11
Klamotten zum Wechseln, Unterwäsche, Handtücher? Nee, Handtücher hatte Dorian bestimmt genug. Aber den Badeanzug. Oder doch lieber den Bikini? Unfassbar, dass dieser Mann sogar ein eigenes Schwimmbad hatte! Hatte ich nicht irgendwo so ein hübsches Spitzennachthemd? Das sollte ich auf jeden Fall auch einpacken.
Ich freute mich darauf, das Wochenende mit ihm zu verbringen. Auch wenn ich absolut überwältigt war von diesem Riesenanwesen, das im ersten Licht des Morgens noch gigantischer gewirkt hatte, hatte mich eine freudige Erregung gepackt. Vielleicht würde es ja ein bisschen wie Urlaub in einem Luxushotel sein? Mit eigenem Zimmerservice und Dorian natürlich. Es war alles total verrückt, aber Dorian ging so selbstverständlich mit seinem Reichtum um, dass ich mich nicht unwohl dabei fühlte. Gut, es war mir ein wenig unangenehm, dass James uns zum Frühstück bedient hatte, aber Dorian erklärte mir auf der Rückfahrt etwas über die Berufsehre eines Butlers. Um James nicht zu beleidigen, würde ich mit Sicherheit nie wieder mein Geschirr selbst in die Küche bringen wollen.
Ich verstaute die restlichen Reiseutensilien in der Tasche, zog den Reißverschluss zu und stellte sie neben die Tür. Es war Freitag, und bevor Dorian mich abholte, wollte ich unbedingt zu dem Treffen der Selbsthilfegruppe gehen. Der Schreck, den Erics plötzliches Auftauchen mir eingejagt hatte, war etwas, was ich gern dort ansprechen wollte.
Als ich in die schmale Sackgasse zum Gemeindehaus einbog, befiel mich ein ungutes Gefühl. Ich blickte mich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Das ungute Gefühl blieb. Sollte man nicht immer auf sein Bauchgefühl hören? Ich blieb abrupt stehen. Vergangene Woche hatte es geregnet, und überall waren Pfützen gewesen. Daran konnte ich mich erinnern. Dass ich tatsächlich beim Treffen gewesen war, wusste ich nicht mehr. Ich schaute die Straße hoch. Es war noch hell, aber ich war allein. Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken.
Reiß dich zusammen, Louisa! Ich atmete tief durch und ging weiter. Schnell. Ich rannte förmlich zum Gemeindehaus. Eine unerklärliche Angst hatte mich gepackt und trieb mich an. Völlig außer Atem stürzte ich zur Tür hinein. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, und ich hatte Mühe, mich wieder zu beruhigen. Die Straße hinter mir war vollkommen leer.
Das ganze Treffen über musste ich an den Rückweg denken. Aus dem unguten Gefühl war eine unerklärliche Angst geworden, die nicht weichen wollte, und die der glich, die ich nach dem Überfall in meiner alten Wohnung empfunden hatte.
Mitten in der Gesprächsrunde musste ich aufstehen, weil ich mich nicht auf die Worte der anderen konzentrieren konnte. Ich ging nach nebenan. Von dort konnte ich aus einem Fenster einen Teil des Weges sehen. Er lag im Zwielicht da, die Schatten der hohen Bäume verstärkten diesen unheimlichen Eindruck. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mir hier jemals etwas passiert war. Dennoch fühlte es sich so an. Mein Blick fiel auf das Telefon der Verwaltung, und ich rief kurzerhand Dorian an.
»Louisa! Was ist denn das für eine Nummer, von der aus du anrufst?«
»Ich bin im Gemeindehaus«, antwortete ich und überlegte, ob es nicht doch albern war. Außerdem hatte ich ihm nicht erzählt, was ich hier tat.
»Ist etwas passiert?«, fragte er und wirkte sofort alarmiert.
»Nein. Aber könntest du mich bitte von hier abholen? Das Gemeindehaus neben der Kirche von St. Michaels. Ich weiß, es klingt albern, aber …«
»Kein Problem«, erwiderte er sofort. »Ich weiß, wo das ist, und mach mich gleich auf den Weg. Warte bitte drinnen, ich komme dich holen. Okay?«
»Danke«, sagte ich, etwas überrascht, dass er nicht einmal nach dem Grund gefragt hatte. Ich fühlte mich bedeutend besser. Vielleicht verlangte ich mir wirklich zu viel ab?
Ich ging wieder nach nebenan und wartete die nächste Gelegenheit ab, um aufzustehen und von meiner Begegnung mit Eric und meiner Angst auf dem Weg hierher zu erzählen. Darüber sprechen half. Vielleicht hätte ich das früher auch bei Kleinigkeiten machen sollen, anstatt immer nur schweigend zuzuhören. Es war erstaunlich, was Dorian alles aus mir herausbrachte.
*
Ich war auf dem Weg in die Garage, um Louisa abzuholen. Heute wollte ich mir mein Auto selbst aussuchen. Ich hatte beschlossen, entgegen meiner sonstigen Vorgehensweise, mich auf mein Gefühl zu verlassen. Dieses Mal wollte ich alles dem Zufall oder Schicksal überlassen. Denn Planung würde mir bei meinem Vorhaben nicht helfen. Ich hatte leider überhaupt keine Ahnung, wie Louisa reagieren würde, wenn ich ihr die Wahrheit sagte. Sie war eine starke kluge Frau, aber auch vorbelastet mit schlimmen Erinnerungen, dass ich nicht abschätzen konnte, was diese Enthüllung bei ihr auslösen würde.
Also gab es nichts zu planen. Deshalb hatte ich angezogen, was ich als Erstes im Schrank fand. Was ein graues Seidenhemd und eine schwarze verwaschene Jeans waren. Okay, das Erste, was ich fand, war ein roter Pulli. Aber rot? Ich bitte euch! Die Haare hatte ich mir locker zurückgekämmt. Auch die Uhr hatte ich zufällig ausgewählt, die schwarzen Halbschuhe ebenfalls. Das Einzige, was ich »geplant« hatte, war, nicht zu trinken. Ich wollte, dass sie mich so blass sah, wie ich war. Deshalb hatte ich mir auch die Ärmel hochgekrempelt. Vielleicht wäre ein weißes Hemd doch besser gewesen, überlegte ich, als mein Handy klingelte.
Ich kramte es aus der Hosentasche. Die Nummer kannte ich nicht, ging dennoch ran, was ich normalerweise nicht getan hätte. Wenn man den Anrufer nicht kannte, wollte man meist auch nicht mit ihm telefonieren.
Es war Louisa, und sie klang verschreckt. Ich setzte mich in das nächstbeste Auto und fuhr sofort los. Als ich den holperigen Weg zur Kirche und dem angrenzenden Gemeindehaus hinaufruckelte, fluchte ich nicht nur innerlich. Hier musste unbedingt neu gepflastert werden. Was tat die Kirche mit dem Geld, das ich ihr spendete? Und wieso zum Teufel war es so dunkel? Sollten die Gläubigen schon hier auf die Probe gestellt werden? Dann mussten sie sich nicht wundern, dass immer weniger Leute in die Kirche gingen.
Ich machte mir nicht die Mühe, einen Parkplatz zu suchen, sondern parkte den Porsche einfach vor dem Eingang. Gerade als ich hineinging, öffnete sich etwas den Flur herunter eine Tür und zwei Frauen kamen leise miteinander sprechend heraus.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Ältere von ihnen und sah mich argwöhnisch an.
Ehe ich antworten konnte, drängelte Louisa sich hinter den beiden vorbei und lächelte mich erleichtert an.
»Schon in Ordnung, Susan«, antwortete sie an meiner Stelle. »Das ist Dorian, mein Freund. Er kommt mich abholen.«
Sie lächelte mich verlegen an, und die beiden anderen Frauen nickten wissend. Offenbar hatte sie von mir erzählt. Von ihrem Freund. Ach, sie hatte wirklich »mein Freund« gesagt! Wie gut das klang. Ich ging zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Wange anstatt auf den Mund, um sie nicht noch verlegener zu machen, und half ihr in die Jacke. »Auf Wiedersehen, die Damen«, verabschiedete ich mich artig und zwinkerte den beiden zu.
