneren Auge sehen. »Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht und habe gesehen, wie Roman neben deinem Bett stand und dich angeschaut hat. Seine Augen waren voller Liebe. Für ihn war es genauso wie für mich an dem Tag, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, daran habe ich keinen Zweifel. Für uns beide war es Liebe auf den ersten Blick. Ich bin aufgestanden und zu ihm gegangen, und zum ersten Mal seit dem Brand hat er sich mir wirklich geöffnet. Der Moment war wunderschön, und ich werde ihn nie vergessen. Er hat dich so voller Ehrfurcht angesehen, Cecelia, mit der Liebe eines Vaters. Aber als er dich aus dem Bettchen heben wollte, ist er plötzlich blass geworden.« Sie schaut mich an und schluckt. »Als er die Decke zurückgezogen hat, um dich zum ersten Mal in seinen Armen zu halten, lag neben dir eine geladene Pistole.«
»Eine Drohung?«
»Seine Feinde wollten Rache.« Sie schaut kurz auf den See hinaus und dann wieder zu mir. »Ich bin vollkommen ausgerastet, als ich die Waffe gesehen habe, und habe dich von Kopf bis Fuß untersucht. So große Angst hatte ich noch nie in meinem Leben gehabt. In dem Moment wusste ich, dass er sich nur von mir fernhält, um uns beide zu schützen. Er wollte dich nicht, weil er wusste, dass du eine Zielscheibe darstellen würdest. Mit einem Mal ist mir klar geworden, wie viel er mir verheimlicht hatte. So vorsichtig er auch war, ich wusste sofort, wer hinter der Drohung steckte.«
»Delphine.«
Mom nickt. »Ich hatte ihre Familie getötet, weil ich unaufmerksam gewesen war. Aber mir wäre im Traum nicht in den Sinn gekommen, dass sie zu so etwas fähig sein würde. Ich habe immer geglaubt, sie wäre wütend, weil ich mit Roman zusammen war. Ich habe ihm alles erzählt, und er war außer sich vor Wut.« Sie atmet tief durch, um sich zu beruhigen. »In dieser Nacht hat er dich zum ersten Mal in den Armen gehalten. Stundenlang. Irgendwann hat er zu mir aufgeschaut und mir ohne Umschweife gesagt, dass es zwischen uns vorbei ist und dass er uns nicht in seiner Nähe haben will. Ich wollte mich dagegen wehren, aber mit der Waffe in deinem Bett hatte er ein gutes Argument, das mich schließlich überzeugt hat. Also haben wir uns darauf geeinigt, dass ich einen Vaterschaftstest anfordere und gerichtlich gegen ihn vorgehe, um finanzielle Unterstützung von ihm zu bekommen. Er meinte, es würde überzeugender aussehen, wenn er sich erst nach einem richterlichen Beschluss um dich kümmern würde. Da man ohnehin schon von unserer Beziehung wusste, sollte es überzeugend wirken. Er hat den besten Anwalt engagiert, damit er so wenig Geld abtreten musste wie möglich.«
»Und du warst einverstanden?«
»Jemand hatte meinem Baby eine geladene Waffe neben den Kopf gelegt. Natürlich war ich einverstanden. Ich habe zugelassen, dass er mir das Herz bricht, dass er uns behandelt, als wären wir sein schmutziges kleines Geheimnis. Ich habe ihn losgelassen und alle Verbindungen zu ihm abgebrochen, weil es gefährlich war, einen Mann wie ihn zu lieben. Und für ihn war es gefährlich, uns in seinem Leben zu haben. Das war unsere Abmachung.«
»Dann bist du deshalb mit mir hierhergezogen und hast nie wieder mit ihm gesprochen?«
»Drei Jahre lang habe ich nichts von ihm gehört. Kein einziges Wort. Und jedes Gespräch, das wir danach geführt haben, handelte von dir und wann du ihn besuchst. Roman hat immer darauf geachtet, so abweisend und gemein zu sein wie nur möglich. Er war paranoid. Er hat mich nicht mal angesehen, als ich dich zum ersten Mal bei ihm abgesetzt habe.«
»Deshalb hat er mich während der ersten Sommer bei ihm auch ins Feriencamp geschickt?«
