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Das Blut des Russen strömte stark durch ihren Körper, als Trudy widerwillig von ihm abließ. Sie hatte hin und wieder von ihm trinken dürfen, doch nie so viel wie beim ersten Mal. Immer nur ein bisschen, gerade genug, um die Kraft zu spüren und sie nach mehr lechzen zu lassen. Der Russe hatte wie üblich nicht einmal den Blick von dem Fernsehgerät abgewandt, das vierundzwanzig Stunden am Tag lief.
Trudy fand es aufregend, wie stark sie sein Blut mit jedem Mal machte. Sie wollte sich bei ihm für das Geschenk bedanken, das er ihr bereitwillig machte. Doch selbst, als sie sich nackt über ihn beugte, drückte er lediglich ihren Kopf nach unten und glotzte die ganze Zeit weiter diese Talentshow, während sie sich an seinem mächtigen Schwanz zu schaffen machte. Kurz bevor er kam, packte er grob ihren Kopf und drückte ihn ein Stück tiefer. Als er fertig war, schob er Trudy beiseite.
Sie gab es auf, ihm zu danken, dennoch ließ er sie immer wieder von sich trinken. Sie hätte Steve mittlerweile jederzeit den Garaus machen können, wenn sie gewollt hätte, doch noch brauchte sie ihn. Ihr Plan nahm Gestalt an und er war dumm genug, nicht zu begreifen, was sie vorhatte. Außerdem wusste sie noch immer nicht, wie sie ihn töten konnte. Sie hoffte, dass der alte Vampir das vielleicht für sie erledigen würde oder ihr zumindest zeigen würde, was sie zu tun hatte.
Trudy hatte mittlerweile neue Gefährten gefunden. Jil und Jayden. Sie waren Geschwister, oder zumindest sahen sie sich sehr ähnlich, und Trudy war fasziniert von ihrer Schönheit. Sie waren schlank, sehr groß und mit ihren blonden Haaren sahen sie aus wie Engel, auch wenn ihre Blicke kalt und berechnend waren. Sie gaben ihr das Gefühl wunderschön zu sein, wenn sie Sex zu dritt hatten. Und das hatten sie manchmal stundenlang. Wie Trudy gehofft hatte, hatte Steve sich einer anderen zugewandt. Zumindest vorerst ließ er sie deshalb bis auf ein paar harte Quickies, wenn sie zusammen auf der Jagd waren, in Ruhe. Jagen wollte er nur mit ihr.
Das Leben in dem Vampirhaus war aufregend, hemmungslos und wild. Neben dem Russen lebten noch sieben andere Vampire mehr oder weniger durchgängig dort. Jeder ging und kam, wie er wollte, und auch wenn es nur wenige Regeln gab, kam es nie zum Streit in ihrem neuen Zuhause. Wenn jemand einen Sterblichen mit ins Haus brachte, musste er ihn oder sie mit den anderen teilen, das war eine der Regeln. Wollte man seine Mahlzeit allein genießen, musste man das außerhalb des Hauses tun. Um die Leiche kümmerte sich derjenige, der den Sterblichen getötet hatte, egal wie viele sich vorher schon an ihm oder ihr bedient hatten.
Was Trudy sehr schnell von Jil lernte, war das häppchenweise trinken. Gerade genug, um den ersten Hunger zu befriedigen aber nicht so viel, dass das Opfer starb. So hatte man länger etwas von seiner Beute. Im Gegensatz zu Steve gingen Jil und Jayden sehr raffiniert bei ihrer Jagd vor. Sie suchten sich ihre Opfer sehr sorgfältig aus, spielten mit ihnen, blendeten sie mir ihrer Schönheit, verführten sie, machten sie hörig. Trudy fand es aufregend, ihnen dabei zuzusehen.
Eines Abends sprach sie die beiden auf den alten Vampir an. Sie hatten bereits von ihm gehört, wussten aber nur Gerüchte.
»Halt dich lieber von dem fern«, riet ihr Jayden überraschend ängstlich. »Ehrlich. Mit den Alten ist nicht zu spaßen. Die sind von einem ganz anderen Schlag.«
Trudy sah ihn erstaunt an, diesen großen blonden Engel mit den grausamen Augen, und konnte sich nicht vorstellen, dass ihm jemand Angst machen konnte. »Ich will ja nur mal mit ihm reden.«
Jayden packte sie grob am Arm und zog sie mit einem Ruck zu sich heran. Er war ungefähr zwei Köpfe größer als sie und ragte bedrohlich vor ihr auf. »Trudy, bleib bloß weg von dem. Du hast keine Ahnung, was der für Kräfte hat.«
Sie blickte fragend zu Jil, die entspannt im Sessel neben dem Bett lümmelte und sich die Fingernägel lackierte. »Jayden hat mal einen der Alten getroffen«, sagte sie und sah sie eindringlich an, »das hat ihn ziemlich beeindruckt.«
»Ich mein das ernst«, erwiderte der Vampir wütend, »lass die Finger von dem, wenn dir deine Unsterblichkeit lieb ist.«
Trudy hob abwehrend die Hände. »Ist ja gut. Keine Aufregung.« Sie gab sich nach außen hin geschlagen, obwohl sie seine Worte nur noch entschlossener machten. Unbedingt wollte sie herausfinden, welche Kräfte der Alte hatte. Es würde bestimmt ein Leichtes sein, ihn um den Finger zu wickeln, sodass er sie als seine Schülerin akzeptierte, aber das musste sie Jayden ja nicht erzählen.
