U nsere Mädelsrunde ist kleiner geworden. Außer Larissa und mir ist nur noch Carolin anwesend. Die anderen können wohl nicht damit umgehen, dass ich Conny gezeigt habe, wie scheiße es ist, wenn jemand einen ausgerechnet im Moment der größten Schwäche hängen lässt.
Conny hat mich damals hängen gelassen, ich sie jetzt. Ich denke, wir sind quit. Mehr oder weniger.
Ich verstehe nicht, warum die anderen Mädels sich so schwer damit tun. Ich meine … wir sind doch alle erwachsen. Conny wird schon darüber hinweg kommen. Und wenn nicht … kann ich ihr auch nicht helfen.
Warum fühlt sich das, was ich gemacht habe, in der letzten Zeit gar nicht mehr so richtig an? Ich stütze den Kopf auf die Hände.
Larissa schaut mich prüfend an. Obwohl ich seitlich zu ihr sitze, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie ernst und unglücklich sie aussieht.
»Du musst das klären. Rede mit Conny. Sag ihr, was dich dazu bewegt hat, sie so … so … «
Larissa sucht nach Worten und schaut schließlich hilflos Carolin an.
»Ali, du weißt, dass wir dich lieb haben und immer hinter dir stehen. Aber das, was du gemacht hast, war abartig. Ekelerregend. Kindisch. Furchtbar.«
Ich schlucke.
Die Worte meiner Freundinnen sind hart, aber vor allem treffen sie mitten ins Schwarze. Es fühlt sich an, als würde jemand das Messer, das bereits tief in meiner Brust steckt, schön langsam umdrehen. Es zerreißt mich innerlich. Ich halte die Anwesenheit meiner Freundinnen nicht länger aus. Eine Entschuldigung vor mich hin murmelnd, springe ich auf und flüchte aus unserer Stammkneipe.
Die Luft ist warm. Ich habe die falsche Kleidung und die falschen Schuhe an. Trotzdem sprinte ich los. Ein paar hundert Meter weit komme ich, doch dann … liege ich mit der Nase voraus auf dem Boden. Stechender Schmerz zuckt von meinem Sprunggelenk in den Kopf. Mein Schrei ist dumpf. Und leise. Furchtbar leise. So wird mich niemand hören. Geräuschlos vor mich hin weinend, sitze ich auf dem Boden. Mein ganzes Leben ist ein einziger Scherbenhaufen – und alles nur, weil Conny nach so vielen Jahren wieder auf der Bildfläche aufgetaucht ist. Ich hasse sie. Nicht.
Ich kann sie nicht länger hassen.
Weil Conny im Grunde ein wundervoller Mensch ist.
Die letzten Wochen waren so speziell. Conny hat mir immer mehr Einblicke in ihr gesamtes Sein erlaubt – und ich habe es zugelassen. Weil ich gespürt habe, dass ich mich möglicherweise ein ganz kleines Bisschen in meinen Hass verrannt habe.
Mein geräuschloses Weinen verändert sich. Ich fange an zu heulen. Und zwar so richtig. Ich wimmere, jammere und schluchze. Es ist so schrecklich. Ein einziger nicht enden wollender Alptraum.
Seit Dagmars Geburtstag, damals, als wir in der zehnten Klasse waren, bin ich in Conny verknallt. Ich fand sie schon vorher toll. Aber dann habe ich sie geküsst. Und sie hat mich geküsst. Okay, wir haben eine Aufgabe beim Flaschendrehen erfüllt, aber es war trotzdem ein Kuss. Ein echter Kuss. Mit Zunge.
Der erste Kuss, der mir ernsthaft etwas bedeutet hat. Weil Conny das tollste Mädchen auf der ganzen Schule war, wenn nicht so gar in der ganzen Stadt. Ich habe sie bewundert. Ich habe ihr nachgeeifert. Ich wollte so sein wie sie.
Schon damals hat es mich geflasht, wenn ich gesehen habe, wie sie mit anderen Leuten umgegangen ist. Sie war so selbstbewusst. So lässig und so … atemberaubend.
Ich war nicht nur verliebt. Ich habe sie geliebt.
Sie war der erste Mensch, den ich wirklich geliebt habe. Aber sie hat mich abblitzen lassen. Als ob das noch nicht gereicht hat, hat sie mich auch noch vor allen anderen in der Schule bloßgestellt. Der Brief, den ich ihr geschrieben habe, hat sie vor versammelter Mannschaft in der Luft zerfetzt. Dann hat sie mich als Stalkerin beschimpft.
Dabei habe ich gelernt, dass ein Kuss eben nicht immer etwas Besonderes ist. Es kann auch sein, dass ein Kuss nur ein Kuss ist.