»Wiedersehn. Bis nächste Woche«, antwortete Susan und nickte Louisa aufmunternd zu.
»Ja, bis nächste Woche«, erwiderte sie und grinste zurück, als hätten diese unverfänglichen Worte eine tiefere Bedeutung für die beiden.
»Gut, dass du mich angerufen hast«, sagte ich zu Louisa, während ich ihr die Autotür aufhielt. Ich war noch immer erbost über die schlechte Qualität der Straße, und ich hätte schwören können, dass der Porsche mindestens zweimal aufgesetzt hatte. »Was machst du hier überhaupt?«
»Das ist das Treffen einer Selbsthilfegruppe, zu der ich jede Woche gehe«, antwortete sie, und es schien ihr aus einem unerklärlichen Grund unangenehm zu sein. »Sie haben alle Ähnliches erlebt wie ich.«
Ich schlug die Tür zu und stieg ebenfalls ein. Hier wollte sie also vergangene Woche hin, als die beiden Frischlinge sie geschnappt hatten. »Eine Selbsthilfegruppe für Überfallopfer findet in einem Haus statt, zu dem man einen dunklen, abgeschiedenen Weg gehen muss? Wenn ich jemanden überfallen wollte, würde ich es genau hier tun. Louisa, ich will nicht, dass du jemals wieder allein hierher gehst.« Louisa sah mich überrascht an, und ich versuchte, mich ein wenig zu beruhigen. »Es ist mein Ernst. Ich finde es toll, dass du zu so einem Treffen gehst, aber ich werde dich zukünftig hinbringen, in Ordnung?«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Genau darum geht es bei diesen Treffen. Ich muss mich meiner Angst stellen. Ich bin schon so oft hier hochgegangen, ich weiß nicht, warum ich dieses Mal Angst verspürt habe. Da muss ich wohl durch. Wenn ich mich jetzt jedes Mal von dir bringen und abholen lasse, passiert genau das, wogegen ich die ganze Zeit ankämpfe. Dann hat meine Angst gewonnen. Das hier ist nur eine Ausnahme«, fügte sie hinzu und seufzte, als wäre ihr sogar dieser kleine Hilferuf unangenehm. »Es gibt eine Frau in der Gruppe. Sarah«, fuhr sie dann ruhiger fort und sah mich eindringlich an. »Sie verlässt kaum noch das Haus. Ihr Bruder muss sie jedes Mal herfahren und auf sie warten. Sonst würde sie wahrscheinlich überhaupt nicht zum Treffen kommen. So will ich nicht enden.«
Ich sah zu ihr hinüber. Sie hatte natürlich recht, aber es grenzte an ein Wunder, dass ihr hier vorher noch nie etwas passiert war. Trotzdem. Entweder würde sie sich zukünftig von mir bringen lassen oder … »So bist du nicht, Louisa, und das weißt du«, beschied ich und drückte ihre Hand. »Wenn ich dich schon nicht bringen darf, dann werde ich eben für einen anderen Ort sorgen, an dem ihr euch treffen könnt. Mit einem sicheren Zugang. Diese Straße hier ist doch eine echte Zumutung«, schimpfte ich weiter und fuhr langsam den Holperweg wieder hinunter.
»Vielleicht hättest du einfach ein anderes Auto nehmen sollen?«, schlug Louisa vor und grinste.
Ich brummte nur.
»Vielen Dank, dass du gekommen bist.«
Endlich hatten wir die Straße hinter uns gelassen, und ich musste nicht mehr im Slalom um metertiefe Löcher herumfahren und konnte ihr einen langen Blick zu werfen. »Das gehört sich doch so als dein Freund. Der ich ja bin. Oder nicht?«, erwiderte ich und freute mich darüber, dass sie leicht errötete.
Nicht so erfreut war ich über die schleifenden Geräusche, die der Porsche auf dem Nachhauseweg von sich gab. Ich ließ den Wagen vor der Tür stehen und ging mit Louisa im Arm hinein. Ach, so konnte es immer sein. Also, nicht dass ich den teuren Porsche kaputt fuhr. Sondern dass ich mit dieser wunderbaren Frau im Arm nach Hause kam. »James?«, rief ich, kaum dass die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war.
»Ja, Sir?«, kam die prompte Antwort aus dem Wohnzimmer, und James tauchte so plötzlich in der Tür auf, dass Louisa zusammenzuckte.
Er konnte sich fast so lautlos bewegen wie ein Vampir. Aber eben nur fast.
»Der Porsche macht komische Geräusche. Haben wir irgendwo in der Stadt freie Räumlichkeiten, die man für Zusammenkünfte aller Art verwenden könnte? Am besten nicht zu groß und mit eigener Küche. Falls nicht, besorgen Sie welche«, instruierte ich ihn und führte Louisa ins Wohnzimmer.
»Ich werde mich darum kümmern. Darf ich fragen, um welche Art von Zusammenkünften es sich handelt? Das würde die Suche ein wenig eingrenzen.«
»Selbsthilfegruppen. Vielleicht auch mit einem Jugendtreff. Die Jugend heutzutage lungert mir viel zu viel herum. Zerkratzen Autos und spielen Superman. Die müssen was zu tun kriegen. Es muss in einer gut zugänglichen Lage sein. Vielleicht in der Nähe einer Polizeistation und einer Bahn- oder Bushaltestelle. Und mit einem großen Parkplatz.«
James nickte bei jedem Punkt, und ich wusste, er würde keinen davon vergessen. Der Mann hatte ein außergewöhnliches Gedächtnis. Im Gegensatz zu mir. Ich drehte mich zu Louisa um, die mich erstaunt ansah. »Hab ich was vergessen?«
»Das willst du doch nicht wirklich machen?«
»Ich tu es bereits«, antwortete ich und drehte mich wieder zu James um. »Ich denke, das war alles. Wenn Ihnen noch was einfällt, ergänzen Sie das einfach. Danke, James.«
»Sehr wohl. Wann darf ich das Essen servieren?«
Diese Frage hatte er an Louisa gerichtet, die mich daraufhin fragend ansah. Dass die Herrin des Hauses in James’ vornehmer Butlerwelt über Dinge wie den Zeitpunkt und den Umfang der Mahlzeiten bestimmte, würde ich ihr erklären müssen. Später. Wenn ich ihr erzählt hatte, dass James mich deswegen auch nicht zu fragen brauchte. Dass sie für uns nun die Herrin des Hauses war, sollte ich vielleicht auch gleich erwähnen. »Um acht«, entschied ich.
James nickte beflissen und entfernte sich leise.
»Wollen wir schwimmen gehen?«, schlug ich vor und Louisa nickte begeistert.
Ich nahm ihre Tasche und führte sie in mein Schwimmbad und zu den beiden breiten Polsterliegen, auf denen bereits Handtücher und ein Bademantel für sie bereitlagen. Mein eigener Bademantel hing an seinem Haken an der Wand, wie immer. Ich hatte einen Bademantel extra fürs Schwimmbad, einen im Bad unten und einen, der eher einem Morgenmantel glich, im Schlafzimmer oben, denn ich hasste es, meine Kleidung hin und her tragen zu müssen. Ich nahm mir eine Badehose von dem goldenen Metallregal neben den Wäschehaken und zog mich um, während Louisa in ihrer Tasche kramte. Ich wollte ihr Zeit geben, sich in Ruhe umzuziehen, deshalb sprang ich ins Wasser und ließ mich zum anderen Ende treiben. Schwimmen konnte man das ja nicht nennen.
Louisa hatte mir den Rücken zugedreht, während sie sich umzog. Unzählige Male hatte ich sie bereits nackt gesehen, und trotzdem genierte sie sich immer noch.
