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Seit einigen Wochen ging ich am Freitag gegen sieben Uhr am Abend in das Gemeindehaus der St. Michaels Kirche, das nur einen kurzen Fußmarsch entfernt lag. Dort fand das Treffen einer Selbsthilfegruppe für Gewaltopfer statt. Ich war nach dem Überfall durch eine Sonderbeilage der Tageszeitung auf diese Gruppe aufmerksam geworden und sehr warmherzig und offen empfangen worden. Obwohl ich seitdem regelmäßig hinging, hatte ich noch nie etwas von mir erzählt. Das brauchte ich auch nicht. Keiner drängte mich. Ich hörte mir die Geschichten der anderen an und war auf der einen Seite froh, dass mir nicht mehr passiert war, auf der anderen entsetzt, dass so ein Vorfall ein ganzes Leben zerstören konnte. Da saßen Menschen vor mir, deren Leben eine einzige Qual zu sein schien. Die sich kaum mehr vor die Tür trauten, jeden näheren persönlichen Kontakt zu anderen Menschen aufgegeben hatten, keine Freunde mehr und ihren Job verloren hatten. Es waren alles tragische Schicksale, aber für mich eine Warnung, aufzupassen, nicht völlig durchzudrehen. Unbedingt aufzupassen, diese Paranoia nicht mein Leben beherrschen zu lassen.
Dabei tat sie das bereits, wie ich mir endlich eingestehen musste. Die Sicherheitsmaßnahmen und –rituale, mein ständiger Alkoholkonsum – das war nicht normal. Deshalb stand ich an diesem Freitag auf und erzählte meine Geschichte.
»Mein Name ist Louisa und ich bin in meiner Wohnung überfallen worden. Es ist knapp neun Monate her. Sein Name war Mick.« Endlich schaffte ich es, die Geschichte zu erzählen und meine Hilflosigkeit und Angst zu beschreiben. Ich hatte Mick auf einer Party kennengelernt. Er war nett gewesen, und wir hatten ein bisschen herumgemacht, ehe er mich nach Hause gebracht hatte. Ich hatte mich immer gefragt, welche Signale ich ihm gesendet hatte, bis ich begriff, dass es nicht meine Schuld gewesen war, dass Mick sich nicht abweisen lassen wollte. Er war gewaltsam in meine Wohnung eingedrungen, hatte mich geschlagen und war erst verschwunden, als eine Nachbarin auf mein Geschrei hin dazukam. »Das Schlimmste für mich war jedoch, danach wieder rauszugehen und allein nach Hause zu kommen. Selbst hierher zu kommen, kostete mich anfangs Überwindung, obwohl ich nur eine knappe Viertelstunde gehen muss. Dieser Weg war der Anfang. Nachdem ich den gemeistert hatte, konnte ich abends ausgehen. Aber ich spüre die Angst, die mir im Nacken hockt. Ich bin umgezogen und hab mich nie wieder von jemandem nach Hause bringen lassen. Ich nehme immer ein Taxi und bitte den Taxifahrer zu warten, bis ich im Hausflur bin. Selbst dann muss ich all meinen Mut zusammennehmen, um überhaupt aussteigen zu können. Jedes Mal.«
Ich blickte in die Gesichter meiner Leidensgenossen, und mir wurde ein weiteres Mal bewusst, wie glimpflich ich davongekommen war, wenn ich an ihre Geschichten dachte. »Ich möchte nicht, dass die Angst mein Leben beherrscht. Deshalb bin ich hierhergekommen und habe meine Geschichte erzählt. Danke.« Ich setzte mich wieder. Befreit. Erleichtert. Und erhielt einen aufmunternden Applaus dafür.
Die Last war nicht völlig von mir abgefallen, wie ich zu Hause feststellen musste. In der Gruppe hatte ich die Gefühle ausblenden können. Da hatte ich alles sachlich geschildert, Empfindungen in Worte gekleidet. Zu Hause überfielen mich all diese Gefühle erneut. Die Hilflosigkeit, die ich verspürt hatte, als Mick mich gegen die Wand gedrückt hatte. Die Angst vor dem, was er mir noch hätte antun können.
Die Angst war mein ständiger Begleiter geworden. Ein Begleiter, den ich gern loswerden wollte, der sich aber so tief eingenistet hatte, dass es fast unmöglich schien. Diese Angst hatte ich durch mein Geständnis heute Abend aufs Neue heraufbeschworen, und sie schnürte mir die Kehle zu und trieb mir die Tränen in die Augen. Ich hatte mir die Tränen verboten und mich voll auf meinen Umzug und die Sicherheitsmaßnahmen konzentriert. Doch es wurde Zeit, endlich alles herauslassen.
Ich nahm mir meine dicke Bettdecke, hüllte mich darin ein und setzte mich auf meine kleine Dachterrasse. Die Aussicht war herrlich, und ich saß sehr gern hier, nicht nur, wenn es warm war.
Der Himmel war fast dunkel. Nur am Horizont war ein heller Streifen zu sehen, wie ein Band, das die Erde schützend umschloss. Es war wieder ein sonniger Tag gewesen. Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten wie kleine Diamanten.