Aber für mich war er etwas ganz Besonderes.
Dieser Kuss hat mein Leben verändert und obwohl er schon so viele Jahre, sogar Jahrzehnte, zurückliegt, kann ich mich noch ganz genau erinnern. Als ob es erst gestern passiert ist.
Ich muss das mit Conny klären. Und zwar so schnell wie möglich.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Eine junge Frau kommt auf mich zu. Sie hat das Handy gezückt. Vermutlich, um einen Rettungswagen zu rufen.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ich habe Mist gebaut.«, jammere ich mit von Tränen ganz erstickter Stimme.
»Es ist der Knöchel, oder?«, fragt die Frau besorgt, doch ich winke ab.
»Der Knöchel heilt wieder. Das Drama, das ich gemacht habe, wird wohl nicht so leicht heilen.«
Die Frau blickt mich verwundert an. Es ist ihr anzusehen, dass sie sich die Frage stellt, ob ich noch alle Latten am Zaun habe, oder ob mir nicht doch ein paar abhanden gekommen sind.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragt sie trotzdem noch einmal nach.
»Mir kann niemand helfen.«, jammere ich.
»Soll ich einen Rettungswagen rufen?«
»Für mich gibt es keine Rettung mehr. Ich habe alles versaut.«
Die junge Frau hebt die Arme und sieht mich mit einem Blick an, der keine Zweifel mehr aufkommen lässt. Die arme Frau bereut ganz sicher, dass sie mich angesprochen hat. Trotz allem lässt sie mich nicht einfach in meinem Drama hocken, sondern geht neben mir in die Hocke. Sie legt ihre Tasche auf ihren Schoß und fängt an, darin zu kramen. Schließlich zieht sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein Taschentuch hervor und reicht es mir. Ich wische mir über die Augen. Dann schnäuze ich herzhaft. Besser fühle ich mich dadurch nicht.
Die Frau wühlt immer noch in ihrer Tasche.
»Ich habe doch immer … für Notfälle. Wissen Sie?«
Nee, weiß ich nicht. Wie auch?
»Ah, da ist es ja.«
Die Frau grinst triumphierend.
»Wenn nichts mehr hilft, muss man manchmal einfach zu harten Drogen greifen.«
Harte Drogen? Geht es noch? Ich hocke zwar mitten in meinem selbst produzierten Chaos, aber so schlimm, dass ich das Bedürfnis habe, zu Drogen zu greifen, ist es dann doch nicht. Ich schüttle den Kopf und brumme »Keine Drogen.«
Nun lacht die Frau aus vollem Herzen. Sie klopft sich sogar auf die Schenkel. Ich komme mir ein bisschen verarscht vor, ehrlich gesagt.
»Das habe ich doch nicht wörtlich gemeint.«
Sie wedelt mit einem Schokoriegel unter meiner Nase. Nun kann auch ich nicht mehr anders. Ich muss herzhaft lachen.
»Sehen Sie? Habe ich es nicht gesagt?«
Immer noch lachend nicke ich, während die Frau den Riegel aus seiner Verpackung holt. Sie bricht den Riegel in der Mitte durch und reicht mir eine der Hälften. Die andere Hälfte schiebt sie sich selbst in den Mund. Wir kauen genüsslich.
»Wollen Sie mir erzählen, was Sie verbrochen haben?«
Erst schüttle ich den Kopf. Dann zucke ich mit den Schultern. Schließlich nicke ich und fange an zu reden. Wie tief bin ich doch gesunken, dass ich einer wildfremden Frau meine verkorkste Lebensgeschichte aufbrumme. Einer Frau, die mit Sicherheit Besseres zu tun hat als hier mit mir auf dem Fußboden im Dreck zu sitzen. Die Frau hört mir aufmerksam zu. Nicht einmal verzieht sie die Miene. Mit neutralem Gesichtsausdruck gibt sie mir die Möglichkeit, mir meinen Kummer von der Seele zu reden. Hach, tut das gut.
»Klarer Fall.«, sagt die Frau als ich ende.
»Sie sind in diese Conny verliebt und jetzt haben Sie es verkackt.«
Uff. Wieso muss die Frau denn gleich so direkt sein? Es hätte mir definitiv besser gefallen, wenn sie ihre Meinung in Watte – in Form zuckersüßer Formulierungen – verpackt hätte, aber die junge Frau scheint eine Freundin klarer Worte zu sein.
»Sieht ganz so aus.«, grummle ich.
»Aber hallo. Sie haben aber auch echt ein bisschen übertrieben, meinen Sie nicht?«
Ich lächle zaghaft.