*
Mein Plan für Freitag stand bereits fest, als ich am frühen Abend in die Stadt fuhr. Ich war ausgeruht und hatte nicht ein einziges Mal seit unserer Begegnung auf diesem Konzert heimlich auf ihrem Balkon gehockt. Wie schon am vergangenen Wochenende fuhr ich wieder den Shelby. Solange das Pferd gewann, sollte man weiter darauf setzen. Ich hatte mir auch wieder diesen Fußballer-Zopf gemacht. Ganz ehrlich, es gefiel mir. Dieses Mal hatte James mir eine dunkle Jeans und ein langärmliges schwarzes Hemd mit hellblauen Nadelstreifen hingelegt. Beides passte hervorragend zusammen. Er hatte einen guten Geschmack.
Ich trug immer langärmlig, damit ich nicht zu viel meiner weißen Haut zeigte. Ich schaffte es zwar immer, eine geheimnisvolle Aura um mich herum zu schaffen, die mir als Ablenkungsmanöver für meine Blässe diente. Dennoch würde sie auch heute Abend wieder einen rosigen Touch bekommen. Ich würde zuerst jagen gehen. Mich dürstete schon die ganzen Tage danach, und ich hatte es mir für Freitag aufgehoben.
Genau wie sie. Louisa. Heute Abend würde ich sie wiedersehen. Ich würde zurückgehen an den Ort des Geschehens, wo ich sie das erste Mal getroffen hatte. Und ich wusste, sie würde da sein. Zwei Mal hatte sie sich nach mir umgedreht. Das war ein gutes Zeichen, nahm ich an. Nein, ich wusste natürlich nicht, ob sie da sein würde. Ich hoffte es, doch wenn man hoffte, rechnete man eigentlich mit dem Gegenteil. Deshalb wusste ich es, basta!
Mit einer grimmigen Befriedigung, wieder zwei Ekelpaketen den Garaus gemacht zu haben, und mehreren Litern warmen, pulsierenden Blutes in mir betrat ich das R7 und begab mich in die obere Etage. Von dort hatte ich den perfekten Ausblick. Es war noch früh. Ich setzte mich an die Bar und bestellte mir einen Whiskey. Und wartete.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis sie endlich kam. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Wahrscheinlich waren es nicht mehr als ein, zwei Stunden, die ich da gesessen und getrunken hatte, doch wenn man auf etwas wartete, lassen sich die Minuten besonders viel Zeit mit dem Verstreichen. Und wenn man dabei ständig auf die Uhr schaute, bekam man es auch noch bestätigt. Quasi schwarz auf weiß oder, wie in meinem Fall, silber auf weiß.
Ihr Duft wehte wie eine verlockende kleine Brise zu mir hoch. Sie wollte mich wiedersehen. Warum sonst sollte sie an einem Freitagabend in eine Disco gehen? Also wirklich.
Ich stellte mich an das Geländer der Empore, um einen Blick nach unten zu werfen, und musste nicht lange suchen, bis ich sie auf der Tanzfläche entdeckte. Sie bewegte sich geschmeidig nach keinem erkennbaren Schema zur Musik und sah entzückend aus. Sie trug wieder ein schwarzes Top mit schmalen Trägern, das vorn hochgeschlossen war, aber eine tiefe Aussicht auf ihren tätowierten Rücken gewährte. Nicht zu tief. Gerade so, dass man neugierig wurde. Ihre Haare reichten ihr fast bis zur Taille und verdeckten das meiste davon, aber wenn sie sich hin und her wiegte, erhaschte man einen Blick auf nackte Haut und schwarze Linien. Aufregend! Ihr Blick schweifte umher und traf meinen. Sie lächelte und wandte sich ab. Bingo! Sie war tatsächlich meinetwegen hier. Nicht, dass ich je daran gezweifelt hätte. Meinem Charme entkam keine!
Als sie wenig später nach oben kam, einen weiten Bogen um mich machte und sich einige Meter weit von mir entfernt an das Geländer stellte, sodass ich sie nicht mehr sehen konnte, kamen mir leise Zweifel. Vielleicht hatte ich mich doch geirrt? Nein, ich hatte eher das Gefühl, das sie genau wusste, was sie tat. Sie hatte mich gesehen, das spürte ich, aber sie hatte nicht noch einmal zu mir hochgesehen, sondern gelassen weitergetanzt. Es war ein Katz- und Mausspiel, und ich bekam den Eindruck, dass ich in diesem Spiel nicht die Katze war.
Regel Nummer eins … ach, verdammt! Diese Regeln waren für ’n Arsch. Wenn sie die Zügel in der Hand halten wollte, bitte schön. Hauptsache, sie hielt überhaupt irgendetwas in der Hand, an dem ich hing. Ich verließ meinen Platz und ging durch das Gedränge zu ihr. Glücklicherweise wurde der Platz neben ihr gerade frei. Ich schob mich neben sie. »Hallo Louisa.«
»Hallo Dorian«, erwiderte sie und lächelte mich zurückhaltend an.