Ihr Rücken mit dem Tattoo war aber auch aufregend. Als sie sich in dem bunt gemusterten Bikini umdrehte und langsam zu den Stufen, die ins Becken führten, ging, stockte mir der Atem. Sie sah so sexy aus! Diese kleinen Stoffstücke betonten mehr, als dass sie etwas verhüllten. Es war nicht einmal ein besonders knappes Exemplar, aber dennoch konnte ich alles sehen. Wusste ich doch, wie es unter dem bunten Stoff aussah. Verlegen lächelnd stieg sie mit langsamen grazilen Schritten ins Wasser. Ich beobachtete gebannt, wie sie hineinglitt, untertauchte und mit dem Kopf in den Nacken gelegt wieder herauskam. Ihre vollen Haare klebten ihr glatt am Kopf und betonten ihr wunderhübsches Puppengesicht. Fast wäre ich untergegangen und versunken in den Fluten wie ein Seemann, der eine zauberhafte Meerjungfrau erblickt hatte. Sie kam mit kräftigen Zügen auf mich zugeschwommen und zog grinsend an mir vorbei. Entweder wusste sie ganz genau, was ihr Anblick in mir ausgelöst hatte, und sie spielte mit mir – oder sie hatte keine Ahnung, wie unglaublich sexy sie war.
Ich holte locker zu ihr auf und betrachtete sie von der Seite. Offenbar schwamm sie gern, denn sie wirkte nach ein paar Zügen gelöster und schien die Anspannung von vorhin einfach wegzuschwimmen. Es war nicht mein vornehmlicher Gedanke, mich mit ihr im Wasser zu wälzen, ihren warmen Körper an meinen gepresst, und ich schämte mich fast dafür, dass ich jetzt an nichts anderes mehr denken konnte, als daran, dass sie fast nackt neben mir schwamm. Aber, Herrgott, welcher Mann hätte das nicht getan?
»Du hast wirklich vor, neue Räume für uns zu finden?«, fragte sie mich nach ein paar Minuten. »Nur, weil du nicht willst, dass ich den dunklen Weg zum Gemeindehaus allein gehe?«
»Warum nicht?«
»Findest du das nicht ein bisschen … verrückt?«
Ich dachte einen Moment über ihre Worte nach. War es das? Ich fand es eigentlich sehr nobel. Vielleicht erschien ihr meine Motivation dahinter ein wenig verrückt, aber sie wusste ja nicht, was ich wusste. Zumindest noch nicht. »Ich hab das Geld dafür, warum sollte ich das dann nicht tun?«
»Du weißt schon, dass die Selbsthilfegruppen im Gemeindehaus keine Raummiete zahlen müssen.«
Daran hatte ich auch bereits gedacht. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wie solche Treffen organisiert wurden oder abliefen. Zu welcher Art Treffen hätte ich auch gehen sollen? Die Anonymen Bluttrinker? Oder die Heimlichen Untoten? Aber ich wusste, dass die Kirche ihre Räumlichkeiten oftmals kostenlos für solche Initiativen zur Verfügung stellte. Ich grinste zu ihr rüber. Sie hatte angehalten und paddelte mit Armen und Beinen auf der Stelle. »Lass mich mal machen. Aber nun«, ich schwamm zu ihr, »will ich dieses Wochenende nur mit dir genießen. Ich mach uns ein bisschen Musik an.«
Ich schwang mich aus dem Becken, schnappte mir ein Handtuch von meiner Liege, um mir die Hände abzutrocknen, und schaltete die Anlage an. Nicht zu laut ließ ich die CD laufen, die noch vom letzten Mal im Player lag. Es erklangen die ersten wunderschönen Töne von »Bittersweet Symphonie« von The Verve – wie passend. Ich sprang wieder ins Wasser und tauchte einmal bis zum Grund, wie ich es gern tat, um einen Blick auf meine Autosammlung zu werfen. Als ich das gesamte Haus unterkellern ließ, kam mir der Gedanke, dass es reizvoll wäre, vom Pool aus in die Garage sehen zu können. So ließ ich ein Fenster einbauen. Wie in einem Aquarium. Nur dass es keine Fische zu bestaunen gab, sondern meine prachtvolle Sportwagensammlung.
Als ich nach oben blickte, sah ich Louisa schräg über mir und schwamm langsam zu ihr. Plötzlich tauchte auch sie unter und sah mich lächelnd an. Ihre Haare schwammen wie kleine dunkle Flammen um ihren Kopf. Ehe ich bei ihr angekommen war, tauchte sie wieder auf. Ich schwamm unter Wasser nah zu ihr heran und tauchte ebenfalls langsam auf, doch sie duckte sich unter mir weg, ehe ich sie küssen konnte. Ich musste lachen und verfolgte sie, was mir eine Ladung Wasser ins Gesicht einbrachte. Ihr Lachen hallte hell und bezaubernd in dem hohen Raum wider und passte so wunderbar zu den schönen Klängen der bittersüßen Sinfonie.
Wir tollten ein bisschen herum, bespritzten uns mit Wasser und tauchten uns gegenseitig unter. Bis sie irgendwann die Arme um meinen Nacken schlang und lachend »Ich ergebe mich!« rief.
Ich zog sie näher zu mir heran. Sie war völlig außer Atem und lachte mich an. Ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an und musterten mein Gesicht von der Stirn bis zum Kinn und zurück, um dann an meinen Augen hängen zu bleiben. Noch einmal strich sie mir sanft über die Wange, und ich wagte kaum, zu atmen. Ein kleines Runzeln huschte über ihre Stirn, und sie drückte mir, wie es ihre Art war, ihre warmen Lippen auf den Mund. Nur kurz, doch lange genug. Ein gequälter kleiner Seufzer stieg aus meiner Brust, ehe ich es verhindern konnte. Wie sehr ich diese Frau begehrte!
»Ich liebe dich«, sagte sie leise und lächelte schüchtern.
Bei allen Heiligen und Unheiligen aller Weltreligionen – hatte sie das wirklich eben gesagt? Mir stockte der Atem, und ich wäre fast untergegangen. Ich starrte sie wahrscheinlich ziemlich fassungslos an, denn sie grinste verlegen.
»Hm, mit der Reaktion hatte ich jetzt nicht gerechnet«, flüsterte sie und wirkte mit einem Mal zaghaft, unsicher.
Ich konnte sehen, wie sie sich innerlich zurückziehen wollte, und drückte sie schnell fest an mich. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Ich liebe dich auch, Louisa. Mehr als du dir vorstellen kannst!«
Als hätte sie diese erneute Liebeserklärung als Bestätigung gebraucht, küsste sie mich leidenschaftlich und drängte sich gegen mich. Sie hatte es tatsächlich gesagt! Ich war überglücklich. Bis mir mein Vorhaben wieder in den Sinn kam. Ich musste es tun. Ich hatte keine Entschuldigung mehr, sie länger im Unklaren zu lassen. »Louisa, was auch immer passiert«, flüsterte ich zwischen ihren heißen Küssen und drückte sie noch etwas fester an mich, während ich uns über Wasser hielt. »Du darfst nie vergessen, dass ich dich wirklich liebe.«
Sie hielt inne und sah mich argwöhnisch an. »Was soll denn passieren?«
»Gar nichts. Hoffe ich«, versuchte ich, sie zu beruhigen. »Trotzdem, vergiss das bitte nicht.«
Sie sah mich zweifelnd an. »Du bist komisch manchmal«, erwiderte sie und küsste mich wieder.
Ich konnte kaum an mich halten. Sie im Bikini an meiner kalten, aber äußerst empfindsamen Haut, das Wasser um uns herum und ihre Liebeserklärung erregten mich derart, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment explodieren zu müssen. Als sie mir dann mit rauer Stimme die Aufforderung ins Ohr hauchte, mit ihr zu schlafen, verlor ich fast die Kontrolle. Beinahe hätte ich sie gepackt, wäre mit ihr aus dem Wasser gesprungen, um sie sanft auf die Liege zu betten. Hätte mich mit schwarz glühenden Augen über sie gebeugt und sie so intensiv geliebt, wie ich es noch nie getan hatte. Doch nur fast.
Ich drängte sie so schnell an den Beckenrand, dass sie überrascht auflachte. Die Adern an meiner Hand schwollen vor Erregung schwarz an. Auch meine Augen waren mit Sicherheit bereits verdunkelt. Louisa hatte die Augen geschlossen und klammerte sich an mich. Wenn sie mich jetzt ansah, würde sie sehen, dass ich kein Mensch war. Ich könnte sie küssen, dann würde sie die Augen nicht öffnen. Doch wenn ich sie küsste, würde ich die Kontrolle vielleicht ganz verlieren. Ich hatte mich bei ihr immer zurückgehalten. Nicht weil ich Angst hatte, sie zu verletzen. Nein, meine Körperkraft hatte ich unter Kontrolle. Jederzeit. Aber nicht das mächtige Blut in mir. Es war mir nicht immer leichtgefallen, mich zu zügeln, und heute hatte ihre unerwartete Liebeserklärung alle Selbstbeherrschung mit einem Hauch beiseite gewischt. »Ich hab kein Kondom hier«, flüsterte ich, während sie mich am Hals küsste, was meine Pein nur noch verschlimmerte.