»Noch ist nichts verloren. Sie sagen doch, dass Sie Conny jeden Tag in der Firma sehen. Dann sprechen Sie mit ihr. Oder noch besser, bitten Sie sie um ein Date.«
Na klar. Weil das ja so einfach ist. Erst versaue ich es so richtig und dann tue ich so als wäre nichts passiert und lade Conny auf ein Date ein. Ist doch wohl klar, dass Conny sich ganz bestimmt darauf einlässt. Die junge Frau ist so was von naiv. Aber sie ist hier. Und sie sitzt hier neben mir. Ich bin also nicht allein.
Ein paar Minuten sitzen wir schweigend nebeneinander als ihr Telefon klingelt. Die Frau lächelt mich an.
»Tut mir leid, aber ich muss da kurz ran gehen.«
Sie entfernt sich ein Stück und spricht ziemlich leise. Deshalb verstehe ich nicht, was sie sagt. Schade eigentlich. Als sie zu mir zurückkommt, ist ihr Lächeln deutlich schwächer.
»Das war mein Date.«, erklärt sie, und ich fühle mich schlagartig ziemlich schlecht.
»Er hat sich ziemlich aufgeregt, weil ich noch nicht da bin.«
Ich fühle mich noch schlechter.
»Das tut mir leid.«, hauche ich kaum hörbar, doch sie winkt ab.
»Ich habe ihm erklärt, was passiert ist, aber er wollte mir gar nicht zuhören.«
Sie zuckt mit den Schultern, und ich fühle mich schäbig, weil ich sie von ihrem Date abgehalten habe, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie möglicherweise etwas vor hat an diesem schönen Abend. Mit wackeliger Stimme stammle ich eine Entschuldigung nach der anderen.
»Jetzt wäre ein Schokoriegel gut.«, murmle ich, und schaue die Frau an.
Sie lächelt und zieht einen weiteren Schokoriegel aus ihrer Tasche. Ohne mit der Wimper zu zucken, wickelt sie den Riegel aus der Verpackung, bricht ihn in zwei Teile und reicht mir die Hälfte.
»Haben Sie heute Abend noch etwas vor?«, fragt sie nach einer Weile.
»Wie es aussieht, hätte ich nämlich ganz zufällig heute ziemlich viel Zeit.«
Es scheint ihr nicht mehr allzu viel auszumachen, dass der Typ sie abserviert hat, weil sie mir geholfen und sich dadurch verspätet hat. Vollidiot. Wie kann man eine Frau wie sie abservieren? Ich verstehe die Kerle nicht.
»Ich weiß nicht.«, sage ich ganz ruhig.
»Ich fürchte, dass ich heute keine so gute Gesellschaft bin.«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.«
Sie steht auf, reicht mir die Hand und hilft mir auf die Beine. Ganz vorsichtig setze ich den Fuß mit dem verletzten Sprunggelenk auf den Boden. Sofort schießt der Schmerz wieder durch mein Bein. Ich jaule auf.
»Oh je. Vielleicht doch lieber ins Krankenhaus?«, fragt sie, doch ich schüttle den Kopf.
Von mir aus humple ich überall hin, aber ins Krankenhaus gehe ich nicht freiwillig.
»Okay. Sie müssen es wissen. Ist ja schließlich Ihr Fuß. Wo gehen wir hin?«
Ich schaue mich um. Wenn mich nicht alles täuscht, sollte nicht weit von hier ein kleiner Italiener sein. Das Interieur des Restaurants ist zwar nicht der Hit, dafür schmeckt das Essen richtig lecker.
Die Schuhe unter dem Arm humple ich los. Die Frau heftet sich an meine Seite und stützt mich so gut sie kann. Dank meines Fußes dauert der Marsch viel länger als sonst. Als wir im Restaurant ankommen, knurrt mein Magen.
Die Frau, die sich als Sophie vorstellt, ist eine angenehme und warmherzige Gesprächspartnerin. Obwohl sie erst fünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel hat, hat sie viel zu erzählen. Frauen wie ihr gehört die Welt. Davon bin ich überzeugt. Was für eine tolle Persönlichkeit.
Am Ende des Abends bin ich leicht angeschickert, satt, zufrieden und entspannt. Und ich habe ihre Nummer. Damit wir uns ab und zu treffen können.
Mit vollen Bäuchen schwanken wir nach dem Essen zum nächsten Taxistand. Als es Zeit zum verabschieden ist, nimmt Sophie mich ganz spontan in den Arm und drückt mich an sich. Ich schmiege mich an sie.