Mein Name aus ihrem Mund zu hören, war zu schön. Mein Herz jubilierte. Sie ließ das Geländer los und drehte sich zu mir um. Die Schlacht war gewonnen! Ein dreifaches Hoch auf den siegreichen General!
»Wieder ein komischer Zufall, dass wir uns hier treffen.« Sie sagte es mit einem Grinsen und sah mich dabei bedeutungsvoll an. Jetzt wurden also die Bedingungen des Waffenstillstandes festgelegt.
»Nein.« Ich blickte ihr tief in ihre graublauen Augen. »Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen.«
»Dann ist heute wohl dein Glückstag«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen und lächelte. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Ein knallharter Verhandlungspartner. Nein, Louisa war nicht die Sorte Frau, die hinter vorgehaltener Hand kicherte und kokett lächelte, egal, was Mann sagte. Ihr Blick war direkt, offen und stach, wie in meinem Fall, mitten ins Herz. Ich hätte wetten können, dass viele sterbliche Männer sich vor so einer Frau in Acht nahmen und sich lieber eines der kichernden Dummchen suchten. Zum Glück war ich kein Sterblicher.
Ich lachte befreit auf, und erst da schlug sie die Augen für einen Moment nieder. Herrgott, diese Frau war wirklich alles und das zur gleichen Zeit: unschuldig und verrucht, berechnend und aufrichtig, schlicht und wunderschön. Es gab kein Zurück mehr. Ich war ihr hoffnungslos verfallen. Totale Kapitulation. Sie konnte alles haben. Ländereien, Tribut, ich würde jeden Preis für einen dauerhaften Frieden zahlen! »Wollen wir vielleicht nach draußen gehen und uns ein bisschen unterhalten?« Ich wies auf die Tür zur Outdoor-Lounge, was nicht mehr war, als das Flachdach des Nebengebäudes, auf dem Korbsessel in Zweiergruppen und Bistrotische mit Sonnenschirmen in der Mitte verteilt waren. Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine kleine Bar. Alles war mit einem hohen Zaun umschlossen, da vor ungefähr einem Jahr ein paar besoffene Schwachköpfe versucht hatten, Superman zu spielen und sich übelst verletzt hatten, als sie vom Dach stürzten. Dummheit musste bestraft werden.
Die Musik kam draußen nur gedämpft an, sodass es ein beliebter Rückzugsort für Pärchen war, die sich gerade kennengelernt hatten oder Freundinnen, die über ihren neuesten Schwarm aufgeregt schnatterten. Alle Sitzplätze waren belegt, also stellten wir uns an einen der Bistrotische. Der Sonnenschirm stand etwas schief, sodass er uns vor den übrigen Besuchern leicht abschirmte. Sie ging vor mir, und ich konnte den Blick nicht von ihrem Gesäß nehmen. Dieser dezente Hüftschwung! Ich glaubte nicht, dass ihr bewusst war, wie sie sich bewegte. Sie wirkte so ungestellt und ungekünstelt. Ganz im Gegensatz zu so vielen anderen. Vielleicht lag auch darin ihre Anziehungskraft. In der stillen Botschaft, die dahinter steckte: Entweder, dir gefällt das oder nicht – wirst schon sehen, was du davon hast.
Ich sprach sie nach einigem belanglosen Geplänkel auf ihre Tätowierung an. Bereitwillig drehte sie mir den Rücken zu, legte das Kinn auf die Schulter und nahm einen Großteil ihrer Haare beiseite, um sie mir zu zeigen. Ihr Profil mit den gesenkten Augen war atemberaubend schön. Ich trat einen Schritt vor, immer darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen. Immerhin hatte ich ihre Befestigungsanlage zu Hause gesehen und wollte ihr keine Angst machen. Die würde sie irgendwann wahrscheinlich sowieso vor mir haben. Schon vergessen, ich war immer noch der blutsaugende Vampir. Aber nicht jetzt.
Ich schob vorsichtig eine weitere Haarsträhne beiseite und behielt sie gedankenverloren in den Fingern, als ich mir das Kunstwerk auf ihrem Rücken ansah. Es war ein muskelbepackter Engel mit schwarzen Flügeln und feurigen schwarzen Augen, die jedem zu drohen schienen, der sich ihr nähern wollte. Seine Flügel waren über ihren ganzen Rücken ausgebreitet und schienen sie zu behüten. In einer Hand trug er ein Schwert, die andere war zur Faust geballt. Ihr Schutzengel. Was mochte ihr Schlimmes zugestoßen sein? Mit diesem wehrhaften Engel auf dem Rücken wirkte sie noch zerbrechlicher, fand ich und hatte das unerklärliche, aber dringende Bedürfnis, sie beschützen zu müssen.