»Hm.« Sie seufzte und rieb ihre Wange an meinem Hals. »Schade … Weißt du, dass sich deine Haut hier im Wasser viel wärmer anfühlt?«
Ich wusste nicht, ob ich zusammengezuckt war, aber sie lehnte sich plötzlich zurück und sah mich an.
»Dorian, deine Augen! Was ist denn mit deinen Augen?«
Nun war sie da. Die Stunde der Wahrheit. Doch ich war noch nicht soweit. Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte, aber es gab kein Zurück mehr. Meine Erregung verschwand schlagartig. Mit ihr auch das dunkle Blut, doch Louisa hatte es gesehen, ich konnte mich nicht mehr rausreden.
»Deine Augen waren ganz schwarz eben«, sagte sie anklagend.
»Ich weiß«, flüsterte ich und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Ich sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete.
Sie blickte von meinen Augen auf meine Haut, auf ihren Arm, der auf meinen Schultern ruhte, und verwirrt wieder zu mir auf. »Ich hab das schon mal gesehen«, flüsterte sie. »Ich dachte, das wäre ein Traum.«
Ich schüttelte den Kopf. »Bitte. Wollen wir aus dem Wasser rausgehen?«, schlug ich vor, da ich sie noch immer an den Beckenrand gepresst hielt.
Sie nickte, und ich hob sie mühelos hoch, setzte sie sanft auf den trockenen Rand und sprang mit einem Satz hinaus. Nicht ganz Vampirart, aber auch zu kraftvoll, um menschlich zu sein. Sie sah mich erschrocken an, als ich ihr die Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen. Dennoch ergriff sie sie und ließ sich von mir zu den Liegen führen, wo ich ihr den Bademantel umlegte. Ich zog mir meinen über und drehte mich wieder zu ihr um.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung und schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie und ließ die Hand wieder sinken. »Dieser Bademantel. Ich hab ihn schon mal gesehen. Ich bin vorher schon einmal hier gewesen!«
Ich ging langsam zu ihr und konnte ihr ansehen, dass die Erinnerung zurückkehrte.
»Da waren andere. Ein Mann, eine Frau und … Du warst auch hier. Oh, mein Gott! Ich erinnere mich wieder. Sie hatten mich entführt. Dieser Kerl war so widerlich. Ich hab versucht, mich zu wehren, aber er war viel stärker. Und du … du … er … Oh, Gott!« Sie wich einen Schritt zurück.
Ich blieb stehen.
Louisa blickte zum Schwimmbecken, aus dem wir gerade gestiegen waren. »Wie hast du das eben gemacht?«, fragte sie und sah mich an. »So stark ist doch kein Mensch.« Das letzte Wort war nur ein Flüstern.
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Vampir, Louisa«, erwiderte ich ruhig. »Ein Untoter, ein Blutsauger.«
*
»Was?« Ich war auf alles gefasst gewesen. Doch nicht auf das. Ich hatte das Gefühl, als würde mein Verstand einen Moment innehalten und erst langsam wieder Betrieb aufnehmen. Das hatte er vorhin gemeint, als er sagte, ich dürfe nicht vergessen, dass er mich liebte, egal, was passierte? Ein Vampir? Ein Blutsauger? Blutsauger! Das hatte dieser Widerling, der mich entführt hatte, auch über Dorian gesagt. Ach, du meine Güte! Ein Vampir? Klar, seine weiße und kalte Haut, seine spitzen Zähne, sie waren zwar nicht annähernd so spitz und groß, wie ich gedacht hätte, aber erkennbar – und diese schwarzen Augen und seine enorme Kraft. Das alles war definitiv unmenschlich. Wie hatte ich das so einfach hinnehmen können? »Du bist … ein Vampir? Aber, es gibt doch keine … ich meine, ich dachte … das gibt’s doch nicht!«
»Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber es ist wirklich so«, erwiderte Dorian ruhig.
Ich begriff nicht, wie das sein konnte, aber ich glaubte ihm, dass er ein Vampir war – oder zumindest glaubte, einer zu sein. »Das ist ja schrecklich«, flüsterte ich. »Aber … wer hat dir das angetan?«
Dorian runzelte die Stirn, kam zu mir und ergriff meine Hände. »Wer mir das angetan hat? Ähm, sein Name war Gerald Baffour. Er war ein Edelmann, der mich ausgewählt hatte. Angetan ist aber das falsche Wort. Er hat mir damit ein großes Geschenk gemacht, das mein Dasein komplett verändert hat und mir unendliche Möglichkeiten eröffnete. Ich hab zwar Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, aber ich habe jeden einzelnen Tag meines langen Daseins genossen. Vor allem die Tage mit dir, Louisa.«
Ich hörte ihm staunend zu und versuchte, die Worte in eine logische Verbindung zueinander zu bringen. »Dann bist du das schon länger?«
»Ungefähr sechshundert Jahre, um ehrlich zu sein.«
Ich musste mir eine Hand vor den Mund schlagen, um so einen überraschten Ausruf unterdrücken. Das war unfassbar! Wie konnte das sein? Ja, gut, Vampire waren unsterblich, das wusste doch jeder. Aber wie schaffte man es denn, über sechshundert Jahre zu leben? Das war eine verdammt lange Zeit. Ich starrte ihn an. Er sah nicht aus wie sechshundert. Er wirkte kaum älter als ich.
»Louisa, bitte hab jetzt keine Angst vor mir.« Dorian wirkte plötzlich ängstlich und hilflos.
So hatte er auch ausgesehen, als ich ihn im Penthouse stehen gelassen hatte. Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht. Herrje, ich hatte mit einem Vampir geschlafen?! Und ich hatte mir Sorgen gemacht, dass ich in seine Welt aus Reichtum und Glamour nicht reinpassen würde.
»Ich hab keine Angst vor dir.« Warum sollte ich Angst vor ihm haben? Hätte er mir das Blut aussaugen wollen, hätte er das schon längst tun können. Das alles hier war dafür nicht nötig. Außerdem glaubte ich ihm, dass er mich liebte. Ich spürte es.
Ach, du Schreck! Mit einem Male dämmerte es mir. »Und jetzt willst du mich zu einer von euch, zu einem Vampir machen?« Ich wich einen Schritt zurück. Es konnte nur so sein. Warum sonst sollte sich ein Vampir auf einen normalen Menschen einlassen? Es machte doch für einen unsterblichen Vampir keinen Sinn, sich in einen Menschen zu verlieben und ihm beim Sterben zuzusehen.
»Äh, nein, das hatte ich eigentlich nicht vor.«
»Nicht? Aber was denn?«
»Ich verstehe nicht …«, antwortete er, und sein Blick wurde noch fragender.
»Wenn du ein Vampir bist«, versuchte ich zu erklären, was offensichtlich war, »und nicht mein Blut trinken willst – und dass du das nicht willst, davon gehe ich aus, weil du das längst hättest tun können. Warum sonst solltest du mit mir ausgehen, mich hierher bringen und all das? Wenn nicht deshalb, weil du eine … Wie nennt man das bei euch? Eine Gefährtin willst? Eben eine Vampirin an deiner Seite.«
»Nein«, sagte er ernst und sah mich zärtlich an. »Louisa, du bist die wunderbarste Frau, die ich jemals kennengelernt habe. Ich habe mich in dich verliebt, ohne dass ich irgendetwas dagegen hätte tun können. Ich verfolge keinen Plan dabei. Ich will einfach nur mit dir zusammen sein. Am liebsten rund um die Uhr, jeden Tag. So lange, bis du mich nicht mehr willst. Ich hatte nicht vor, dich zu einem Vampir zu machen. Deshalb bin ich nicht mit dir zusammen. Ich liebe dich, Louisa.«
Mein Verstand lief mittlerweile wieder auf Normalbetrieb und versuchte, das eben Gehörte zu verstehen, diese fantastischen Details mit der normalen Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Ich blickte auf Dorians weiße Brust, die von dem Bademantel nur wenig bedeckt wurde, und auf seine weißen kühlen Hände. Ich ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Brust. Erst fühlte ich nichts, ich drückte fester und spürte einen kräftigen Herzschlag. Und nach einer unnatürlich langen Zeit einen weiteren. »Dein Herz schlägt.«
Dorian nickte. »Ja, aber nur ganz langsam. Wenn ich getrunken habe, schlägt es schneller.«
Ich hatte seinen Herzschlag gespürt, wenn wir zusammen gewesen waren. Und gehört, wenn ich auf seiner Brust gelegen hatte. »Dann bist du nicht … «, stammelte ich unsicher und hörte, wie meine Stimme zitterte. Das Wort tot wollte mir nicht über die Lippen kommen. Die Welt, wie ich sie kannte, schien bedrohlich ins Wanken zu geraten. Dorian legte seine Arme um mich und drückte mich sanft an sich. Es fühlte sich an wie immer. Er konnte doch kein Vampir sein?