Eigentlich war ich ja immer der Meinung, dass jüngere Frauen nervig und anstrengend sind und ganz sicher nicht auf meiner Welle funken. Sophie ist der lebende Beweis, dass ich mich manchmal ganz ordentlich auf dem Holzweg befinde. Vor den Taxis drehen wir uns noch einmal um und lächeln uns an.
»Danke für den schönen Abend.«, sagt Sophie.
»Ich habe zu danken. Wärst du nicht gewesen, würde ich immer noch heulend im Dreck sitzen.«
»Das bezweifle ich. Aber … danke für die Blumen. Bis bald dann.«
Sophie winkt zum Abschied. Dann steigt sie in ihr Taxi. Der Fahrer gibt Gas und braust in Fahrtrichtung davon. Ich steige in ein anderes Taxi und nenne dem Fahrer meine Adresse. Vorsichtig wendet er und fährt in die entgegengesetzte Richtung. Ich lehne mich gegen das kalte Leder der Sitze und schließe die Augen. Was für ein Tag.
Gleich morgen früh werde ich mit Conny sprechen. Mit dieser Entscheidung im Kopf, fühle ich mich viel leichter. Mit einem Lächeln im Gesicht danke ich dem Fahrer und drücke ihm ein ordentliches Trinkgeld in die Hand.
I ch steuere direkt Connys Büro an, doch das Zimmer ist leer. Verwirrt schaue ich mich um. Normalerweise ist Conny grundsätzlich schon da, wenn ich in der Firma eintreffe. Wo steckt sie?
Mit zwei Fingern nehme ich einen Zettel aus der Zettelbox auf ihrem Schreibtisch. Die Kugelschreiber auf ihrem Tisch sind alle pink. Grinsend schnappe ich mir einen der Kugelschreiber und kritzle eine kurze Nachricht auf einen Zettel. Den Zettel platziere ich schön in der Mitte des Schreibtischs, damit Conny ihn auch ganz bestimmt nicht übersieht.
In meinem eigenen Büro angekommen, lasse ich extra die Tür offen. Ich schwinge mich hinter meinen Schreibtisch und warte. Die Sekunden ziehen sich wie Stunden. Es ist so schrecklich. Ich schalte zwar den Rechner an, kann mich aber so gar nicht konzentrieren. Wo bleibt Conny? Was ist passiert?
Mein Fuß schmerzt immer noch höllisch. Mittlerweile ist er so dick angeschwollen, dass ich heute barfuß zur Arbeit gekommen bin. Ich hätte auch daheim bleiben können, aber das wollte ich auf gar keinen Fall.
Als mein Handy zwölf Uhr anzeigt und Conny immer noch nicht aufgetaucht ist, rapple ich mich mühsam auf und schlage den Weg zu ihrem Büro ein, obwohl ich bereits befürchte, dass sie heute nicht mehr hier auftaucht. Der Blick in ihr leeres Büro bestätigt meine Befürchtungen. Mist. Verdammter. Ich schaue mich um.
Ein paar Kollegen sind auf dem Weg in die Pause.
Petras Blick fällt auf meinen Fuß.
»Na, Ali, haste die Schuhe vergessen?«, neckt sie mich.
Witzig. Wirklich sehr witzig. Ich schaue an mir herunter. Petras Blick folgt meinem. Als sie meinen dicken Knöchel sieht, schreit sie vor Schreck auf.
»Ach du Scheiße. Was ist denn mit dir passiert?«
»Alles halb so schlimm. Bin nur umgeknickt.«
»Nur? Halb so schlimm? Sag mal, spinnst du? Das sieht ganz schrecklich aus. Wie ist das denn passiert?«
»Ich war laufen.«, flunkere ich nur ein ganz kleines Bisschen.
»Mit hochhackigen Schuhen.«
Petra schaut mich entsetzt an.
»Du bist verrückt.«, schimpft sie.
»Was sagt der Arzt?«
»Keine Ahnung. Wie du weißt, gehe ich grundsätzlich erst dann zum Arzt, wenn … «
»... wenn du den Kopf unterm Arm hast. Ich weiß. Du bist unverbesserlich.«
Jetzt erst fällt Petra mein fragender Blick in Connys Büro auf.
»Sie ist nicht da.«, erklärt sie das Offensichtliche.
»Vielleicht solltest du mal bei Marek vorbei schauen. Er weiß sicher mehr.«
Was für eine hilfreiche Idee. Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen verabschiede ich mich von meinen Kolleginnen und Kollegen und humple in Richtung Mareks Büro.
Unser Chef sitzt auf seinem Stuhl und hämmert irgendetwas in seine Tastatur. Als er mich hört, hebt er den Kopf und schaut in meine Richtung. Sein Blick verfinstert sich.
»Komm rein und schließe die Tür.«, sagt er ruhig.