Sie drehte sich wieder zu mir um. Ich hielt noch immer ihre Haare in der Hand und atmete ihren Duft ein. Sie stand zu nah vor mir, hatte den Blick etwas gesenkt. Vielleicht sah sie auf mein Hemd oder meinen Hals, ich wusste es nicht. Es war prickelnd, ihr so nahe zu sein, ohne sie zu berühren. Eine Qual, denn ich hätte sie gern berührt und geküsst. Auf die Schulter, auf die vollen Lippen und auf ihre schöne glatte Stirn. Ich hätte zu gern meine Wange an ihr warmes Gesicht geschmiegt. Obwohl sie sich gefreut hatte, mich wiederzusehen, wusste ich nicht, wie weit ich bei ihr gehen konnte. Sie war ein sonderbares Geschöpf. Vielleicht aber auch nur, weil ich gesehen hatte, wie sie sich zu Hause jeden Abend verbarrikadierte, als wäre der Leibhaftige ihr auf der Spur. Oder die Mafia oder … was weiß ich denn? Auf jeden Fall wollte ich es nicht vermasseln. Das war das, wonach ich mich all die Jahrhunderte gesehnt hatte.
Ich hörte ihr Herz laut hämmern und sah das Blut durch ihre Halsschlagader pochen, was meine Qual noch verstärkte. Aber es war eine süße Qual. Bittersweet. Das Verlangen zu zügeln, den nächsten Schritt vor sich, ihn aber nicht zu Ende zu gehen. Niemals zuvor hatte ich mich lebendiger gefühlt!
*
Dorian. Die ganze Woche über ging er mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte ihn zwischendurch kurzzeitig verdrängen können, aber er kam immer wieder. Würde er auch dorthin kommen, wo wir uns das erste Mal begegnet waren? Auch wenn ich genau wusste, wie enttäuscht ich sein würde, wenn er nicht da war, ging ich hin. Ich konnte nicht anders.
Dorian stand auf der Galerie, lässig an das Geländer gelehnt, und beobachtete mich. Er hatte sich die langen Haare zurückgebunden, was sein weichgezeichnetes Gesicht mit dem hübschen Grübchen im Kinn männlicher aussehen ließ. Seine grünen Augen strahlten, wie ich es noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte. Er sah so umwerfend gut aus in dem schicken Nadelstreifenhemd und der perfekt sitzenden schwarzen Hose, dass er unter allen anderen Discobesuchern herausstach. Kurz hatten sich unsere Blicke berührt, dann hatte ich mich abgewandt, damit er mein freudiges Grinsen nicht sehen konnte. Er sollte nicht glauben, dass ich nur seinetwegen hier war.
Dennoch hielt ich es nicht lange auf der Tanzfläche aus und schlenderte nach oben. Ich ging nicht zu ihm, da ich den ersten Schritt bereits getan hatte. Es war an ihm, den nächsten zu tun und Dorian enttäuschte mich nicht.
Als wir nach draußen gingen, ließ er mich vorgehen und hielt mir, ganz Gentleman, die Tür auf. Wieder ein Pluspunkt auf meiner Checkliste. Zum Glück waren alle Korbsessel besetzt. Ich wollte nicht sitzen. Vor allem nicht in diesen unbequemen Dingern, in denen man wie in einer kleinen Raumkapsel saß. Darin konnte man allenfalls Krieg der Sterne gegeneinander spielen, aber sich bestimmt nicht näherkommen.
»Du hast eine Tätowierung auf dem Rücken«, sagte Dorian. »Darf ich mal sehen?« Seine Stimme war tief und ruhig, und sein Lächeln echter als echt.
Keine Spur mehr von der selbstsicheren Überheblichkeit unserer ersten Begegnung. Eine sehr sympathische Wandlung, absolut zu seinem Vorteil.
Ich drehte ihm den Rücken zu und nahm meine Haare hoch, damit er einen Blick auf meinen Engel werfen konnte. Über die Schulter sah ich zu ihm. Er kam näher und nahm langsam eine Haarsträhne beiseite, die ich nicht erwischt hatte. Dabei berührte er mich nicht, aber seine Bewegung hinterließ dennoch eine kühle, kribbelnde Spur auf meinem Rücken. Ich schloss genüsslich die Augen.
»Ein Engel«, stellte er unnötigerweise fest. »Warum gerade ein Engel?«
»Das ist mein Schutzengel. Ist was Persönliches und er gefällt mir.«
Ich ließ meine Haare los und drehte mich wieder zu ihm um. Wie dicht er bei mir stand. Nur wenige Zentimeter trennten uns. Ich konnte seinen Duft riechen, ein süßlicher und doch herber, angenehmer Geruch, den ich mit einem wohligen Schauder einatmete. Dorian hatte den Kopf leicht geneigt und hätte mich jederzeit mit einer kleinen Bewegung auf die Stirn küssen können. Mein Blick blieb an seinem sinnlichen Mund hängen. Diese Lippen sahen so zart und perfekt aus, dass mir das Herz bis zum Hals schlug und ich das Gefühl hatte, kaum Luft zu bekommen.
Ihm so nahe zu sein, ohne ihn zu berühren, war das Erregendste, was ich jemals erlebt hatte. Ich wollte es so lange auskosten, wie es ging. Auch wenn ich mich am liebsten auf die Zehenspitzen gestellt hätte, um ihn zu küssen, ihm meine Arme um seinen Nacken zu schlingen und in die langen Haare zu greifen, hielt ich einfach still und genoss das Kribbeln, das ich am ganzen Körper verspürte. Eine herrliche Qual!
