22. Conny

O h nein. Vergiss es.« Ich winke ab. Es ist offensichtlich, dass Ali keine Lust auf ein Gespräch hat. Trotzdem bleibe ich hartnäckig am Ball. Ich möchte, dass das, was sich zwischen uns zu entwickeln beginnt, sich für uns beide gut anfühlt. Nicht nur heute, sondern auch morgen und in zehn Jahren noch. Dafür müssen wir das, was möglicherweise immer wieder zwischen uns stehen könnte, aus der Welt schaffen – und das geht nur, wenn wir miteinander reden.

In diesem Punkt muss und werde ich hart bleiben, selbst, wenn Ali mich mit ihren großen dunklen Augen anschaut wie ein kleiner Welpe.

Ich will, dass das mit uns funktioniert. Also schwinge ich die Beine über die Bettkante und stehe auf.

»Du bringst den Wein mit.«, ordne ich an, und nehme die Essensbehälter, um sie in der Küche zu entsorgen.

An der Schlafzimmertür bleibe ich kurz stehen. Ali brummelt leise vor sich hin.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«, erklärt sie meinen fragenden Blick erwidernd.

»Du wirst es können. Wir werden es zusammen hinbekommen.«

»Bist du sicher?«, fragt Ali mit skeptischem Unterton.

»Ganz sicher.«

»Okay. Ich komme gleich.«

Ali schlurft, Weinflaschen und Gläser in der Hand und zwei kuschelige Decken hinter sich her ziehend, ins Wohnzimmer. Ich habe es mir bereits auf dem Sofa gemütlich gemacht und wünsche mir natürlich, dass sie sich zu mir setzt.

Bei wichtigen Gesprächsthemen benötigt Ali offenbar ein bisschen Abstand. Statt sich direkt neben mich zu setzen, deckt sie mich vorsichtig zu und lässt sich dann auf einen Ohrensessel fallen und kuschelt sich in ihre Decke ein.

Obwohl die Temperaturen sich mittlerweile hochsommerlichen Höhen annähern, ist es schön, sich in eine weiche Decke einkuscheln zu können. Man kommt sich so vor, als wäre man in einen schützenden Kokon gehüllt. Noch schöner wäre es, wenn Ali sich an mich kuscheln würde. Ali schaut mich aus zusammengekniffenen Augen prüfend an. Ich kann kaum fassen, wie wichtig sie mir in so kurzer Zeit geworden ist. Ich kann und will mir nicht mehr vorstellen, wie leer mein Leben ohne sie wäre. Wir müssen es hinbekommen. Ich will nie wieder auf sie verzichten müssen. Wir werden es hinbekommen. Ich räuspere mich.

Mit »Ich … es tut mir leid, dass ich dich damals so verletzt habe.« versuche ich einen Einstieg in unser Gespräch zu finden.

»Ich weiß.«, nuschelt Ali.

»Aber warum? Warum hast du mich vor allen anderen bloßgestellt?«

Obwohl ich ganz genau weiß, warum ich damals so ekelhaft zu ihr war, zucke ich mit den Schultern.

»Ich war bis über beide Ohren in Amelie Enders verliebt.«

»In Amelie? Echt jetzt?«

Ali ist ihre Verwunderung anzusehen.

»Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«

Tja. Mittlerweile verstehe ich mich auch nicht mehr, aber damals war Amelie für mich eben das interessanteste Mädchen der Schule. Ich habe ihr nachgeeifert und gab alles, damit sie mich endlich sieht. Alis Bemühungen um mich kamen mir in meinem Werben um Amelies Herz in die Quere. Ich wollte nicht, dass sie mich gut findet. Weil ich mir doch so sehr gewünscht habe, dass Amelie mich endlich sieht.

»Ich habe mich so in meiner Begeisterung für Amelie verrannt, dass ich niemanden mehr wahrgenommen habe.«

»Meinen Brief hast du wahrgenommen.«, entgegnet Ali verschnupft.

»Ja. Das habe ich. Dein Brief war süß und alles. Aber ich konnte nicht. Verstehst du denn nicht? Ich wollte doch Amelie.«

»Das hättest du mir doch sagen können. Du hättest zu mir kommen und mit mir reden können. Stattdessen hast du meine Gefühle in der Luft zerfetzt und dann hast du mich auch noch als Stalker bezeichnet. Das hat mich so sehr verletzt, dass ich mich all die Jahre nicht mehr getraut habe, mein Herz zu verschenken.«

Ali hat Tränen in den Augen.

»Ich habe mir so sehr gewünscht, dass ich mich endlich verlieben kann, aber es ging nicht.«

»Aber warum?«

»Kannst du dir das nicht denken? Du warst so fest in meinem Herzen, dass kein Platz für eine andere Frau war.«

»Willst du damit behaupten, dass du noch nie eine Beziehung hattest?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber es war nie echt. Verstehst du? Echte Gefühle hatte ich immer nur für dich. Ich hätte dich gerne vergessen, glaub mir. Aber leider lässt sich das Gedächtnis nicht so leicht löschen.«

Oh ja. Dessen bin ich mir mehr als bewusst. Amelie war viele Jahre Mittelpunkt meiner Gefühlswelt. Oh, was habe ich für Schmerz ausgestanden.