Ich schließe die Tür und setze mich Marek gegenüber. Mein Chef sieht alles andere als glücklich aus.
»Wo ist Conny?«, platze ich heraus bevor Marek auch nur ein Wort sagen kann.
»Immer langsam mit den jungen Pferden.«, brummt mein Chef, aber ich kann nicht mehr langsam.
Den ganzen Vormittag habe ich mir den Kopf zerbrochen, was wohl mit Conny los ist. Es ist so gar nicht ihre Art, nicht in der Firma zu erscheinen.
»Conny hat gekündigt. Fristlos.«
Gekündigt? Fristlos? Die zwei Worte fliegen mir regelrecht um die Ohren. Ich sacke zusammen.
»Aber das geht doch nicht. Das kann doch nicht sein. Warum?«
Marek zuckt mit den Schultern.
»Sie war heute ganz früh hier und hat ihre Kündigung abgegeben. Natürlich habe ich sie auch gefragt, warum. Sie hat nur gesagt, dass sie sich getäuscht hat. Mehr konnte ich nicht aus ihr herausbringen.«
Na toll. Ganz toll. Vor Entsetzen bleibt mir der Mund offen stehen. Mir sacken die Schultern herunter. Ich hänge wie ein Schlückchen Wasser in der Kurve auf dem Stuhl Marek gegenüber.
»Ich bin schuld.«, erkläre ich als endlich wieder Worte den Weg über meine Lippen finden.
»Quatsch.«
»Doch. Natürlich.«
Ich schlage die Hände vors Gesicht.
»Mir war nicht bewusst, wie sehr ich sie verletzt habe.«
»Was auch immer du damit sagen willst.«
»Ich brauche Connys Adresse.«
»Das wird dir nicht viel bringen. Conny ist vorhin direkt zum Flughafen gefahren. Sie hat wohl einen Job in LA angeboten bekommen.«
»Danke für die Info. Ich muss los.«
Ich springe auf und stürze zur Tür. Der Schmerz in meinem Fuß ist wie weggeblasen. Ich bin so in Eile, dass ich völlig kopflos durch die Flure renne. Zwei oder drei Kolleginnen können sich nur durch einen beherzten Satz zur Seite vor mir retten.
»Ali!«, ruft Marek hinter mir her.
»Warte!«
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um.
»Was?«, schnauze ich ihn an.
Er wedelt mit einem Briefumschlag.
»Den soll ich dir von ihr geben.«
Ich nehme den Brief an und renne weiter. Erst im Auto gebe ich mir wenigstens eine Minute, um meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.
Ich bin völlig durch den Wind. Conny ist weg. Sie ist erneut aus meinem Leben verschwunden. Aber diesmal bin ich schuld. Ich ganz allein habe es verbockt. Ich lege den Kopf auf den Lenker und stöhne gequält. Mir geht es dreckig. So dreckig wie es einem nur gehen kann. Warum habe ich nicht früher erkannt, dass Conny nicht mehr das bildhübsche aber charakterlich miese Mädchen von damals ist? Warum habe ich ihr nicht gesagt und gezeigt, dass sich meine Gefühle von damals nicht verändert haben? Warum? Warum? Warum?
So viele Warum, auf die es nur eine Antwort gibt. Weil ich ein verbohrter Hornochse bin. Genau so ist es. Ich habe mich immer für offen, loyal, tolerant und empathisch gehalten. Was für eine Selbstverarsche. Ich bin verbohrt und engstirnig. Wie meine Eltern. Gruselig.
Es wird Zeit, dass ich die Arschbacken zusammen kneife und endlich erwachsen werde. Augen zu und durch. Oder so.
Wenn nicht jetzt, wann dann? Unwirsch versuche ich durch gezieltes Wischen die Tränen aus meinen Augen zu vertreiben. Ohne weiter darüber nachzudenken, drehe ich den Zündschlüssel um und lenke das Auto aus dem Parkplatz. Ich gebe Gas. Bis zur Autobahn komme ich relativ gut durch, doch dann ist Schluss. Es geht nur noch im Schneckentempo vorwärts. Ein Unfall. Verdammt! Fluchend hämmere ich auf den Lenker ein. Als ob der was dafür könnte. Ich fluche und schimpfe. Ich schreie und brülle. Meine ganze Verzweiflung bricht aus mir heraus. Ich bin so eine bescheuerte Kuh. Unfassbar.
Meine Gedanken wandern zu Conny. Wie eigentlich ständig seit ich vor vielen Jahren bemerkt habe, dass sie für mich mehr ist als ein Mädchen, das ich bewundere.