Dorian ließ seine Hand neben meiner Schulter und meinem Arm sinken. Er berührte mich nicht, dennoch bekam ich eine Gänsehaut. Nicht, weil seine Hand so kühl war, sondern weil ich das Gefühl hatte, als würde ich seine Finger auf meiner Haut spüren. Es war elektrisierend.
Plötzlich berührte mich etwas anderes am Arm, und ich zuckte zusammen. Ein Kellner stand neben uns. Dorian funkelte ihn böse an, was ich am liebsten auch getan hätte. Warum musste dieser Idiot sich so anschleichen? Hatte er keine Augen im Kopf? Dorian scheuchte ihn weg und blickte zu mir herunter. Er lächelte mich zerknirscht an. Ich sah das Bedauern in seinen Augen, das auch ich empfand. Dieser wunderbare Moment war viel zu kurz gewesen. Nun war es zu spät, sich an seine Brust zu lehnen.
Ich seufzte leise. »Mir ist kalt.« Und mir war die Lust auf das R7 vergangen.
Dorian verstand sofort. »Nebenan ist eine Bar, wollen wir dahin gehen? Oder willst du lieber nach Hause?«
Seine unaufdringliche Art gefiel mir. Jeder andere hätte wahrscheinlich vorgeschlagen, zu ihm zu fahren oder womöglich zu mir.
»Nein«, antwortete ich, noch halb in Gedanken an das wunderbare Kribbeln.
»Hm, kann ich mir jetzt aussuchen, welcher Frage das Nein gilt?«
»Und welche Frage würdest du dann wählen?«
Er schien einen Moment nachzudenken, ehe er sich ein bisschen weiter zu mir herunterbeugte. Nur ein winziges Stückchen. Wir standen noch immer sehr nah beieinander, und ich rechnete jeden Moment damit, seine Lippen auf meiner Stirn zu fühlen. Doch ich spürte nur seinen Atem.
»Na, ich würde natürlich hoffen, dass du nicht nach Hause willst«, flüsterte er.
Ich konnte nicht mehr atmen. Nur nicht hochsehen, nur nicht hochsehen, sagte ich mir immer wieder. Es war ein winziger Moment, der jeden Augenblick zerstört werden würde. Wenn ich meinen Blick von seinem Hemd löste, auf das ich krampfhaft starrte, würde ich ihn küssen, ob er mir entgegenkam oder nicht. Ich wusste, ich würde mich keine Sekunde länger beherrschen können. Ich würde in seine langen Haare greifen und ihn küssen. Ich würde ihn sogar mit nach Hause nehmen, um noch ganze andere Stellen seines Körpers zu berühren. Nein, das ging nicht. Also: nicht hochsehen!
Ich hörte ihn leise seufzen. »Ich würde dich gern wiedersehen«, flüsterte er und machte alles nur noch schlimmer.
Mein Herz schlug so laut, dass alle Umstehenden es hören mussten. »Willst du denn gehen?«, hörte ich mich fragen.
Ein leises Lachen. »Nein«, antwortete er genauso leise.
*
Ich war völlig versunken in die Betrachtung ihrer Haut, fasziniert von der Erregung, die mich befiel, obwohl ich sie nicht einmal berührte. Es kostete mich meine gesamte Willenskraft, sie nicht anzufassen. Ich spürte ihre Wärme, konnte fast die Weichheit ihrer Haut fühlen, sah, wie sie eine Gänsehaut bekam. Mir stockte der Atem. Es war unbeschreiblich. Es war … besser als jeder Blutrausch.
Ich war so verzaubert von Louisas Anwesenheit, dass ich erst bemerkte, was geschehen war, als sie zusammenzuckte. Bevor sie den Kopf drehen konnte, hatte ich entdeckt, dass ich den Kellner neben uns an der Kehle gepackt hatte. Meine vampirischen Reflexe sind manchmal halt schneller als mein Bewusstsein. Vor allem, wenn ich unter Drogen stand. Und ich war im Louisa-Rausch. Schnell ließ ich ihn los. Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt, er solle sich verpissen, weil er mir den besten Kopforgasmus aller Zeiten versaut hatte, aber der arme Wicht sah so verstört aus. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht, wenn sie das gesehen hätte. Zum Glück war ich schnell. Verdammt schnell. Ich warf ihm einen meiner hypnotischen Blicke zu, der ihm sagte, er solle sich beruhigen und vergessen, was geschehen war. Auch das gehörte zu meinen vampirischen Kräften. Ich hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, aber es war ungemein praktisch.
»Ich wollte nur fragen, ob ich euch was zu trinken bringen kann«, stammelte der Störenfried verwirrt und wich einen Schritt vor mir zurück.
»Nein!« Zieh Leine!
Wir verlegten unser weiteres Kennenlernen in die Lounge nebenan. Das Licht war gedämpft, die Musik gemäßigter, die Gespräche ruhiger. Wir setzten uns an einen Tisch in bequeme Sessel und unterhielten uns den Rest der Nacht über Gott und die Welt. Sie war schüchterner, als ich gedacht hätte, erzählte aber bereitwillig, wenn ich sie etwas fragte. Ich versuchte dennoch, sie nicht auszufragen, obwohl ich einfach alles über sie wissen wollte.