»Liebst du Amelie immer noch?«

Ich reiße den Kopf hoch und lache auf.

»Ganz sicher nicht. Außerdem hätten ihr Ehemann und ihre Kinder wohl etwas dagegen.«

»Du hast noch Kontakt zu ihr?«

»Nicht wirklich. Ich habe sie ein paar Mal getroffen. Sie ist zu einer der notorisch unzufriedenen Mütter geworden.«

Ali schüttelt sich.

»Gruselig. So möchte ich nicht enden.«

»Wie willst du dann enden?«

»Ich möchte gerne irgendwann, wenn ich alt und tattrig bin, mit einem Lächeln im Gesicht einschlafen und dann wünsche ich mir als letzten Gedanken: Gut wars nicht immer, aber geil. Weißt du, was ich meine?«

Ich nicke, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin.

»Ich will einfach mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht einschlafen. So stelle ich mir mein Ende vor.«

Unser Gespräch entwickelt sich in eine ganz andere Richtung als gedacht. Trotzdem bin ich nicht unzufrieden. Weil Ali mir sehr viel mehr von sich offenbart als ihr bewusst ist. Ich lächle sie an.

»Noch schöner wäre es, wenn wir Hand in Hand abtreten könnten.«

»Oh ja. Das wäre es. Aber lass uns jetzt bitte nicht übers Ende sprechen. Wir stehen doch gerade erst am Anfang.«

Da ist was Wahres dran.

»Kannst du mir verzeihen, dass ich dich damals so verletzt habe?«, frage ich mit leiser Stimme, und Ali nickt.

Ich atme erleichtert auf.

»Aber nur unter einer Bedingung. Du verzeihst mir, dass ich dich so gequält habe, obwohl ich es hätte besser wissen müssen. Ich wusste doch, wie schrecklich es sich anfühlt, so behandelt zu werden und trotzdem habe ich es getan. Weil ich wollte, dass du genauso leidest wie ich damals.«

Ali und ich stehen im gleichen Moment auf und gehen aufeinander zu.

»Verzeih mir bitte.«, wispern wir beide wie aus einem Mund.

Wir liegen uns in den Armen und halten uns aneinander fest. Schon jetzt weiß ich ganz genau, dass ich alles mir in meiner Macht stehende tun werde, damit Ali mit mir glücklich werden kann.

H and in Hand betreten Ali und ich am Morgen des nächsten Arbeitstags das Firmengebäude und schlendern an mehreren offenen Bürotüren vorbei.

Marek sitzt, wie so oft, am Schreibtisch in seinem Büro. Als er uns sieht, steht er auf und kommt lächelnd auf uns zu.

»Kann mich mal bitte jemand zwicken?«, fragt er, und Ali und ich zwicken gleichzeitig in seine Oberarme.

»Autsch! Seid ihr bekloppt? Das war doch nicht wörtlich gemeint.«

Ali dreht den Kopf in meine Richtung. Grinsend zucken wir die Schultern und murmeln:

»Tschuldigung.«

»Ja. Ja. Tut ihr nur so unschuldig.«

»Wir tun nicht unschuldig.«, erklärt Ali.

»Wir SIND unschuldig.«

Marek schaut von Ali zu mir und wieder zurück. Kopfschüttelnd bittet er uns in sein Büro und schließt die Tür hinter uns. Auf mich macht er einen überforderten und nervösen Eindruck. Ali scheint auch ziemlich unruhig zu sein. Ich hingegen bin die Ruhe selbst.

Während der letzten Tage habe ich so viele verschiedene Gemütsstufen durchlebt, dass mich nichts mehr aus der Ruhe bringen kann.

»Setzt euch.«, sagt Marek, und deutet auf die edle, dafür aber ziemlich unbequeme, Sitzgruppe.

Er selbst geht zum Schreibtisch und ruft seine Assistentin an.

»Drei Mal Kaffee und drei süße Teilchen bitte.«

Obwohl das Telefonat direkt nach seiner Bestellung beendet ist, bleibt er noch ein paar Minuten hinter dem Schreibtisch sitzen, bevor er aufsteht und sich zu uns gesellt. Er legt eine Heftmappe in die Mitte des Tischs.

»Ihr habt euch also ausgesprochen.«, stellt er fest, und Ali und ich nicken.

»Na endlich. Wurde ja auch langsam Zeit. Ihr habt mich in der letzten Zeit ganz schön Nerven gekostet. Ich musste so viel über euch nachdenken, dass ich kaum geschlafen habe.«

Ali und ich schauen unseren Chef überrascht an.

»Fragt meine Frau. Sie kann es bezeugen.«

»Tut mir leid.«, erklärt Ali.

»Das war ganz sicher nicht meine Absicht.«

»Das will ich ja wohl hoffen. Was kann ich jetzt für euch tun?«