Ich habe Conny nie wirklich vergessen und habe mich immer gefragt, was sie wohl macht. Das Internet und diverse Soziale Medien haben mir bei meiner Suche nach ihr sehr geholfen. Jede einzelne Station ihres Lebens kenne ich. Tja. So bin ich. Wenn jemand einmal in meinem Herzen eingezogen ist, bleibt dieser Mensch für immer da. Ob ich es bewusst will oder nicht. Mein Herz fragt schlicht nicht danach.
Dank der Gespräche mit meiner neuen Freundin Sophie habe ich sogar begriffen, dass mein Hass auf Conny nur deshalb so stark ausgeprägt ist, weil ich sie aus tiefstem Herzen liebe. Aus mir hat Verletztheit gesprochen. Kein guter Berater, wie es scheint. Der Briefumschlag, den Marek mir vorhin zugeschoben hat, liegt neben mir auf dem Beifahrersitz. Soll ich? Oder lieber nicht? Ich weiß es nicht. Im Grunde ist es sowieso egal, da Conny mit Sicherheit schon im Flieger sitzt. Wütend hämmere ich auf die Hupe. Ich bin so ungeduldig. Und fühle mich gleichzeitig so hilflos. Was soll ich am Flughafen, wenn sie schon längst über dem großen Teich ist?
Da der Verkehr mittlerweile vollständig zum Erliegen gekommen ist, greife ich nach dem Umschlag und öffne ihn mit zitternden Händen und klopfendem Herzen.
Conny hat mehrere Seiten voll geschrieben. Ich fange an zu lesen. Zehn Minuten später lege ich den Brief kopfschüttelnd zur Seite.
Die ganze Zeit habe ich gedacht, dass Conny ganz genau weiß, wer ich bin und dass sie sich nur aus diesem Grund für mich engagiert hat. Aber so war es gar nicht. Erst vor ein paar Tagen haben ihre Eltern sie darauf aufmerksam gemacht. Sie entschuldigt sich bei mir. Für ihr Verhalten von damals. Außerdem erklärt sie, dass sie die Lektion, die ich ihr in Hannover verpasst habe, begriffen hat und nun ihre Schlüsse daraus zieht. Für die Zukunft wünscht sie mir alles Gute. Der Brief endet damit, dass Conny schreibt, sie wünsche sich, wir hätten uns unter anderen Vorzeichen kennengelernt. Denn dann wären wir ihrer Meinung nach schon sehr lange ein glückliches Liebespaar. Der Frust sitzt so tief, dass ich ein gequältes und ziemlich gereiztes Stöhnen ausstoße. Es ist zum Mäuse melken. Der Verkehr geht nicht vorwärts. Ich brauche etwas länger als eine halbe Stunde, bis ich die nächste Ausfahrt erreicht habe. Ich schere aus und verlasse die Autobahn. Statt der Schlange Richtung Flughafen zu folgen, biege ich in die entgegengesetzte Richtung ab und entferne mich rasch immer weiter vom Flughafen. Ich weiß nicht, warum, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund habe ich die Hoffnung, dass ich Conny doch noch bei ihren Eltern antreffe. Ich weiß ganz genau, wo ihre Eltern leben. Seit unserer Kindheit gehört ihnen ein Haus nicht weit von meinem Elternhaus entfernt.
Vor dem Haus von Connys Elternhaus lege ich eine Vollbremsung hin. Die Reifen qualmen sogar, so abrupt bremse ich ab. Meinen schmerzenden und pochenden Knöchel ignorierend, springe ich aus dem Auto und stürze durch den Garten zur Haustür. Statt einmal kurz zu klingeln und dann abzuwarten, mache ich es wie wir es als Kinder immer gemacht haben. Ich lasse den Finger einfach auf der Klingel liegen.
»Ja! Ja! Ich komme doch schon.«
Connys Mutter reißt die Tür auf. Ihr Blick ist gereizt. Instinktiv mache ich einen Schritt zurück.
»Ja?«, schnappt sie, doch dann … breitet sich plötzlich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus.
Sie wendet sich ab und ruft nach ihrem Mann. Wenige Sekunden später taucht auch Connys Vater an der Tür auf. Er grinst mich an.
»Da schau einer an, Alexandra Langer. Kommen Sie doch herein.«
»Keine Zeit.«, erkläre ich, mich hektisch nach allen Seiten umschauend.
»Ist Conny noch hier?«
Connys Eltern schauen sich an. Dann schütteln sie traurig den Kopf.
»Sie ist vor ungefähr einer Stunde mit dem Taxi zum Flughafen aufgebrochen.«
Vor einer Stunde? Verdammt. Warum habe ich so lange auf sie gewartet? Wäre ich doch gleich los gefahren. Dann hätte ich es vielleicht noch geschafft.