Ich konnte ihr natürlich nicht erzählen, dass ich ein Vampir und über sechshundert Jahre alt war. Das sollte man beim ersten Date, falls es überhaupt ein Date war, lieber nicht machen. Hallo, mein Name ist Dorian, und ich bin ein Vampir. Nein, das funktionierte nicht, aber ich hatte ja meine gut durchdachte Geschichte parat. Vampir hin oder her, ich verstellte mich nicht. Es war Dorian pur, den sie kennenlernte. Nur das Drumherum war erfunden.
Da ihr Lachen so bezaubernd war, versuchte ich es möglichst oft, aus ihr herauszulocken und freute mich jedes Mal wie ein kleines Kind zu Weihnachten, wenn es mir gelang. Wir kamen uns die ganze Nacht nicht noch einmal so nahe, auch nicht, als wir uns verabschiedeten. Denn wie alles im Leben, nahm auch diese wunderbare Nacht ein Ende.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragte ich sie, kannte die Antwort aber schon, bevor ich die Frage überhaupt gestellt hatte.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte mich an. »Nein, nicht nötig. Ich nehm mir ein Taxi, aber danke für das Angebot.« Sie zog sich ihre Jacke an und wich einen Schritt vor mir zurück, lächelte mich aber offen an. »Das war sehr schön heute Nacht«, sagte sie dann und senkte verlegen den Blick.
»Das fand ich auch«, erwiderte ich und verzichtete darauf, zu ihr zu gehen, sah sie aber fest an. »Ich würde dich gern wiedersehen. Heute noch.«
Sie lächelte und legte den Kopf ein bisschen schief. Welch ein Anblick! »Heute noch?«
Ich lachte. Ach, diese Frau war herrlich! Und immer noch ein harter Brocken. Unglaublich! »Na ja, es wird gleich hell. Heute Abend ist oben im südamerikanischen Viertel das alljährliche Straßenfest. Warst du schon mal da?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Na, wenn das mal kein Zufall ist«, sagte ich und zwinkerte ihr zu. »Ich geh jedes Jahr hin. Es ist wie Karneval in Rio, nur nicht so sonnig und die Tänzer sind alle bekleidet. Das ganze Viertel ist auf den Beinen, überall wird getanzt und gefeiert. Das muss man mal erlebt haben.«
Es war wirklich ein schönes Fest – und ein Paradies für Vampire. Diese Südamerikaner tanzten sich so in Trance, dass man genüsslich hier und da ein bisschen naschen konnte, ohne aufzufallen. Deshalb wollte ich sie natürlich nicht da mit hinnehmen, aber ich wusste, sie würde sich der mitreißenden Stimmung nicht entziehen können, und ich würde eine ganze Nacht lang ihr Lachen genießen können.
Es war wirklich mein Glückstag, denn Louisa willigte ein.
*
Die Taxifahrt über bekam ich das breite Grinsen nicht aus meinem Gesicht und das Kribbeln nicht aus meinem Bauch. Es war ein herrlicher Abend gewesen. Dorian war höflich, witzig, unaufdringlich und hatte so eine Art an sich, bei der ich mich wohlfühlte. Er war aufmerksam und geheimnisvoll. Ich verspürte noch immer den Drang, seine Lippen zu berühren und in seine Haare zu greifen, dabei mochte ich lange Haare bei Männern doch überhaupt nicht.
Ich lief beschwingt die Treppe zu meiner Wohnung hoch. Es wurde tatsächlich langsam hell, und so vergaß ich nicht eine einzige Jalousie. Ich musste unbedingt schlafen, um am Abend möglichst lange durchhalten zu können, deshalb sollte es dunkel sein. Ich lächelte vor mich hin, als ich ins Bett kroch, und nahm mir noch vor, morgen ein paar lateinamerikanische Tanzschritte aus dem Internet herauszusuchen, um nicht völlig blöde dazustehen. Dorian machte auf mich den Eindruck, dass er einige dieser Tänze beherrschen könnte. Er hatte etwas Weltmännisches, Kultiviertes an sich, das ich so bei Männern seines Alters noch nicht erlebt hatte. Manchmal wirkte er, als wäre er viel älter, als er aussah.
Dabei war es nicht wichtig, ob er dreißig, oder fünfundzwanzig war. Er sah umwerfend gut aus, auch wenn seine Haut ungewöhnlich blass war. Aber das konnte ja ganz natürliche Ursachen haben. Vielleicht ging er einfach nicht viel in die Sonne? Egal, es war ein toller Abend mit ihm gewesen.
Mit seinem Gesicht vor Augen schlief ich ein, kaum dass ich mich in die Decke eingekuschelt hatte und träumte von Tänzern und Schmetterlingen und Dorian.
*
»Sie sind spät dran, Sir«, begrüßte mich James, als ich singend nach Hause kam.
Ich hatte mir am Strand den Sonnenaufgang angesehen. Das hatte ich bisher noch nie getan, obwohl ich mir extra ein Grundstück in entsprechender Lage gekauft hatte. Irgendwie hatte ich immer andere Dinge zu tun, doch für diese wundervolle Nacht war es ein krönender Abschluss. »Hallo Schatz.« Ich lachte ihn an.