Ich legte die Füße auf den Stuhl vor mir und stürzte ein erstes Glas Tequila hinunter. Noch ein zweites und Wärme breitete sich in mir aus. Genüsslich sog ich die kühle Abendluft ein und merkte, wie ich mit jedem Ausatmen ruhiger wurde. Ich liebte die Nacht. Die Luft war klarer, die Geräusche gedämpfter, die Welt kam zur Ruhe. Das war der Moment, in dem auch ich entspannen konnte. Ein weiteres Glas, schnell heruntergestürzt, half mir dabei. Ich lehnte den Kopf nach hinten, sah in die Weite des Nachthimmels und ließ den Tränen freien Lauf. Tränen der Angst, der Hilflosigkeit, der Panik. Der Wut. Und der Einsamkeit.
*
Ich wurde nicht verrückt, denn ich schlief tatsächlich ungestört in meiner Betthöhle und erwachte spät am Freitagabend. Zu spät. Die Sonne war längst untergegangen.
Mein Leben hatte für gewöhnlich einen festen Rhythmus. Wenn man in den Tag oder die Nacht hineinlebte, wurde man träge und antriebslos. Deshalb waren feste, wiederkehrende Arbeiten und Termine für mich wichtig, um nicht in Lethargie zu verfallen. Wenn man mehrere Hundert Jahre lang gelebt hatte, konnte es durchaus vorkommen, dass man seines Daseins überdrüssig wurde. Dagegen halfen feste Strukturen. Zumindest mir.
Wenn ich ausging, tat ich das immer erst gegen Abend. Es war nicht so, dass ich bei Tageslicht zu Staub zerfallen würde. War ich als Mensch auch nicht. Aber, wie man vielleicht unschwer erraten kann, falle ich ein bisschen auf. Nicht nur durch mein ausnehmend hübsches Äußeres. Nein, vor allem durch meine weiße Haut. Ich muss gestehen, dass ich, wenn ich nicht gerade getrunken habe, ein wenig … ungesund aussah. Um nicht zu sagen, tot. Und meine Haut war auch empfindlicher als früher. Was nicht weiter schlimm war, da meine Wunden schnell heilten. Dennoch beschränkte ich meine Spaziergänge und Stadtbummel stets auf den späten Nachmittag oder besser noch den frühen Abend und den Rest der Nacht und mied die sonnigen Tage. Was nicht schwer war. Hier im Norden war es meist diesig, die Sonne strahlte selten in ihrer vollen Schönheit vom Himmel. Welch schrecklicher Gedanke, als Vampir nie wieder die Sonne sehen zu können!
Ich sprang unter die Dusche, nachdem ich mir von James wieder die sportliche Variante meiner Garderobe hatte herauslegen lassen. Wenig später gönnte ich mir eine schnelle Jagd und befreite die Welt von einem weiteren Kinderschänder. Widerlich, die Bilder, die sich mir aufdrängten, aber ich hatte Verlangen nach frischem, pulsierendem Blut. Außerdem wollte ich rosiger aussehen. Meine Haut sollte zumindest den Anschein erwecken, menschlich zu sein, denn – natürlich – hoffte ich, sie wiederzusehen.
Kaum war ich aus meinem todesähnlichen Schlaf erwacht, hatte ich Louisas Bild vor Augen gehabt. Wie sie mit diesem blöden Sterblichen flirtete, und wie sie in ihrem großen Bett lag. Allein. Ich fragte mich, wie ich es schaffen sollte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wollte, dass sie mit mir flirtete. Deshalb ging ich aus. Sie sollte, verdammt noch mal, mich so anlächeln!
Ihr Duft wehte mir bereits in die Nase, als ich noch einige Häuser entfernt war. Ich schwang mich auf das nächste Dach und sah sie. Louisa saß auf ihrer Dachterrasse, obwohl die Nacht kühl war. Völlig geräuschlos landete ich neben ihr. Sie schlief und sah so entzückend aus, dass ich sie eine Weile betrachtete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in tiefen gleichmäßigen Atemzügen, ihr Gesicht war völlig entspannt. Sie hatte sich in eine Bettdecke gewickelt, doch ihr rechter Arm war zur Seite gefallen und die Decke auf dieser Seite auch. Behutsam nahm ich ihren Arm am Ärmel und musste mich zurückhalten, nicht ihre Hand zu ergreifen. Sanft legte ich ihn ihr auf den Bauch, um sie wieder zudecken zu können. Es war zu kalt, um hier draußen zu schlafen. Ich schüttelte den Kopf. Mein Blick fiel auf den Boden neben sie. Ein Glas und eine fast leere Flasche Tequila standen da. Das erklärte den süßlich-herben Duft nach Agave.
Ich seufzte und blickte mir erneut ihr schönes, vollkommen entspanntes Gesicht an. Waren das getrocknete Tränen auf ihren Wangen, die im Mondlicht leicht glitzerten? Ich beugte mich über sie und roch noch einmal an ihr. Sog ihren Duft ein. Er war so köstlich! Mühsam widerstand ich dem Drang, sie zu berühren. Ihr die Wange zu streicheln oder meine kalte Hand an ihren Hals zu legen, um das pulsierende Blut zu spüren. Ich konnte sie unmöglich hier draußen liegen lassen. Sie würde sich erkälten. Vor allem, wenn die Flasche Tequila voll gewesen war, was ich nicht hoffte. Was war passiert, dass sie nachts auf ihrer Terrasse schlief, nachdem sie sich offenbar betrunken und geweint hatte? Hatte dieser Sterbliche etwas damit zu tun? Womöglich hatte er ihr wehgetan? Sie nicht mehr sehen wollen? Eine grimmige Genugtuung stieg in mir auf, denn dann hätte ich freie Bahn. Ich warf noch einen Blick auf ihr zartes Gesicht mit den hübschen hohen Wangenknochen. Sollte er ihr wehgetan haben, würde ich ihn finden und ihn bezahlen lassen. Mit der einzigen Währung, die ich akzeptieren würde. Mit seinem Blut.