»Welchen Flug nimmt sie?«, japse ich nach Luft ringend.
»Sie macht einen Zwischenstopp in New York und fliegt in ein paar Tagen nach LA weiter.«
»Wissen Sie, in welchem Hotel sie absteigt?«
»Moment.«
Connys Mutter lässt ihren Mann und mich vor der Tür stehen und geht ins Innere des Hauses. Ihr Vater schaut mich nachdenklich an. Unterdessen wische ich mit zitternden Fingern übers Display. Heute gehen zwei weitere Flüge nach New York. Wenn ich also schnell nach Hause fahren und ein paar Sachen in meinen Koffer schmeißen würde, könnte ich den Abendflug nehmen. Hmh.
»Connys Flug geht erst in zwei oder drei Stunden.«
Zwei Stunden? Mein Herz klopft schneller. Selbst, wenn ich nur im Schneckentempo vorwärts komme, wäre es theoretisch noch zu schaffen. Connys Mutter kommt wieder aus dem Haus. Sie drückt mir einen Zettel in die Hand, auf den sie den Namen des Hotels gekritzelt hat.
»Wissen Sie was, Alexandra, lassen Sie Ihr Auto hier. Ich fahre Sie. Vielleicht schaffen wir es ja noch rechtzeitig.«
»Was meinst du damit?«, fragt Connys Mutter an ihren Mann gerichtet.
»Ich habe da so ein Gefühl. Diese junge Dame hier möchte, so, wie ich es sehe, ganz dringend mit unserer Tochter sprechen. Ist doch so, oder?«
Ich nicke. Mein Herz hämmert heftig. Ich kann noch nicht so recht glauben, dass es vielleicht doch noch eine kleine Chance gibt.
»Wenn dem so ist, sollten wir ihr dabei helfen. Meinst du nicht?«
Connys Mutter nickt. Ein Strahlen breitet sich in ihrem Gesicht aus. Sie geht ins Haus und kommt mit zwei Jacken, zwei Paar Schuhen und einer Umhängetasche zurück.
Mit Hilfe eines Schuhlöffels schlüpft sie in ihre Schuhe und läuft die Treppe hinunter.
»Macht schon!«, schnappt sie.
»Wir haben eine Mission zu erfüllen.«
Weder Connys Mutter, noch ihr Vater sehen so aus als würden sie Widerspruch dulden. Also folge ich den Beiden ohne weiter darüber nachzudenken.
»Die Autobahn ist dicht.«, jammere ich auf der Rückbank sitzend.
»Dann fahren wir eben über die Dörfer. Kein Problem. Hier gibt es Schleichwege, die kaum jemand kennt. Festhalten!«
Connys Vater gibt so sehr Gas, dass es mich in den Sitz drückt. Ich schnappe nach Luft. Er ignoriert einfach jede Geschwindigkeitsbegrenzung und düst wie ein Formel-1-Fahrer über die holprigen Straßen.
Der Mann ist verrückt. Anders kann es nicht sein. Ich klammere mich am Griff über der Tür fest. Mit der anderen Hand versuche ich Halt an der Kopfstütze auf der Beifahrerseite zu bekommen. Uff. Mir wird übel.
Connys Mutter gibt mir genau zehn Minuten, bis sie anfängt, mich mit Fragen zu löchern. Es ist offensichtlich. Sie will herausfinden, ob ich es wert bin, dass sie und ihr Mann so einen Aufwand betreiben. Obwohl ich es eigentlich nicht mag, wenn jemand mich so ausquetscht, stehe ich ihr brav Rede und Antwort. Meine Antworten scheinen ihr und ihrem Mann zu gefallen. Connys Vater drückt das Gaspedal noch etwas weiter durch.
Durch die hohe Geschwindigkeit bekommen wir fast nichts von den zahlreichen Schlaglöchern mit. Wir fliegen einfach drüber.
Die Fahrt dauert gute vierzig Minuten. Als Connys Vater vor dem entsprechenden Terminal in die Bremsen tritt, bin ich fix und fertig und sehe unter Garantie aus wie durchgekaut und ausgekotzt.
»Lauf schon los!«, ruft Connys Mutter mir hinterher.
Ich laufe los, doch nach ein paar Schritten kehre ich wieder um. Nein. Natürlich nicht, weil mich der Mut verlassen hat.
Ich beuge mich ins Auto und ziehe Connys Mutter in die Arme.
»Danke! Danke! Danke!«, japse ich.
Connys Mutter küsst meine Wange. Dann verpasst sie mir einen sanften Klaps auf den Po.
»Viel Glück!«, ruft sie mir hinterher.