Er erwiderte meine ungewöhnliche Begrüßung mit einem verkniffenen Mund, missbilligend hochgezogenen Brauen und einem Blick wie sieben Tage Regenwetter.
»Ach, James, warum so ernst?«
Jetzt hatte er nur noch eine Augenbraue hochgezogen.
»Irgendwelche Nachrichten für mich?«
»Nein, Sir, es ist alles … wie immer.«
»Tatsächlich?« Was machte ich sonst immer, wenn ich nach Hause kam?
Ich sah mich um. Die große, wenig benutzte Designer-Küche mündete in einen größeren Wohnbereich mit einem überdimensionierten weißen Ledersofa und zwei extrabreiten Ledersesseln. Davor befand sich ein absolut staubfreier, flacher Tisch mit schwarzer Granitplatte. An der Wand hing mein riesiger Fernseher, daneben standen eine moderne Musikanlage und meine umfangreiche CD- und DVD-Sammlung. Der Kamin war ebenfalls mit schwarzem Granit eingefasst. Im hinteren Bereich des offenen Wohnzimmers war ein großer weißer Tisch mit einem ausladenden modernen Kristalllüster darüber und acht Stühlen aus dunklem Holz und weißen Lederpolstern zu sehen.
Zur Rechten ging es in eine Empfangshalle mit einem runden Tisch in der Mitte, auf der immer eine Vase mit frischen Blumen stand. Keine Ahnung, wer die da hinstellte, aber es sah hübsch aus. Von da kam man in mein geräumiges Arbeitszimmer mit dunklen Möbeln, meinem Computer und einem weiteren Fernseher und in ein großes Gästebad mit Whirlpool und Dusche und einem Waschbecken, in dem man Kinder hätte baden können. Hinter der Treppe ins zweite Stockwerk führte eine Doppelglastür in mein Schwimmbad. Daneben war die stets verschlossene Tür zu James’ Gemächern. Im Obergeschoss hatte ich mein Alibi-Schlafzimmer mit meinem privaten Bad und meinem gut ausgestatteten begehbaren Kleiderschrank. Außerdem befanden sich dort ein weiteres Bad und mehrere Schlafzimmer. In denen war ich aber noch nie.
Ich hatte hier unten alles, was ich brauchte. Durch das Wohnzimmer hindurch und am Esstisch vorbei ging es in meine Bibliothek und von dort aus durch eine geheime Tür, die in den Regalen versteckt war, in meine Privatgemächer. Die waren nur für mich, da ließ ich niemanden hinein. Aber ich bekam ehrlich gesagt auch nicht viel Besuch. Nur James kannte den Zugangscode und hielt dort Ordnung, wenn nötig. »Ist alles ein bisschen protzig hier, oder?«
»Warum sollten Sie nicht zeigen, dass Sie es sich leisten können? Sir.«
»Wie würde das alles hier wohl auf einen Besucher wirken? Sagen wir mal, auf eine Frau mit einer kleinen Dachgeschosswohnung?«
»Gigantisch, Sir, und vielleicht ein wenig … extraordinär. Bekommen wir denn Besuch?«
Ich lief mit großen Schritten zu ihm und nahm ihn bei den Schultern. Was dieser Mann für Wörter benutzte! »Vielleicht, James. Vielleicht«, antwortete ich, lächelte und zwinkerte ihm zu. Lachend lief ich nach hinten in meine Gemächer, hielt jedoch noch einmal inne. »Besorgen Sie mir bis heute Abend ein anderes Haus. Oder besser noch: eine Wohnung in der Stadt. Mit Tiefgarage, separatem Aufzug und Portier. Am besten über eine ganze Etage. Irgendwas Schickes, was nicht so …«
»Protzig ist, Sir?«
»Genau!«
»Jawohl, Sir. Ich werde mich darum kümmern.«
»Und schaffen Sie einige meiner privaten Dinge da hin. Es sieht hier fürchterlich steril und unpersönlich aus. So soll es dort nicht aussehen.«
Natürlich war ich noch weit davon entfernt, Louisa mit nach Hause nehmen zu können, aber dem hoffnungslosen Romantiker in mir hatte die gestrige Nacht Nahrung gegeben und er blühte förmlich auf. Dieser Palast sah aus wie das Werk einer ganzen Horde übereifriger Innenausstatter und Möbeldesigner, die ein zu großes Budget hatte. Es war prahlerisch. Gut, okay, ich war auch manchmal prahlerisch. Aber wer hat, der kann, oder wie sagt man so schön?
Mit meinen Autos drückte ich das auch aus. Meine Strandvilla war fast komplett unterkellert. Ein Großteil davon nahm meine Tiefgarage ein. Die Liste der Autos, die dort standen, und die ich auch regelmäßig fuhr, las sich wie die Top Ten der Luxussportwagen. Dort unten befanden sich auch meine hauseigene Tankstelle und eine Autowerkstatt. An meine Autos ließ ich nur vertrauenswürdiges Personal.
Nein, mit diesem viel zu großen Anwesen würde ich sie nur verschrecken. Das konnte ich ihr ja zeigen, wenn ich sie nicht damit verschreckt hatte, dass ich ein Vampir war.