Ich richtete mich wieder auf, überlegte einen Moment und hob sie dann ganz behutsam samt ihrer Decke hoch. Ein kleiner Seufzer entrang sich ihrer schlafenden Brust und ließ mein kaltes Herz vor Freude hüpfen. Nachdem ich sie in ihr Bett gelegt hatte, ohne dass sie davon aufgewacht war, verließ ich ihre Wohnung wieder. Ich sollte nicht hier sein, auch wenn ich mich gern ein wenig umgesehen hätte. Aber ich hatte schon zu viel getan. Viel zu viel. Jetzt hoffte ich, dass die Flasche Tequila voll gewesen war, als sie angefangen hatte zu trinken, dann würde sie sich hoffentlich nicht daran erinnern, dass sie nicht selbst ins Bett gegangen war. Leise zog ich die Terrassentür hinter mir zu, warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf ihr schlafendes Gesicht und sprang auf den Dachfirst. Ich hockte mich hin und genoss eine Weile die ebenfalls schöne Aussicht von dort oben.
Dieses schlichte Geschöpf wurde immer sonderbarer. Ihre Tränen mussten irgendetwas mit den enormen Sicherheitsvorkehrungen in ihrem kleinen Fort Knox zu tun haben. Und sie hatte ein Alkoholproblem, aber hatten wir nicht alle unsere Leichen im Keller? Ob dieser Eric bald zu meinen Leichen, und damit meinte ich nicht die sprichwörtlichen, zählen würde, würde ich morgen Nacht herausfinden. Auf diesem Konzert. Vorher musste ich mehr über dieses Konzert erfahren und ein paar Hirnis beschimpfen. Beides ging am besten von meinem Computer aus.
*
Ich erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen und drehte mich stöhnend auf die andere Seite. Weg von dem strahlenden Sonnenschein, der durch die Terrassentür fiel. Hatte ich wieder vergessen, die Jalousie herunterzulassen? War ja auch egal. Über die Terrasse würde keiner einsteigen. Hör auf mit dieser Verfolgungsangst! Ich drehte mich zurück auf den Rücken. Wann war ich überhaupt ins Bett gegangen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Meine Güte, musste ich viel getrunken haben. Nicht mehr lange, und ich würde zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker gehen müssen.
Es hatte gutgetan, die Tränen endlich ungehemmt herauszulassen. Dabei hatte der Tequila geholfen. Er hatte mich entspannt und nachher beruhigt, als keine Tränen mehr kamen. Nun fühlte ich mich besser. Als hätte sich der dicke steinharte Knoten, zu dem sich meine Innereien verschlungen hatten, gelöst. Ich konnte wieder freier atmen, fühlte mich gelöster und leicht. Aber mein Kopf dröhnte so stark, dass ich mich wieder umdrehte. Es war Samstag, und normalerweise nutzte ich diesen Tag für gemütliche Einkaufsbummel. Heute würde ich mal vom Üblichen abweichen und einfach weiterschlafen. Vielleicht traf das auch auf heute Abend zu. Wenn ich Eric wiedertraf.
Annie holte mich um sieben Uhr am Abend ab, und wir gingen zu Fuß zur Konzerthalle. Das Wetter war angenehm mild, und die frische Luft tat meinem Kater gut.
»Und, Josh und du, seid ihr jetzt fest zusammen?« Wir hatten uns die ganze Woche nicht gesprochen. Ich war irgendwie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen und hatte nicht mehr dran gedacht.
»Ja, kann man so sagen«, erwiderte Annie, grinste mich von der Seite an und wiegte den Kopf hin und her, sodass ihre kurzen Locken wippten. »Er kann unglaublich gut küssen und ist verdammt gut im Bett. Aber erzähl mal, ist zwischen dir und Eric noch was gelaufen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, hätt ich mir ja denken können.«
»Dieser Zigarettenmief, ich kann das einfach nicht ertragen«, erklärte ich, obwohl das ja nur zum Teil stimmte.
»Du findest immer ein Haar in der Suppe. Wie bei dem Langhaarigen im R7. Im Gegensatz zu Eric, der ja schon supersüß ist, war der auf einer Skala von eins bis zehn ’ne glatte Zwölf und hat dich angemacht. Und du hast ihn stehen lassen, wegen seiner langen Haare. Manchmal hast du echt ’ne Macke.«
Ich merkte, dass sie es nicht böse meinte. Annie wusste, was mit Mick passiert war, und dass ich seitdem keinen Mann mehr in meine Wohnung mitgenommen hatte. Von den Panikattacken und meinen Ängsten hatte ich ihr allerdings nichts erzählt. Kein Wunder, dass ich merkwürdig auf sie wirkte. Nüchtern betrachtet hatte ich tatsächlich eine Macke. »Mag sein, aber ich glaube, dieser Langhaarige war eine Nummer zu groß für mich. Mal schauen, wie’s heute mit Eric läuft. Ich hab sicherheitshalber Kaugummi dabei. Vielleicht versteht er den Wink ja.«
Annie schüttelte lachend den Kopf. »Ich sag ja, du spinnst.« Sie legte den Arm um mich und drückte mich kurz. »Aber ich mag dich trotzdem. Wird bestimmt ein lustiger Abend.«
Wir gingen schweigend weiter und hingen unseren Gedanken nach. An den Langhaarigen hatte ich nicht mehr gedacht, aber ich musste Annie recht geben, was ihn betraf. Eric war hübsch mit seinen wirren dunklen Haaren und den azurblauen Augen und vor allem seinen kräftigen Muskeln. Dieser Langhaarige mit seinem bleichen Gesicht und dem durchdringenden Blick war allerdings eine andere Klasse. Während Eric in der Jugendauswahl spielte, hatte der Langhaarige bereits die Champions League gewonnen. Zum zweiten Mal in Folge. Aber trotzdem war seine Anmache blöd und einfallslos gewesen. Wahrscheinlich war er ein verwöhnter, reicher Schnösel, der wusste, dass er gut aussah, und sonst nicht viel im Kopf hatte.