»Wenn du willst, erzähl ich dir alles, okay?«, fragte er und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. »Lass uns nach drüben gehen.«
Ich nickte und ließ mich mit wackligen Beinen nach nebenan ins Wohnzimmer führen. James hatte ein Feuer im Kamin entfacht, das eine angenehme Wärme verbreitete, und eine Kanne dampfender Tee und zwei Tassen standen auf dem Couchtisch und warteten auf uns. Wir setzten uns aufs Sofa. Ich schlug die Beine unter, damit meine nackten Füße nicht kalt wurden und hörte staunend zu, wie Dorian langsam begann zu erzählen.
*
Ich war schon so lange ein Blutsauger, ein Untoter, ein Geschöpf der Nacht, dass ich mich an mein Leben als Mensch kaum mehr erinnern konnte. Es kam mir unwirklich vor, wenn ich daran zurückdachte, und war so verdammt lange her. Vor über sechshundert Jahren wurde ich in einem kleinen Dorf in England geboren, in welchem Jahr genau, das weiß ich nicht. Wir, das waren meine Eltern und meine drei Schwestern, lebten als Bauern in einer kleinen Ansiedlung aus Holz- und Lehmhütten. Das Leben war hart. Es gab nur Arbeit. Trotzdem waren wir bettelarm, und ich hatte die meiste Zeit Hunger.
Ich weiß noch, dass es ein Mädchen gab, das ich liebte und das mich liebte. Das dachte ich zumindest. Bis ich sie mit einem anderen ertappte, als sie Dinge tat, die sie angeblich nur mit mir anstellte. Ich war jung und tief verletzt. Deshalb lief ich von zu Hause, dieser kleinen, schäbigen Holzhütte irgendwo im Nirgendwo, weg. Mit dem, was ich am Leib trug. Mehr besaß ich sowieso nicht.
Sie war der Grund, warum ich diesem mysteriösen Mann in den feinen Gewändern und mit dem riesigen schwarzen Schlachtross begegnete. Dem Mann, der mich zu dem machte, was ich nun war. Der mir Dinge zeigte und mich Sachen lehrte, die ich mir nicht einmal hätte vorstellen können. Ich hätte ihr eigentlich dankbar sein sollen. Dennoch waren meine ersten Opfer sie und mein Nebenbuhler. Ich zeigte ihr genau, wer dem schwitzenden Kerl, der eben noch zwischen ihren Beinen geklemmt hatte, den Garaus machte. Sie hatte nicht einmal geschrien, aber das Entsetzen in ihren Augen würde ich nie vergessen. Es war erregend und befriedigend. Ihr Blut schmeckte so süß wie … Ja, ich war einst verliebt, aber das ist eine andere Geschichte.
Louisa hörte mir aufmerksam zu, während ich ihr von meinem Tod erzählte und der darauffolgenden Unruhe. Ich berichtete von meinen unzähligen Reisen um den Globus, von meinem Wissensdurst und meiner Suche nach Liebe. Ich beschrieb ihr, wie ich jahrelang, von schier unstillbarem Blutdurst getrieben, durch die dunklen Gassen der größeren Städte gezogen war, wie ich mordete, um zu überleben. Ich erklärte ihr, dass ich nun nicht mehr jeden Tag Blut trinken musste, es aber dennoch gern tat. Ich beichtete sogar das Zustandekommen meiner kleinen Souvenirsammlung. Ich erzählte ihr von anderen Vampiren, die ich kennengelernt hatte, und die mich entweder beeindruckt hatten, oder die ich vernichtet hatte, was wesentlich öfter vorkam.
Sie saß einfach da, wechselte gelegentlich ihre Sitzposition, doch sie rückte nie von mir weg. Ab und zu nahm sie meine Hand, dann wieder verschränkte sie die Arme missbilligend vor der Brust und hielt sich an den Oberarmen, als würde sie frieren. Zwischendurch brachte ihr James etwas zu essen, und ich hielt in meiner Erzählung inne, während sie aß und mich dabei nachdenklich musterte. Zuerst hatte sie verwirrt zu mir aufgeblickt, dann neugierig. Je mehr ich erzählte, umso mehr schien sie zu verstehen, zu begreifen und zu akzeptieren, dass ich tatsächlich ein Vampir war.
Der Morgen graute bereits in warmen Rot- und Orangetönen, als ich zum Schluss kam. Sechshundert Jahre erzählten sich nicht in einer Nacht, aber ich hatte ihr fast alles erzählt, was sie wissen musste, um zu verstehen, wer ich war. »Es tut mir unendlich leid, dass diese beiden Vampire sich an dir vergriffen haben. Ich habe ihr Nest aufgespürt und sie alle getötet. Als Strafe, aber auch, damit die, die entkommen waren, gewarnt sein würden, sich nicht noch einmal mit mir anzulegen. Auch wenn ich nicht glaube, dass diese beiden wirklich das ganze Ausmaß begriffen hatten, bin ich fest davon überzeugt, dass sie nur an mein Blut herankommen wollten. Ich bin wohl der älteste Vampir der Welt. Mein Blut ist stärker als alles, was sie jemals hätten trinken können. Es hätte sie sehr viel kräftiger gemacht, und ihre Sinne noch mehr sensibilisiert. Gerald hat mich gelehrt, dass nicht jeder das dunkle Geschenk verdient und dass sein uraltes Blut kostbar war. So wie meines jetzt. Genau deshalb meide ich alle anderen Vampire und verlange das Gleiche von ihnen.
Als sie dich mit hineingezogen haben, haben sie eine Grenze überschritten. Das werden sie nicht noch einmal wagen. Louisa, hier bei mir bist du sicher. Und auch wenn du nicht hier bist, werde ich dich beschützen. Ich passe auf dich auf, denn ich kann sie spüren, die anderen Vampire. Ich weiß, wann einer in der Nähe ist, und werde ihn vertreiben. Du musst keine Angst haben.«
Louisa sah mich ernst an. Sie war müde, doch sie hatte sich nicht beschwert. Ich wusste nicht, was sie dachte, und ich hatte Angst. Es war immer noch möglich, dass sie aufstand und nach Hause gebracht werden wollte. Ich wusste, dass ich sie nicht würde aufhalten können. Ich würde sie nicht zwingen können, mit mir zusammen sein zu wollen. Und würde es auch nicht wollen.
Sie stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. »Die Sonne geht gleich auf«, stellte sie fest und drehte sich zu mir um. »Musst du dich jetzt nicht verstecken?«
»Nein, ich kann bei Tageslicht nach draußen. Ich tu es nur ungern, weil ich mit meiner hellen Haut so sehr auffalle.«
»Warum hast du mir das nicht vorher erzählt?« Es lag kein Vorwurf, nur Neugier in ihrer Frage, wie es eben ihre Art war.
»Wärst du dann jetzt hier?«
Sie lächelte müde. »Wahrscheinlich nicht. Ich weiß es nicht. Ich bin verwirrt«, antwortete sie und unterdrückte ein Gähnen. »Und müde. Lass uns schlafen gehen, ja?« Sie kam zurück zum Sofa und hielt mir ihre kleine Hand hin.
»Du willst nicht nach Hause?« Ich nahm ihre Hand und stand auf.