Ich zog mich zurück in meine Privatgemächer hinter dem Bücherregal und sammelte ein paar Dinge zusammen, die ich gern in der neuen Wohnung hätte. Dabei vertraute ich darauf, dass James noch heute das Richtige für mich finden würde. Mit dem nötigen Kleingeld war alles möglich und James hatte unbegrenzte Mittel zur Verfügung.
Ich hatte im Laufe der Zeit einige Kunstschätze zusammengetragen. Teilweise waren es wirklich wertvolle Gemälde, Büsten und Möbelstücke, vieles hatte allerdings eher sentimentalen Wert. Schon als junger Vampir, als ich nicht mehr besaß, als das, was ich am Leibe trug, hatte ich mir angewöhnt, mir immer ein kleines Souvenir meiner Opfer einzustecken. Das war mal die Haarspange einer jungen Maid, mal die bestickte Jacke eines vornehmen Herrn oder das Silberbesteck einer alten Dame. Immer Kleinigkeiten, die ich entweder gebrauchen konnte oder die mir gefielen. Später wurden es dann etwas größere Kleinigkeiten, womit ich dann meine Behausungen schmückte. Das war zu den Zeiten, als ich ausschließlich in besseren Kreisen verkehrte. Ich fühlte mich ein bisschen wie Robin Hood, nahm es den Reichen und gab es, na ja, mir. Aber ich war ja auch arm, bevor ich damit angefangen hatte, und sie waren tot und würden die Dinge nicht mehr brauchen. Nein, ein schlechtes Gewissen hatte ich deswegen nie.
Viele dieser kleinen und großen Schätze hatte ich bereits in meinem Anwesen verteilt, einiges war eingelagert in unscheinbaren Containern im nächsten Hafen. Die schönsten Dinge hatte ich jedoch in meinen Privatgemächern. Ja, davon würde ich einiges in die neue Wohnung bringen lassen. Ich war gespannt darauf, was James aussuchen würde. Selbstverständlich kannte er meinen Geschmack, aber er hatte manchmal eine sehr eigenwillige Art, das zu zeigen. Natürlich hätte ich mir selbst ein neues Domizil suchen können. Aber das war mir schlichtweg zu langweilig und zu anstrengend. Wahrscheinlich hätte ich mich doch nicht entscheiden können. Außerdem hasste ich es, wenn mir die Makler nach dem Mund redeten und vor mit katzbuckelten. Natürlich stellten sie Erkundigungen über ihren Kunden an und witterten das Geschäft ihres Lebens. James war da der bessere Verhandlungspartner. Sollte er sich mit diesen Arschkriechern abgeben. Ich hatte Besseres zu tun.
Womit sich ein Vampir wie ich die Zeit vertrieb? Eine Zeit lang war ich ganz besessen von Computerspielen. Es hatte mich mehrere Jahre und einige zerstörte Spielekonsolen und Computer gekostet, bis ich davon wieder loskam. Ich war sogar, zu der Zeit studierte ich gerade Betriebswirtschaft, in einer dieser Studentenverbindungen für Computerfreaks und legte mir extra eine Hornbrille zu. Dennoch war ich der Paradiesvogel unter den Nerds. Zumal ich selbst mit hässlicher Brille anziehend auf meine weiblichen Kommilitonen wirkte. Und beim Spiel konnte mir keiner das Wasser reichen.
Studieren, auch so eine Freizeitbeschäftigung, der ich mich oft mehr oder weniger gern gewidmet hatte. Ich hatte so ziemlich jeden Studiengang zumindest angefangen, doch nur wenige beendet. Das Erstaunliche am Lernen war ja, dass man sich die Dinge, die einen interessierten, ohne große Mühe merken konnte, es jedoch selten die Dinge waren, die einen zu interessieren hatten, wollte man ein Studium zu Ende bringen. Vielleicht fehlte mir da der Ehrgeiz.
Irgendwann hörte ich von sogenannten Fantasy-Live-Rollenspielen. Da verkleideten sich die Kids und schlüpften so in bis ins kleinste Detail perfekt erdachte Charaktere und spielten Krieg oder was auch immer. Eine dieser immer wiederkehrenden Veranstaltungen sagte mir auf Anhieb zu, sie hieß Vampire. Wie treffend. Ich besuchte einige dieser LARPs, wie sie von Insidern genannt wurden, und hatte einen Riesenspaß dabei, die anderen zu beobachten und aus dem Konzept zu bringen. Irgendwann traten die Spielleiter an mich heran und meinten, ich müsse das ein bisschen ernster nehmen, sonst wäre ich nicht authentisch. Ich nicht authentisch! Ich lachte sie aus, dass ihnen die Ohren klingelten, und zeigte ihnen, wie authentisch ich war. Doch das gefiel ihnen auch nicht. Also ließ ich das wieder bleiben.
Ja, wenn man unendlich viel Zeit und unerschöpfliche Mittel hatte, machte die Unsterblichkeit wirklich Spaß. Selbst wenn man sie allein verbrachte. Wie viel Spaß würde sie wohl mit der richtigen Gesellschaft machen?