Während Annie und Josh am Eingang der Konzerthalle gleich in einer Umarmung und einem langen Kuss versanken, begrüßten Eric und ich uns eher verhalten, indem wir uns die Hände gaben und uns anlächelten. Das Konzert war komplett ausverkauft, und es war rappelvoll in der großen Halle. Obwohl ich die Band nicht kannte und solche Musik sonst nicht hörte, gefiel sie mir recht gut, und ich hielt es lange in der ersten Reihe aus. Aber hätte ich geahnt, dass wir in so ein Gedränge kommen würden, hätte ich mir ein T-Shirt mit Ärmeln angezogen und nicht dieses Spaghettiträger-Top. Zwischen all den schwitzenden und tatschenden Menschen fühlte ich mich unwohl und machte den anderen ein Zeichen, dass ich mich in den hinteren Bereich zurückziehen wollte. Eric folgte mir unaufgefordert, und ich hielt ihn nicht davon ab.
*
O ja, da saß sie. Louisa. Ihre langen dunklen Haare flossen wie Seide ihren Rücken hinab. Sie hatte sich auf die Kante des Barhockers gesetzt, schlaues Mädchen. Elegant und nicht zu aufreizend auf einem Barhocker zu sitzen, war eine schwierige Angelegenheit, an der die meisten Frauen scheiterten. Sie strich sich die fülligen Haare mit einer leichten Bewegung nach hinten und gab einen schlanken Hals mit einer verführerisch pulsierenden Schlagader preis. Was war das auf ihrem kaum verhüllten Rücken? Eine Tätowierung, und wie es schien eine große. Entblößt durch das ärmellose, eng anliegende Top, aber versteckt durch ihre Haarpracht. Sexy. Absolut sexy.
Ich stand auf der anderen Seite der Konzerthalle an den Tresen gelehnt, ein Glas Whiskey in der Hand und beobachtete sie. Ich hatte mich in Schale geworfen, die Haare wieder zu diesem Fußballerzopf gebunden, und das warme Blut zweier Opfer durchströmte mich. Sie konnte mich nicht sehen. Ich sie schon.
Und was ich sah, gefiel mir nicht. Sie flirtete schon wieder mit diesem Eric, den sie vergangene Woche hatte stehen lassen. Aus der Frau sollte mal einer schlau werden. Jetzt nahm dieser Mistkerl auch noch ihre Hand und sie zog sie nicht wieder weg. Er hielt ihre kleinen zarten Finger mit seinen breiten Wurstgriffeln fest und freute sich wie ein Honigkuchenpferd.
Mist, verdammter! Vor Wut hatte ich das Glas in meiner Hand zerquetscht, und die einzelnen Scherben fielen klirrend zu Boden, was natürlich nur ich hören konnte bei den lauten Beats in der überfüllten Konzerthalle. Ich ließ mir eine Serviette geben, auch wenn ich nicht blutete. Zum Glück war das Glas leer gewesen, sonst hätte ich jetzt überall Flecken auf meinem Shirt, was meine Chancen bei ihr nicht verbessert hätte. Ich musste unbedingt diesen Blindgänger loswerden. Das sollte nicht allzu schwer sein. Immerhin war ich ein Vampir.
Auf dem Weg durch die sich windenden und tanzenden Leiber kam mir eine Erleuchtung. Halleluja! Vielleicht war das die Gelegenheit, auf die der Romantiker in mir so lange gewartet hatte? Ich jagte schon lange der Idee nach, eine Sterbliche zu finden, die sich in mich verliebte, ohne zu wissen, dass ich ein Vampir war. Es war beinahe unmöglich, eine Sterbliche auszuführen, die nicht irgendwann begriff, was ich war und dann entweder Angst bekam, den Verstand verlor oder mich anbettelte, sie zu »verwandeln«. Ich hatte als Vampir die Fähigkeit, die Menschen so sehr in meinen Bann zu schlagen, dass sie alles für mich tun würden und auch alles glaubten, was ich ihnen erzählte. Dafür genügten ein intensiver Blick und ein wenig Vampirmagie, wie ich es nannte.
Aber es erschien mir ein wenig mühselig, jeden Tag vor dem Zubettgehen meiner sterblichen Freundin die mentale Festplatte zu löschen und das drauf zu spielen, was sie glauben sollte, was ich war. War es nicht bei Computern häufig so, dass man Daten nie vollständig löschen konnte? Irgendein Rest blieb immer, der zur unpassenden Zeit mit einer total bescheuerten Fehlermeldung das System lahmlegte. Irgendwann würde meine sterbliche Angebetete mit den Worten »Es ist ein unbekannter Fehler aufgetreten. Schatzi wird heruntergefahren.« einschlafen und nicht wieder aufstehen? Nein. Das war keine Option. Ich beschloss etwas anderes.