Sie nickt. »Er hat Männer engagiert, die uns rund um die Uhr bewacht haben. Wir standen immer unter seinem Schutz. Erinnerst du dich noch an Jason?«
Ich nicke. Einer der Männer, mit dem meine Mutter in einer längeren Beziehung war. »Er war einer von ihnen?«
Wieder nickt sie. »Es ist einfach irgendwie passiert.«
»Wie praktisch.«
»Das war es wirklich. Ich habe mich sicherer gefühlt, wenn er in meiner Nähe war. Aber zuerst hatte ich andere Gründe, etwas mit ihm anzufangen.«
»Du wolltest eine Reaktion provozieren.«
Mom nickt. »Doch die habe ich nie bekommen.« Sie runzelt die Stirn. »In dem letzten Sommer, den du bei ihm verbracht hast, muss irgendwas passiert sein. Ich vermute, er hat eine weitere Drohung erhalten. Irgendwas ist vorgefallen, und er hat sich geweigert, dich noch mal zu sich zu nehmen. Bis du erwachsen warst. Und selbst da hat er es aufgezogen wie eine geschäftliche Vereinbarung.«
»Deshalb hat er mir eine E-Mail geschickt?«
Sie nickt. »Eine digitale Spur, die alle, die es interessierte, sehen konnten.«
»Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Weil ich dich schützen wollte.«
»Warum bist du nach all den Jahren zu ihm zurückgekehrt?«
»Weil ich ihn neunzehn Jahre lang geliebt habe und mich nach ihm verzehrt habe. Neunzehn Jahre lang habe ich für meinen Fehler bezahlt, und ich musste es einfach wissen. Ich musste wissen, ob er meine Gefühle in irgendeiner Form erwidert. Er hat mich eiskalt abgewiesen, als ich bei ihm aufgekreuzt bin, aber bei deiner Abschlussfeier ein paar Monate später habe ich ihn erwischt, wie er mich angesehen hat. Timothy war an meiner Seite und hat meine Hand gehalten, aber Roman hat mich auf eine Art angeschaut, die mir gezeigt hat, dass ich mit meinen Gefühlen nicht allein war. Da war ein Band zwischen uns, der Mann, in den ich mich verliebt hatte, war noch da. Das wusste ich. Ich wusste es einfach. Eine Frau spürt so etwas. Und als er mich so angesehen hat … Das hat mich vollkommen niedergeschmettert. Aber es war alles, was er mir noch zu geben hatte. Nur diese paar Sekunden in einem überfüllten Stadion.«
»Verdammt, Mom.«
»Ich habe jeden Tag an seinen Blick gedacht. Ich denke immer noch jeden Tag an ihn . War er ein guter Mensch? Nein. Aber er ist der Mann, den ich bis zu meinem Tod lieben werde.«
»Und das findest du fair gegenüber Timothy?«
»Ich war keinem Mann gegenüber fair, und manchmal fressen mich die Schuldgefühle auf, aber was soll ich denn tun? Timothy hat auch seine erste Frau verloren, und ich weiß, dass er manchmal die gleichen Schuldgefühle hat wie ich. Er und ich, wir haben Frieden damit geschlossen, dass wir nicht mit der Person zusammenleben, auf die wir gehofft haben. Und wir sind glücklich.« Sie wendet sich mir zu. »Wir sind wirklich zufrieden.«
»Zufriedenheit ist keine Liebe.«
»Es ist unsere eigene Version davon. Ich glaube nicht, dass Roman mich glücklich gemacht hätte. Im Grunde weiß ich das sogar ganz sicher. Was meine Gefühle für ihn nicht abschwächt.«
»Das ist …«
»Roman hat dich geliebt, Cecelia, wirklich. Aber es war schwer, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Unmöglich beinahe. Was uns auseinandergebracht hat, war nicht nur mein Fehler, sondern auch seiner. Er wollte die Welt erobern. Er war unersättlich, und sein Ehrgeiz hat ihm Feinde gemacht und ihn seine Familie gekostet. All sein Reichtum konnte ihm nicht genug Schutz geben, denn er hatte schon zu viel Schaden angerichtet.«
Ich stelle ihr Weinglas ab und erhebe mich. »Du hast recht, Mom. Ich habe dein Herz geerbt. Darauf musst du nicht stolz sein, denn es ist ein verdammter Fluch.«
»Das weiß ich auch.« Als sie meine Haltung sieht, fleht sie mich an. »Bitte geh nicht, Cecelia. Nicht so.«
Ich schaue zu ihr hinab und schüttele den Kopf. »Du hast mich mein Leben lang angelogen.«