Ich renne wie von einer Tarantel gestochen, umrunde Kinder und Senioren und springe über herum stehendes Gepäck. Mein erster Blick gilt der Tafel, auf der die Abflüge aufgelistet sind. Soweit ich es auf den ersten Blick erkennen kann, ist Connys Flug noch nicht aufgerufen worden.
Nur … wie soll ich Conny auf diesem großen weitläufigen Gelände finden? Mann! Mann! Mann! Ich laufe ein paar Mal hin und her und schaue in einzelne Läden. Nach einer Weile gebe ich entnervt auf und lasse mich auf einen freien Stuhl fallen. Resigniert hämmere ich aufs Handy und wähle Connys Nummer. Mailbox. War ja klar. Mist. Was mache ich denn jetzt? Ich schaue mich um. Nicht weit entfernt entdecke ich eine Info-Stelle. Mir kommt eine Idee. Schlagartig bin ich wieder hellwach.
»Guten Tag.«, sage ich freundlich zu der Dame am Info-Tresen.
»Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich schildere der Frau mein Anliegen. Beim Lächeln zeigt die Frau weiße Zähne. Helfen könne sie mir jedoch nicht.
»Sie wissen schon. Datenschutz und so. Wenn nicht etwas ganz Gravierendes vorgefallen ist…«
Aber es ist doch etwas ganz Gravierendes vorgefallen. Ich merke, dass meine Augen zu brennen beginnen. Wir haben Alles gegeben und jetzt scheitere ich an der nicht vorhandenen Kooperation. Das darf doch nicht wahr sein.
»Guten Tag.«, höre ich eine mir ziemlich vertraute Stimme.
»Könnten Sie bitte meine Tochter ausrufen? Es geht um eine dringende Familienangelegenheit.«
Connys Mutter zwinkert mir zu.
»Mein Mann hatte einen Herzinfarkt. Meine Tochter darf nicht abfliegen, bevor sie sich nicht von ihrem Vater verabschiedet hat.«
Das scheint der Frau hinter dem Tresen einzuleuchten.
»Wie ist der Name?«
»Cornelia Langer.«
Die Frau nickt und ich lächle Connys Mutter dankbar an. Vor meinen Augen schiebt sie den Daumen zwischen die Finger und sagt »Toi! Toi! Toi!«
Wenige Sekunden später schallt die Stimme der Flughafenmitarbeiterin aus sämtlichen Lautsprechern.
»Frau Cornelia Langer zum Info-Desk im Check-In-Bereich bitte. Frau Cornelia Langer.«
Es vergehen ein paar Minuten, dann wiederholt die Flughafenmitarbeiterin ihre Durchsage.
Connys Mutter und ich entfernen uns ein Stück und beobachten den Tresen.
Viermal wiederholt die Flughafenmitarbeiterin ihre Durchsage. Schließlich fegt Conny um die Ecke. Mir bleibt das Herz stehen. Conny hat einen hochroten Kopf.
»Viel Glück.«
Connys Mutter legt mir ihre Hand auf die Schulter und drückt mich sanft. Dann verschwindet sie genauso leise wie sie aufgetaucht ist. Ich setze mich langsam in Bewegung. Meine Güte, bin ich nervös.
»Cornelia Langer mein Name. Sie haben mich ausgerufen. Was ist denn passiert?«
»Ihre Mutter hat nach Ihnen gefragt.«
Die Flughafenmitarbeiterin stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht Connys Mutter in der Menge der Menschen zu finden.
»Komisch, gerade habe ich sie noch gesehen. Wie auch immer. Sie hat gesagt, dass Sie nicht fliegen können. Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt.«
»Wie bitte?«
Connys leuchtend rote Wangen sind schlagartig käseweiß. Ich lege einen Zahn zu.
»Danke.«, höre ich Conny beherrscht sagen.
Sie läuft ein paar Schritte, lässt sich dann aber auf einen Stuhl fallen. Ich gehe auf sie zu. Gerade als sie das Telefon aus der Tasche holt, komme ich bei ihr an.
»Hallo.«, sage ich so leise, dass es kaum zu hören ist.
»Hey.«, murmelt Conny, während sie die Nummer ihrer Mutter heraussucht.
Ich lege die Hand auf Connys Arm. Sie lässt das Handy sinken.
»Was willst du?«, fragt sie genervt.
»Mit dir sprechen.«
»Tut mir leid, mir steht der Sinn gerade nicht nach einem Gespräch. Mein Vater hatte einen Herzinfarkt.«
»Hatte er nicht. Glaub mir bitte. Dein Vater erfreut sich bester Gesundheit.«
»Und das weißt du woher?«
»Von uns.«