Ich, der auffallend gut aussehende, betörende Vampir würde versuchen, das Herz von ihr, Madame Tristesse, zu gewinnen, und zwar ohne den Einsatz von Vampirmagie. Wobei die Betonung hier auf dem Wort versuchen lag, denn ich war mir absolut nicht sicher, ob es mir gelingen würde. Diese Frau hatte etwas, gegen das ich mich verdammt noch mal nicht wehren konnte. Es würde ein bisschen wie jagen sein. Nur erregender und nervenaufreibender, wie ich befürchtete. Halleluja.
Vorher musste ich noch etwas ausprobieren. Ich hatte eine erfolgreiche Jagd in den dunklen Seitengassen des Hafenviertels hinter mir. Ich war satt, das frische Blut durchströmte meinen Körper, wärmte ihn von innen heraus und ließ meine weiße Haut weniger bleich erscheinen. Meine Lippen waren gerötet und meine Augen klar mit einem schmalen roten Rand um die Iris herum. Aber das würde bei diesem Licht niemandem auffallen. Äußerlich erweckte ich den Eindruck eines blassen Menschen und nicht eines rosigen Vampirs. Ich sah mich nach einer geeigneten Dame um, der ich den Hof machen konnte. Ja, ich war ein bisschen verunsichert. Ich musste wissen, dass ich es noch konnte. Dass es nicht an mir lag, dass Louisa kein Interesse an mir gezeigt hatte.
Ich brauchte nicht lange zu suchen. An einem Bistrotisch blickten zwei hübsche weibliche Geschöpfe kichernd in meine Richtung. Ich warf die unbefleckte Serviette auf den Boden und ging langsam mit einem Lächeln zu ihnen.
Keine zehn Minuten später verließ ich die beiden wieder, begleitet von ihren schmachtenden Seufzern. Ja! Ich war der Größte! Siegessicher schlenderte ich näher an mein eigentliches Ziel heran. Louisa. Allein ihr Name war schon Musik in meinen Ohren.
Reiß dich zusammen, Alter, sonst kommt der Schwachkopf wieder aus dir raus und vermasselt es ein weiteres Mal. Eine dritte Chance hast du nicht. Jetzt oder nie.
Ich blieb in einiger Entfernung zu den beiden im Schatten stehen und beobachtete sie. Sie war entzückend, wie sie mit ihm flirtete. Das lief nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Sie verstanden sich prächtig, und daran, wie dieser Volltrottel sie immer wieder ansah, wenn sie wegsah, konnte ich unschwer erkennen, dass er mehr von ihr wollte als nur Händchenhalten. Soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Ich wartete den richtigen Moment ab, und der kam, als sie aufstand und in Richtung Toilette lief. Mir wäre es natürlich lieber gewesen, ich hätte mit ihm im dunklen Gang unten bei den Toiletten reden können, aber so würde es auch gehen. Ich beeilte mich, zu ihm zu kommen, ehe Louisa zurückkam, und bot ihm vierhundert Mäuse an, damit er die Kurve kratzte. Ich wollte mich ja nicht lumpen lassen. Außerdem hatte ich mir ja vorgenommen, bei dieser Jagd keine Vampirtricks einzusetzen.
Dieser miese Kerl überlegte keine fünf Sekunden, ehe er zugriff und sich das Geld in die abgegriffene Hosentasche stopfte.
»Du wirst dich unter einem Vorwand verabschieden und abhauen. Und frag auf keinen Fall nach ihrer Nummer, verstanden?«, sagte ich und empfahl mich. Ich drehte mich noch einmal um und machte ihm mit einer eindeutigen Geste klar, dass ich ihn im Auge behielt und dass er gut daran tat, genau das zu tun, was ich ihm aufgetragen hatte. Der kleine Scheißer hatte so die Hosen voll, dass er keine zwei plumpen Sätze später verschwunden war, nachdem sie lächelnd zurückgekommen war. Die Enttäuschung, die kurz in ihrem Blick aufflackerte und sich in Empörung verwandelte, tat mir ein bisschen leid. Aber, hey, ich hab die Regeln nicht gemacht. Wenn sie wüsste, für welch lächerlichen Preis er sie ohne mit der Wimper zu zucken hatte sitzen lassen und wenn sie außerdem wüsste, dass ich derjenige war, der den Preis bezahlt hatte. Aber das stand auf einem anderen Blatt und würde mir keine Kopfschmerzen bereiten. Ich hätte noch weit mehr bezahlt.
Ich näherte mich ihrem Rücken, stellte mich wie zufällig neben sie und bestellte einen Sambuca, versuchte aber nicht, in ihre Richtung zu schauen. Stattdessen sog ich ihren Duft tief in mich ein. Sie roch nach Blumen, Sonne, dezentem Parfüm und nach Louisa eben. Lieblich und einzigartig. Sie drehte sich zu mir um und sah mich nachdenklich an. Ich tat überrascht und hielt ihr mein Glas hin.
»Auch einen?«, fragte ich sie. »Siehst aus, als könntest du einen gebrauchen.«
»Äh, danke«, erwiderte sie etwas überrascht.
Ich bestellte mir einen Neuen. Louisa wartete artig, ehe sie mit mir anstieß und ihren herunterstürzte. Sie verzog den Mund und schüttelte sich.