»Hätte ich dir alles erzählt, als du noch jünger warst, hättest du dich nur seiner Zurückweisung ausgesetzt. Er hat dich auf die einzige Art geliebt, die ihm möglich war – aus der Entfernung.«
»Das rechtfertigt deine Lügen nicht. Ich war fürchterlich zu ihm. Du konntest es mir nicht mal erzählen, als er im Sterben lag?«
»Er wollte dich nicht sehen.«
Verblüfft starre ich sie an. »Aber du warst bei ihm?«
»Ich habe neben ihm gesessen und seine Lippen geküsst, bevor er gestorben ist.«
»Verdammt, Mom!«
»Er wollte nicht, dass du da bist, weil er nicht wollte, dass du dich schuldig fühlst. Denn das hast du nicht verdient. Er wollte keine Absolution. Er war kein guter Vater, egal aus welchen Gründen. Er hat sich dafür entschieden, sich ein Imperium aufzubauen, das war ihm wichtiger als wir beide. Er war nicht in der Lage, seine wahren Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Es wäre also ohnehin nicht der Abschied geworden, den du dir gewünscht hast.«
»Die Entscheidung hätte ich aber selbst treffen sollen.«
»Du hattest die Möglichkeit, dich zu entscheiden. Du hast ihn kennengelernt. Das war Roman. Und ich kann dir versichern, dass es keine Offenbarungen auf dem Sterbebett gab. So war er nicht.«
Ich erinnere mich noch an den Tag, als er mich unten an der Treppe abgefangen hat, an seinen Blick, der mich angefleht hat, über seine Fehler hinwegzusehen. Aber genauso habe ich ihn bei unserer letzten Begegnung im Konferenzsaal angebettelt und habe nichts zurückbekommen als einen leisen Anflug des gleichen Ausdrucks in seinen Augen.
»Die Villa, die er gebaut hat«, fährt sie heiser fort, »war ein Traum, den wir gemeinsam hatten, als wir noch glücklich miteinander waren. Jedes einzelne Detail bis hin zum Garten, der für mich bestimmt war. Er hat sich selbst bestraft, indem er sie dann ohne mich gebaut hat, eine schmerzhafte Erinnerung daran, was hätte sein können.«
Wütend wische ich mir die Tränen aus den Augen.
»Es hat sechsundzwanzig Jahre gedauert, bis ich mir selbst verzeihen konnte, Cecelia. Dein Vater war die Liebe meines Lebens. Ob er es verdient hat oder nicht. Wir haben tatsächlich nicht die Wahl.«
»Weißt du eigentlich, welchen Preis ich dafür bezahlt habe, dass du all das vor mir verheimlicht hast? Interessiert dich das überhaupt? Natürlich nicht. Du warst zu sehr damit beschäftigt, in Selbstmitleid zu zerfließen, als ich dich am meisten gebraucht habe. Du warst egoistisch. Und er war es auch.«
Sie streckt den Arm aus und nimmt meine Hand, doch ich schaue sie immer noch wütend an. »Natürlich interessiert es mich. Cecelia, ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich habe das getan, was meiner Meinung nach für dich am besten war. So haben wir beide gehandelt. Auch du bist die Liebe meines Lebens. Es tut mir leid, dass ich egoistisch war und dass ich krank geworden bin, aber ich hoffe, dass du mir – uns beiden – eines Tages verzeihen wirst.«
»Ich muss gehen.« Ich entziehe ihr meine Hand.
Sie nickt, und neue Tränen treten ihr in die Augen. »Bitte tu nicht das, was er getan hat, Cecelia, verbanne mich nicht aus deinem Leben. Ich will dich nicht auch noch verlieren.«
»Du bist nicht die Einzige, die dafür bezahlt hat. Verstehst du das nicht?« Ich schüttele den Kopf über ihre Ignoranz.
Sie zieht die Augenbrauen zusammen.
»Ich habe einen hohen Preis für deine Lügen und seine Fehler gezahlt, und das tue ich immer noch.«
»Was meinst du damit?«
»Ich schätze, wir haben alle unsere Geheimnisse, Mom.« Mit diesen Worten drehe ich mich um und gehe zu meinem Wagen. Als ich die Tür zuschlage und zurücksetze, sehe ich, dass sie neben dem Haus steht und mir hinterhersieht.