»Nein.«
Überglücklich folgte ich ihr. Wir holten ihre Tasche aus dem Schwimmbad und gingen nach oben ins Schlafzimmer. Ich stellte die Tasche ab und war mir nicht sicher, ob ich bleiben durfte.
»Du musst nicht woanders schlafen.« Sie sah mich nachdenklich an. »Sei mir nicht böse, wenn ich sofort einschlafe. Ich bin hundemüde und mir schwirrt der Kopf.«
»Wie könnte ich«, flüsterte ich und beugte mich zu ihr herunter. »Du machst mich so glücklich!«
Ich ließ sie das letzte winzige Stück auf mich zukommen. Unser Kuss ging mir durch Mark und Bein und wärmte mich mehr auf, als frisches Blut es getan hätte. Sie seufzte leise und sah mich danach mit diesem weichen, ernsten Blick an, den ich schon so gut kannte.
Wenig später lagen wir zusammen in meinem großen Bett und sie kuschelte sich an meine Brust, wie sie es jedes Mal tat, wenn wir die Nacht zusammen verbrachten. Nun wusste sie, was ich war. Und war immer noch hier. Warum nur wurde ich dieses ungute Gefühl nicht los?
*
Dorian war fort, als ich erwachte. Ich zog mir die Decke noch einmal bis zum Kinn hoch, schloss die Augen und sog den frischen Duft der fremden Bettwäsche ein. Nun lernte ich jemanden kennen, bei dem ich mich wohlfühlte, und der mich tatsächlich wollte. Und dann stellte sich heraus, dass er ein Vampir war. Ein Vampir! Von allen Männern in der Stadt musste ich gerade den einzigen Vampir kennenlernen und mich in ihn verlieben? Das war verrückt.
Nichts an ihm hatte meinen Argwohn erregt. Zumindest nicht für lange. Er hatte immer alles plausibel begründet. Wenn er zu spät kam, weil die Sonne schien, ja selbst, warum wir nie zusammen aßen. Wenn ich es mir jetzt überlegte, waren wir tatsächlich nie essen gewesen. Von seinem selbst gemachten Frühstück hatte er nur häppchenweise gekostet. Er wurde auch nie betrunken, bekam nicht einmal einen Schwips, wenn er die vielen Gläser Whiskey trank. Über all das hatte ich mich nicht gewundert.
Mein Freund war ein sechshundert Jahre alter Vampir, er konnte ein eiskalter Killer sein, war exzentrisch und ein wenig kleptomanisch veranlagt. Aber er liebte mich. Und ich ihn. Daran hatte sich nichts geändert.
Natürlich hatte er gelogen, aber das gehörte zu seiner sterblichen Fassade, wie er es nannte. Nun ließ er mich hinter diese Fassade blicken. Dahinter war er noch immer der Dorian, den ich kennengelernt hatte. Er war kein zähnefletschendes Monster, das mir das Blut aussaugen wollte.
Wie würde ein Zusammenleben mit ihm aussehen? Wie viel anders gestaltete sich sein Alltag? Was sollte ich sagen, wenn wir nicht mit allen anderen auf eine Gartenparty oder an den Strand gehen konnten? Oder wenn jemandem auffiel, dass seine Haut eiskalt war?
Nein, darüber wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich hatte mich noch nicht einmal daran gewöhnt, wie reich Dorian war, und in welchen Verhältnissen er wohnte. Dann musste ich noch die Erkenntnis verdauen, dass ich so tiefe Gefühle für ihn hatte, und dass er ein Vampir mit unglaublichen körperlichen Kräften war. Dabei sanft und liebevoll, sodass ich sogar bei der Erinnerung an seine Berührungen genüsslich erschauderte. Nein, das waren zu viele Dinge auf einmal, darüber müsste ich mir nach und nach klar werden.
Ich schüttelte die Gedanken ab, ging ins Bad und wusch mich. Danach schnappte ich mir den Bademantel von gestern, der genau meine Größe hatte, – wahrscheinlich hatte ihn Dorian extra für mich gekauft, das sähe ihm ähnlich, – und ging nach unten in der Hoffnung auf eine Tasse heißen Kaffee.
James musste mich gehört haben, denn er stand in der Eingangshalle und begrüßte mich freundlich. »Haben Sie gut geschlafen, Miss Louisa?«
»Danke, ja. Hätten Sie vielleicht einen Kaffee für mich?«
»Kommt sofort«, erwiderte der Butler und verschwand in Richtung Küche.
Ich folgte ihm und wunderte mich über das laute Maschinenbrummen und Wasserplätschern, das aus dem Schwimmbad zu kommen schien. »Wissen Sie, wo Dorian ist?«
»Er ist nebenan und schwimmt. Das tut er gern, wenn er nachdenken muss. Milch?«, fragte James und stellte mir, nachdem ich genickt hatte, einen dampfenden Becher hin.
»Danke.« Ich genoss einen ersten heißen Schluck. Das tat gut. Die ganze Nacht aufzubleiben hatte meine innere Uhr ganz durcheinandergebracht, und ich fühlte mich schlapp und ausgelaugt und brauchte unbedingt Koffein, um in Schwung zu kommen. James wischte mit einem Tuch über die blitzblank geputzte Arbeitsplatte und warf mir immer wieder nachdenkliche Blicke zu. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich mit ihm unterhalten sollte. Was sollte ich ihm sagen? Über das Wetter plaudern?
Er räusperte sich. »Er hat es Ihnen erzählt?«
Warum überraschte es mich eigentlich, dass James wusste, dass sein Arbeitgeber ein Vampir war? Die Worte Dorian und Vampir zu denken, fühlte sich schon nicht mehr so verrückt an wie gestern Abend. Ich sollte es öfter denken. Dorian ist ein Vampir. Dorian ist ein Vampir … Ich nickte.
»Sie müssen keine Angst vor ihm haben. Er würde Ihnen nie etwas antun«, sagte er ernsthaft.
»Ich weiß«, erwiderte ich unbehaglich und nahm noch einen Schluck Kaffee.
»Er kann nichts dafür, aber er ist, was er ist«, redete James unbeeindruckt weiter, als läge ihm das schon länger auf der Seele. »Sie dürfen ihm keinen Vorwurf machen, dass er sich bisher nicht getraut hatte, es Ihnen zu sagen. Er ist nicht schlecht oder böse. Er liebt Sie und würde alles für Sie tun. Glauben Sie mir. Doch wenn Sie ihn jetzt verlassen oder wegschicken, würde es ihm das Herz brechen. Vielleicht ist das ein bisschen viel verlangt, aber ich bitte Sie, geben Sie ihm eine Chance.«
Er sagte das mit so viel Nachdruck und sah mich so ernst dabei an, dass sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete, den ich mühsam herunterschlucken musste, ehe ich antworten konnte. »Ich weiß. Und ich liebe ihn auch. Immer noch. Ich weiß nur nicht, wie ein Zusammenleben mit ihm funktionieren soll.«
Es war ein bisschen seltsam, gerade mit Dorians Butler über so etwas Persönliches zu reden, aber er war wohl der Einzige, mit dem ich überhaupt darüber würde reden können. Dass ich niemandem die Wahrheit über meinen Freund würde erzählen können, war mir klar. James kam um den Küchenblock herum und nahm väterlich meine Hand. Seine Hand fühlte sich warm und weich an, ganz anders als Dorians.
»Ich kenne Mr. Fitzgerald bereits mein ganzes Leben. Glauben Sie mir, er wird einen Weg finden«, erwiderte er und tätschelte meine Hand. »Sie müssen ihn nur lassen.«
Ich merkte, wie mir die Tränen kamen, weil so viel Zuneigung aus seinen Worten sprach. Ob Dorian wusste, dass James ihm so sehr ergeben war? »Ich werd’s versuchen.«
James nickte mir ein weiteres Mal aufmunternd zu. »Tun Sie das. Sie werden es nicht bereuen«, sagte er und ließ meine Hand wieder los. »Ich sag Mr. Fitzgerald Bescheid, dass Sie aufgestanden sind, und mache Frühstück.«
Er deutete eine Verbeugung an und wand sich zum Gehen, doch ich hielt ihn am Arm zurück. »Warten Sie, James. Ich geh selbst zu ihm. Danke.« Seine Worte hatten mir Mut gemacht und nahmen mir die Unsicherheit, die ich eben noch gespürt hatte. Ich stellte meinen Kaffee ab und ging ins Schwimmbad. Das Brummen hatte aufgehört, und es war gespenstig still in der großen Halle. Dorian lag beinahe reglos mit geschlossenen Augen im Wasser, den Kopf so weit unter Wasser, dass nur sein Gesicht herausschaute. Sein Gesichtsausdruck war ernst, fast traurig. Hätten seine Hände sich nicht leicht hin und her bewegt, er hätte wie ein Toter ausgesehen.