Ich musste lachen und Regel Nummer eins kam mir in den Sinn: gib ihr nie die Zügel in die Hand. »Wir sind uns vergangene Woche schon begegnet, aber ich befürchte, da habe ich mich ziemlich dämlich angestellt.« Ich hatte meine Arme bequem auf dem Tresen abgestützt und ihr nur das Gesicht zugedreht, während ich das über meine Schulter hinweg sagte. Nun drehte ich mich ganz zu ihr um und hielt ihr meine Hand hin. »Das würde ich gern wiedergutmachen. Mein Name ist Dorian.«
Sie erkannte mich wieder und schien nicht gerade begeistert, gab mir aber trotzdem die Hand. Ich hätte schwören können, dass es einen kleinen Funken gegeben hatte, als sie mich berührte. Zumindest war es elektrisierend, ihre kleine, warme Hand in meiner zu spüren.
»Louisa«, sagte sie knapp und lehnte sich mit verschränkten Armen auf den Tresen. »Und wie würde so eine Wiedergutmachung aussehen? Nur mal angenommen, ich hätte Interesse an einer?«, fragte sie mich über die Schulter hinweg. Ihre Stimme klang skeptisch und neugierig zugleich.
Ich stütze mich neben ihr auf und bedeutete dem Barkeeper, uns nachzuschenken. Regel Nummer zwei: gib ihr niemals die Zügel in die Hand. »Was würde dir denn gefallen? Nur mal angenommen, du hättest Interesse daran?«
Sie drehte den Kopf weg und grinste. Bingo! War ich gut oder war ich gut? Eins zu null für Dorian. Nicht für den Vampir. Nein, das hier hatte nichts mit meinen vampirischen Kräften zu tun. Das war nur Dorian. Ich schob ihr das zweite Glas hin.
»Sag mal, verfolgst du mich?«
Dieses Mal stürzte ich meinen Sambuca nicht herunter, sondern trank ihn ganz langsam, um Zeit zu gewinnen. Sie war eine harte Nuss und machte es mir nicht leicht. Aber Regel Nummer drei: gib ihr niemals die Zügel in die Hand. »Ja, ist schon ein komischer Zufall, dass wir uns hier wiedersehen, nicht wahr? Bist du ein Fan von Smoking Aces?«
Natürlich hatte ich mich über die Band informiert, die hinter uns gespielt hatte. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht. Dem Internet sei Dank!
»Nö. Ich kannte sie nicht einmal. Du siehst aber auch nicht gerade wie der typische Rocker aus.« Ihre Haltung hatte eine leichte Wendung zu meinen Gunsten angenommen, als ihr Blick nun auf meine Garderobe deutete.
»Du aber auch nicht«, erwiderte ich und drehte mich ihr ebenfalls wieder zu, ohne ihr wirklich näher zu kommen.
Sie musste nun zu mir aufblicken. Vielleicht war es dafür noch zu früh, deshalb nahm ich lieber locker auf dem Barhocker Platz. Wenn sie sich zu mir umdrehte, hatte ich die halbe Schlacht schon gewonnen.
Sie metzelte meine Fußtruppen nieder, als sie sich wieder nach vorn drehte und unauffällig einen Blick über ihre andere Schulter warf.
»Hat es dir denn gefallen?«
»Ja, war ganz okay. Ist nicht so ganz meine Musik. Ich mag es lieber melodischer.«
»Dann tanzt du gern?«
»Ja, aber ich glaube, das weißt du schon«, antwortete sie und versetzte meinen Truppen damit einen weiteren harten Schlag.
Ja, hatte ich sie nicht letztes Mal beim Tanzen beobachtet? Bei der lauten Rockmusik hier würde ich wohl nicht wieder in den Genuss kommen, sie dabei betrachten zu können, während ich natürlich vor ihr tanzte. Ach, eine herrliche Vorstellung. Wir beide, tanzend in einer Umarmung versunken, uns wiegend im Rhythmus der Musik.
Ich spürte ihren Blick auf mir. Prickelnd. Sie räusperte sich, und ich wagte kaum, aufzusehen. Jetzt wollte sie sich bestimmt aus dem Staub machen. Das war’s. Kein hasta la vista, baby, aber ich war kein Feigling. Ich würde dem Tod ins Auge sehen. In graublaue Augen, die mich so unergründlich anblickten, dass ich für einen Moment das Atmen vergaß. Sie beugte sich ein wenig in meine Richtung vor. Ein letzter, mutiger Trupp Soldaten fiel über ihre Fußtruppen her, ein Gemetzel ohne Gleichen, dann die Kavallerie … Jäh zuckte ich zusammen. Wie konnte sie in diesem Schummerlicht das Rot in meinen Augen erkennen, das sie gerade fasziniert angesprochen hatte?
Jetzt wäre es Zeit für ein bisschen Vampirmagie, aber ich blieb standhaft. Ich wollte sie erobern – ohne zu schummeln. Deshalb schob ich es schnell auf die schlechte Luft. Vielleicht würde sie ja mit mir vor die Tür gehen? Nein, nachher stand ich allein draußen und – General gefallen, Schlacht verloren. Es war höchste Zeit für ein Kompliment, sonst würde sie womöglich wirklich davonrauschen. Oberteil? Nein, das hatte ich schon. Haare hatte dieser Eric schon abgegrast. Denk nach, Junge, denk nach! Ihr Lachen. O ja, das war definitiv ein Kompliment wert. Nur lachte sie nicht. Hände, Finger, Hintern? O Gott, auf keinen Fall ihren Hintern erwähnen! Augen? Auch zu zweideutig.
Da kam mir, dem Himmel sei Dank, ein Lächeln zu Hilfe. Ein zauberhaftes verträumtes kleines Lächeln. Ich beugte mich ein wenig vor, um das Kompliment nicht brüllen zu müssen. Ihr Duft war betörend. Natürlich roch ich ihr Blut, aber das Verlangen danach war kaum vorhanden. Ihr Duft als Mensch war um ein Vielfaches aufregender. Zu gern hätte ich mein Gesicht an ihren Hals gelegt, um ihn tiefer einzusaugen. Hätte in ihre vollen rotbraunen Haare gegriffen, um auch deren Duft einzuatmen. Und ihre Haut berührt. Sie hatte hellbraune weich wirkende Haut. Aber ich wusste nicht, ob ich so weit gehen konnte, nachdem ich mich vergangene Woche so dämlich angestellt hatte. Außerdem hatte sich dieser Eric ja schon an sie herangemacht. Noch so eine Anmache würde sie wahrscheinlich abblocken.
Ein Seufzer entrang sich meiner geplagten Brust und ich rückte lieber von ihr weg, ehe sie sich davon bedroht fühlen konnte. Herrgott, warum hatte ich mich auch so breitbeinig hingesetzt? Sie musste sich ja von mir förmlich eingefangen fühlen. Schnell stand ich auf. Verdammt eng zwischen diesen bescheuerten Barhockern, aber ihr noch einmal so nahe zu sein, war ein Genuss ohne Gleichen.
*
»Sambuca, bitte«, hörte ich eine tiefe Stimme neben mir, die mir seltsam bekannt vorkam.
Nicht in dem Sinne bekannt, dass ich sie schon oft gehört hätte, sondern dass ich sie erst vor Kurzem zum ersten Mal gehört hatte. Und dass sie einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen hatte. Ich drehte mich um, um der Sache auf den Grund zu gehen. Der Inhaber der Stimme stand direkt hinter mir. Relativ groß – geht aber grad noch; extrem gut sitzende Bluejeans, Langarmshirt, vorn nicht ganz zugeknöpft, unbehaarte Brust – lecker; ziemlich blasser Teint; Frisur wie David Beckham – sehr sexy, obwohl langhaarig; schöne Augen. Diese Checkliste lief bei mir immer automatisiert ab, da konnte ich nichts machen. Es war wie Hintergrundmusik im Kaufhaus.
Deshalb bekam ich seine Frage nicht mit, sondern sah nur das erhobene Glas, das er mir hinhielt. Ich nahm es dankend an und stürzte den Sambuca hinunter. Fürchterliches Zeug, dachte ich, als es mich schüttelte. Just in dem Moment, als er mir erzählte, wo wir uns begegnet waren, fiel es mir wieder ein. Das war die »Champions League« aus dem R7. Und ja, er hatte sich verdammt dämlich angestellt, da hatte er recht. Aber wie er mir so freundlich und doch gleichgültig die Hand hinhielt, konnte ich ihn nicht noch einmal stehen lassen. Außerdem wollte ich nicht allein in dem Saal bleiben. Nachdem dieser Mistkerl Eric sich aus dem Staub gemacht hatte, weil er angeblich müde war, wollte ich mich nicht bei Annie und Joshua zum sprichwörtlichen fünften Rad machen. Das gehörte nicht unbedingt zu meinen Lieblings-Samstag-Abend-Beschäftigungen.
Also gab ich Dorian die Hand, dachte an einen möglichst festen Händedruck und wäre fast zurückgezuckt. Es war, als hätte ich eine gewischt bekommen. Seine Hand war kalt und hart, und meine Handfläche fing bei seiner Berührung an, zu kribbeln. Ich drehte mich schnell weg und verschränkte die Arme, um mir unauffällig die Handfläche zu reiben. Sein Händedruck hatte ein sonderbares Gefühl darauf hinterlassen.
Dieses Mal stellte er sich nicht so blöd an. Die Beckham-Frisur hatte etwas Verwegenes, und sein Lächeln war dieses Mal echter. Nicht siegessicher und überheblich wie vergangene Woche, sondern ehrlicher. Als wollte er es ernsthaft wiedergutmachen.
Er war zwar immer noch nicht wirklich mein Typ, aber jetzt gefiel er mir. Er sah auf jeden Fall um einiges besser aus als Eric, der mich hier sitzen gelassen hatte, und er war schlagfertig und irgendwie geheimnisvoll. Vielleicht sollte ich einfach mal abwarten, was sich so entwickelte? Ich warf einen Blick in den Konzertsaal, der sich hinter mir auftat, und in dem, da das Konzert beendet war, ein DJ für Musik sorgte. Von Annie und Joshua keine Spur. Wahrscheinlich knutschten die in einer dunklen Ecke rum – und ich stand hier mit dem Langhaarigen. Er hielt den Blick gesenkt und schwieg, während ich ihn unauffällig musterte. Lange Haare hin oder her, er sah verdammt gut aus und hatte sehr sinnliche Lippen, die ich gern mal … Ich räusperte mich, erschrocken über meine eigenen Gedanken. Er sah auf und unsere Blicke trafen sich. Ich fühlte mich sofort von seinem gefangen. Er hatte wunderschöne grüne Augen mit, Moment mal, was war das denn?