An einem der Haken hinter den Liegen entdeckte ich meinen Bikini, sauber auf einen Bügel gehängt, und zog ihn an. Als ich zügig ins Wasser stieg, schnellte Dorian hoch.
Er sah mich überrascht an. Mit einem einzigen kraftvollen Zug war er bei mir. »Du bist noch da«, flüsterte er mit großen Augen.
»Ich hab dir doch schon vergangenes Wochenende gesagt, dass ich bei dir bleibe.«
»Aber da wusstest du noch nicht …«
»Dass du ein Vampir bist?«, unterbrach ich ihn und legte ihm meine Arme um den Nacken. »Nein. Aber ich wusste, dass ich mich in dich verliebt hatte. Daran hat sich nichts geändert.«
Dorian lachte beglückt auf und küsste mich zurückhaltend. Als ich seinen Kuss erwiderte, zog er mich fest an sich und wirbelte uns im Wasser herum. Es war aufregend, wie mühelos er uns im Kreis quer durch das riesige Becken trieb. Am Beckenrand hielt er an, und ich war weit mehr außer Atem als er. Er hielt mich noch immer fest an sich gepresst, und ich spürte seinen kühlen Bauch an meinem, seine Arme um meinen Rücken und seinen Atem an meinem Gesicht, während er mich küsste.
»Jetzt brauchen wir keine Kondome mehr, oder?«, raunte ich ihm zu, und er lachte leise.
Wenig später schwammen unsere Badesachen im Wasser, und wir liebten uns, während wir immer wieder unter Wasser tauchten und die Leichtigkeit dort genossen. Es war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, wie Dorian uns ohne große Anstrengung über Wasser hielt. Ich bekam eine ungefähre Vorstellung von seiner ungeheuren Körperkraft.
Während wir miteinander geschlafen hatten, hätte mir eigentlich auffallen müssen, dass Dorian anders war. Kein Mann, zumindest kein sterblicher, konnte so lange durchhalten, ohne ein einziges Mal zum Orgasmus zu kommen. Umso überraschter war ich, als Dorian schon nach einigen Minuten mit mir zusammen zum Höhepunkt kam.
»Ich hoffe, ich war nicht zu schnell?«, fragte er beschämt, während er mich danach weiterhin fest an sich gedrückt hielt. »Ich hatte nicht gedacht, dass ich jemals wieder mit dir schlafen würde. Da hat es mich wohl einfach überkommen.«
»Alles ist gut, Dorian. Es war wunderbar«, erwiderte ich. »Wie immer.« Ich küsste ihn zur Bestätigung und bemerkte, wie sich bereits wieder etwas an ihm regte. Auch das hatte er sterblichen Männern voraus. Schnell entwand ich mich lachend aus seinem Griff. »Bevor wir hier Runde zwei einläuten, muss ich was essen«, rief ich und tauchte unter seinen Armen hindurch und zur Treppe.
Ich hoffte, dass James nicht gerade jetzt hereinkam, und stieg zügig aus dem Becken heraus und huschte zu der Liege, auf der mein Bademantel lag. Dorian war bereits da und hielt ihn mir hin. Ich hatte ihn nicht gehört und zuckte erschrocken zusammen. Er zwinkerte mir grinsend zu, legte den Bademantel um mich und gab mir einen kühlen Kuss auf den Hals. Sein Blick danach sagte mehr als tausend Worte.
*
Sie war noch da. Sie war immer noch da. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen, während sie das Frühstück aß, das James ihr im Esszimmer vorbereitet hatte. Ich hatte es kaum zu hoffen gewagt und war mehr als überrascht, als sie zu mir ins Wasser kam. Wunderschön und so sinnlich wie nie. In den vergangenen sechshundert Jahren war ich noch niemals so schnell zum Höhepunkt gekommen. Es war mir fast peinlich, aber ich hätte mich keine Sekunde länger beherrschen können. Ja, nach gut sechshundert Jahren hatte ich mich das erste Mal wieder menschlich gefühlt. Es war schön, aber ein wenig beängstigend. Gern hätte ich mich umgehend davon überzeugt, dass gerade diese eher störende Seite der Menschlichkeit nicht von Dauer sein würde.
Aber wir hatten ja noch Zeit. Viel Zeit.
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte sie mich zwischen zwei Bissen.
»Kurz nach vier Uhr nachmittags.«
»So spät schon? Dann hab ich ja den halben Tag verschlafen.«
»Wir waren ja auch die ganze Nacht auf.«
»Wird es immer so sein, wenn wir zusammen sind? Dass wir am Tag schlafen und erst abends zusammen rausgehen?«
Ich ahnte, worauf sie hinaus wollte. Mein Tagesablauf war natürlich ein vollkommen anderer als ihrer. Zum einen auch deshalb, weil ich nur selten schlief. Aber das würde ihren Rhythmus natürlich völlig durcheinanderbringen. Ich konnte wohl kaum von ihr verlangen, jedes Mal so lange wach zu bleiben wie ich. Es hatte mich schon überrascht, dass sie gestern so lange durchgehalten hatte.
»Ich denke, ich kann mich an deinen Tagesablauf anpassen«, antwortete ich leichthin. »Ausgiebige Sonnenbäder an öffentlichen Stränden musst du allerdings ohne mich machen.«
Sie zog grinsend die Augenbrauen hoch. »Du kannst wirklich rausgehen bei Tag?«
»Ja, das kann ich. Und wenn du das möchtest, werde ich es tun. Dann würde ich allerdings die nicht ganz so sonnigen Tage vorziehen. Meine Haut ist etwas empfindlich, aber ich werde nicht in Rauch aufgehen. Louisa, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit dein Leben so normal wie möglich weitergeht.«
»Normal?«, fragte sie und sah mich skeptisch an. »Ich glaube nicht, dass mein Leben je wieder normal verlaufen wird, solange wir zusammen sind.«
Manchmal war es schwer, ihre wahren Gedanken hinter ihren Worten zu erkennen, doch sie lächelte mich an, deshalb nahm ich das Gesagte als Scherz und nicht als Vorwurf. »Was hoffentlich noch lange sein wird?«, ergänzte ich fragend.
»Was hoffentlich noch sehr lange sein wird«, wiederholte sie und warf mir einen tiefen Blick zu.
Sie aß grinsend weiter, während ich ihr einen kurzen Kuss auf die Wange drückte. Sie sah so entzückend aus in dem cremegoldenen Bademantel, den ich extra für sie besorgt hatte, und lächelte mich an, als wäre alles wie immer. Als hätte ich ihr nicht gerade gestern gestanden, dass ich ein Vampir bin. Und ich hatte solche Angst vor ihrer Reaktion gehabt! Ich hätte von Anfang an mehr Vertrauen in sie haben sollen. »Möchtest du eigentlich noch irgendetwas über mich wissen oder darüber, was ich dir erzählt habe?«
Sie aß ihr letztes Stück Toast und schob den Teller weg, »Ja, jede Menge sogar«, antwortete sie und seufzte. »Aber du hast mir schon so viel erzählt, ich weiß nicht, ob ich die Details alle wissen möchte. Ich meine, wir sind immer noch zusammen, auch wenn wir keinen Strandurlaub machen werden. Du isst nicht. Zumindest nicht das hier. Du bist viel stärker als ein Mensch. Fürchten muss ich mich dennoch nicht vor dir. Du bist tot, aber lebst dennoch. Du hast ein Spiegelbild, nicht so wie die Vampire in den Geschichten. Außer, dass du weit besser aussiehst als alle Männer, die ich bisher getroffen habe, fällst du nicht weiter auf. Ich nehme an, ich kann weiterhin Knoblauch essen und Kreuze tragen?«
Ich nickte. Es war erstaunlich, wie sachlich Louisa die Sache betrachtete.