»Was ist denn mit deinen Augen?«, fragte ich ihn und beugte mich vor, um es besser sehen zu können. War das ein roter Rand da um seine Iris?
»Ähm, wahrscheinlich ist das der Zigarettenrauch hier«, antwortete er, »davon bekomm ich immer rote Augen.«
»Ach, dann bist du Nichtraucher?«
Er nickte. »Ist vielleicht etwas aus der Mode, aber ich kann den Glimmstängeln nichts abgewinnen.«
Das überraschte mich und machte die langen Haare wieder wett. Dorian hatte eine reelle Chance bekommen. Na ja, eigentlich hatten seine sinnlichen Lippen schon für einen Bonuspunkt auf meiner Checkliste gesorgt. Ich hatte mich nicht wieder weggedreht und stand ungewollt zwischen seinen Beinen, die mich zwar nicht berührten, an denen ich jedoch nicht vorbei kommen würde, ohne sie zu streifen. Ich müsste mich nur ein wenig vorbeugen, dann hätte ich seine Lippen berühren können. Perfekte Szene für eine Liebesgeschichte. Ich musste grinsen.
»Du hast ein bezauberndes Lächeln«, raunte er mir zu.
Er hatte sich ein wenig vorgelehnt. Nur ein kleines Stück weiter, dann würden sich unsere Lippen treffen. Ich konnte seinen Atem bereits auf meinem Gesicht spüren und erschauderte. Zu gern würde ich ihn noch einmal berühren, nur um zu schauen, ob es wieder so ein Kribbeln hinterlassen würde. Und seine Lippen sahen so weich aus. So verheißungsvoll sinnlich. Vielleicht zögerte ich einen Moment zu lange, aber mit einem kleinen Seufzer zog er sich wieder zurück. Ich richtete mich auf, hätte mich gern auch hingesetzt, aber auf dem Barhocker saß man einfach zu unbequem. Plötzlich fühlte ich mich unbehaglich und ein wenig gefangen zwischen seinen langen Beinen, obwohl das mit Sicherheit nicht seine Absicht gewesen war. »Ähm, ich sollte jetzt vielleicht …«, beinahe hätte ich gesagt, ich wolle nach meiner Freundin sehen. Was ja auch stimmte, aber mit der Ausrede hatte ich ihn schon einmal stehen gelassen.
Er war blitzschnell auf den Beinen, verharrte einen winzigen Moment ganz nah vor mir, sodass mir die Luft wegblieb, und trat dann aus dem winzigen Zwischenraum unserer zwei in den Boden verankerten Barhocker heraus. »Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe kommen.«
»War ja nicht so schlimm«, erwiderte ich atemlos und kam ebenfalls zwischen den Barhockern heraus.
Eigentlich wollte ich nicht gehen, stellte ich erstaunt fest. Ich wollte ihn küssen, in seine Haare greifen und ihn überall berühren. Am liebsten hätte ich ihn mit nach Hause genommen, aber das kam überhaupt nicht infrage. Er wusste, wie gut er aussah, das hatte ich schon bei unserer ersten Begegnung festgestellt. Er spielte mit mir. Ich würde es bestimmt bereuen, wenn ich so einen als Ersten nach der Sache mit Mick in meine Wohnung mitnahm.
Also verabschiedete ich mich stotternd. »Ich glaube, ich werd dann mal … nach Hause … und noch … meine Freundin … Ich werd dann mal gehen.« Ich merkte bereits, dass ich puterrot anlief, und wollte mich schnell wegdrehen. »Vielen Dank für den Sambuca. Und die Unterhaltung«, sagte ich noch rasch, weil es mir ein wenig leidtat, ihn wieder stehen zu lassen.
Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich war knallrot angelaufen und musste hier weg. Schnell. Ich merkte, dass er mir nachsah. Spürte es an dem Kribbeln im Nacken und widerstand dem Drang, mich umzusehen. An der Tür angekommen, drehte ich mich dennoch um. Ich hatte recht, er sah mir nach. Vielleicht hätte ich ihm die Gelegenheit geben sollen, nach meiner Nummer zu fragen, anstatt davonzulaufen. Nun war es zu spät.
Als ich ins Taxi eingestiegen war, blickte ich mich noch einmal zur Tür um. Da stand er. Dorian. Blass und gut aussehend. Lächelnd. Seltsamer Bursche.
*
Wirklich ein sonderbares Geschöpf. Ich sah ihr hinterher – ah, dieser Hüftschwung! – und hoffte, sie würde sich noch einmal umdrehen. Gleich würde sie aus der Tür sein und … und … jawoll! Sie blickte zurück, und ich wusste, dass sie wusste, dass ich ihr die ganze Zeit hinterhergesehen hatte. General schwer verwundet, aber nicht lebensgefährlich, Schlacht unentschieden, Truppen bilden sich neu.
Ich bezahlte die Drinks und folgte ihr nach draußen. Um noch einen letzten Blick auf sie zu werfen, ehe sie ins Dunkel der Nacht entschwand. Ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sie in ein Taxi stieg. Sie sah aus dem Fenster und entdeckte mich. Sie lächelte kurz, ehe das Taxi wendete. Zufrieden beschloss ich, wieder hineinzugehen. Ich hatte unter herben Verlusten einen Sieg davongetragen. Es war Zeit für ein wenig Amüsement. Also mischte ich mich unters Volk, um mich noch von weit weniger interessanten Sterblichen anschmachten zu lassen. Macht Platz für den General!