»Ich glaube, das reicht mir für den Anfang.«
»Du findest es nicht abstoßend, dass ich Menschenblut trinke?«
»Doch. Aber ich denke, dass du das wohl nicht in meiner Gegenwart tun wirst, und wie du mir erzählt hast, muss dein Opfer nicht dabei sterben«, antwortete Louisa und wirkte dabei erstaunlich gefasst.
»Du bist eine unglaubliche Frau«, sagte ich, obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass das nur die Ruhe vor einem Sturm war, der bald über mich hereinbrechen würde.
»Mag sein. Manchmal kann ich einfach gut verdrängen«, erwiderte sie mit einem leicht grimmigen Unterton, der jedoch sofort wieder verschwand. »Ich will mir jetzt keine Gedanken darüber machen und damit unser Wochenende zerstören.«
Hatte ich es doch gewusst! »Louisa, wir werden noch viele Wochenenden zusammen haben.« Ich zog sie sanft von ihrem Stuhl hoch und auf meinen Schoß. »Da können wir ruhig dieses Wochenende über das reden, was ich dir erzählt habe. Und was du erlebt hast.«
Sie gab mir einen Kuss und schüttelte den Kopf. »Aber nicht hier«, sagte sie dann. »Lass uns ausgehen heute Abend. Wie ein ganz normales Paar, ja? Da können wir uns ja auch unterhalten.«
Ich erzählte ihr, dass ich ein Vampir war, und sie wollte tanzen gehen! Was für eine sonderbare Reaktion. Ich stimmte lachend zu. Es war Samstagabend. Ich war vielleicht alt, aber nicht so alt. Mich überlief ein wohliger Schauder bei dem Gedanken daran, diese süße Qual zu verspüren, wenn ich in Louisas Nähe war und sie nicht so berühren konnte, wie ich gewollt hätte. Fürs Reden hatten wir wirklich noch jede Menge Zeit.
*
Normal? Nichts war mehr normal. Nichts würde jemals wieder normal sein. Es war nicht nur Dorians Enthüllung, die mich aus der Normalität meines beschaulichen Lebens gerissen hatte. Die Erinnerung an die Entführung traf mich mit voller Wucht und brachte mich weit mehr ins Straucheln, als ich ihm zeigen wollte. Das war etwas, was die Sache mit Mick bei Weitem übertraf. Ich hatte zum ersten Mal im Leben Todesangst verspürt – und wäre froh gewesen, wenn ich mich nie wieder daran hätte erinnern können. Ich war von zwei Vampiren entführt worden, die mich wahrscheinlich umgebracht hätten, wenn sie meinen Freund, der ebenfalls ein Vampir war, nicht zu Hause angetroffen hätten! Mein Leben war schon seit Mick eine Baustelle, wie sollte ich es nach diesen Erlebnissen normal weiterführen?
Das wollte ich Dorian nicht zeigen. Er sollte spüren, dass ich ihn noch immer wollte. Dass es mir egal war, dass er ein Vampir war. Für mich war er Dorian, und er benahm sich mir gegenüber nicht anders. Er zeigte mir nur ab und zu, was ihn von einem normalen Mann unterschied.
Deshalb wollte ich unbedingt am Abend etwas »Normales« machen. Ich musste raus aus diesem Riesennobelhaus, weg von dem Butler und von den Erinnerungen. Schon bevor ich Dorian kennengelernt hatte, waren die Abende, an denen ich mit Annie tanzen gegangen war, oder wir Cocktail trinkend im Adam’s saßen, die Momente, in denen mir mein Leben nicht wie ein ewiger Kampf vorkam. Seit der Sache mit Mick war alles ein wenig aus den Fugen geraten, und ich hatte jeden Tag mehr überstanden als tatsächlich gelebt. Das alles verblasste, wenn ich etwas getrunken hatte.
Obwohl Dorian mich ein ganzes Stück vorangebracht hatte bei der Bewältigung meiner Angstzustände, hatte der gestrige Abend mein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Ich hatte das Gefühl, als hätte es eine merkwürdige Schieflage bekommen, und es würde noch schwieriger werden, voranzukommen. Hatte ich nicht von Anfang an befürchtet, dass es kompliziert werden würde mit Dorian? Wie sehr hatte er sich um mich bemüht! Das hatte bisher noch niemand getan. Vielleicht sollte ich auf James hören und Dorian einen Weg finden lassen, wie das mit uns klappen könnte?
Ich sah ihn an. Dorian, den Vampir. Wie gut er wieder aussah. Er trug ein taubenblaues Shirt mit V-Ausschnitt und langen Ärmeln, dazu eine schwarze Anzughose, die wie angegossen saß, und wie so oft ein passendes Jackett. Ich hatte mir ein Kleid eingepackt, auch wenn ich es nicht fürs Ausgehen mitgenommen hatte. Dorian hatte mich, bevor er sich angezogen hatte, danach gefragt und seine Garderobe entsprechend angepasst. Wir sahen gut zusammen aus, wie ich in der Spiegelung eines der großen Wohnzimmerfenster feststellen musste, als wir Arm in Arm zusammenstanden.
»Entschuldige mich einen Moment«, raunte er mir zu und sah mich verlegen an. »Ich möchte nicht ganz so blass aussehen, wenn wir ausgehen.«
Ich begriff nicht gleich und sah ihn fragend an. Blut. Natürlich, er musste Blut trinken, um etwas Farbe zu bekommen. Erschrocken wich ich ein Stück zurück.
»Nein«, beruhigte er mich. »Ich habe immer ein paar Konserven hier. Ich bin gleich wieder da.«
Konserven? Ja klar, Dorian gehörte das Blutspendezentrum, in dem Joshua arbeitete. Clever. Wäre ich ein Vampir, hätte ich es wahrscheinlich ebenso gemacht. Ich setzte mich und lehnte den Kopf zurück. Dorian hatte Musik angemacht, und ich lauschte ihr mit geschlossenen Augen. Es war irgendetwas Klassisches und sehr schön. Dass Dorian wieder zurückgekommen war, merkte ich erst, als ich seine Finger auf meiner Wange spürte. Ich schlug träge die Augen auf und schmiegte mein Gesicht an seine Hand. Sie war kühl, aber dennoch seltsam vertraut. Ich war tatsächlich mit einem Vampir zusammen.
Wir mussten eine Weile fahren, bis wir in der Stadt waren, obwohl Dorian sehr viel schneller fuhr, als erlaubt war. Im Adam’s trafen wir Annie und Josh und auch Kelly war da mit einer Freundin, die ich nicht kannte, und die eine unangenehme Lache hatte. Von Eric hatte keiner etwas gehört. Ich hatte das Gefühl, das uns alle anstarrten, als wir ins Adam’s gingen, aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Wobei Dorian so unverschämt gut aussah, dass es mich eigentlich nicht hätte wundern sollen, dass sich alle nach ihm umdrehten. Ich sah ihn den ganzen Abend über den Tisch hinweg an und fragte mich, ob andere erkannten, dass er kein Mensch war. Er trug nie kurzärmlig, außer gestern, und auch an dem Abend konnte man bis auf sein Gesicht, seinen Hals und seine Hände keinen weiteren Blick auf seine bleiche Haut erhaschen. Bei dem gedämpften Licht fiel es wahrscheinlich wirklich nicht auf. Immerhin waren wir in England, viele meiner Landsleute waren nicht besonders braun, mich eingeschlossen.
Ob man andere Vampire auch nicht von Menschen unterscheiden konnte? Dieses Scheusal, das mich entführt hatte, hatte ich nicht für etwas Übernatürliches gehalten. Er war nur Angst einflößend und brutal gewesen. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab und bestellte mir einen weiteren Cocktail.
Als die Leute am Nebentisch aufstanden, konnte Dorian endlich um den Tisch herumrücken und sich neben mich setzen, was Annie mit einem breiten Grinsen kommentierte. Es war eine lustige Runde, in die Dorian sich so gut einfügte, als wäre er nicht das, was er war. Dieser Anflug von Normalität tat mir gut, und ich genoss meine Cocktails und Dorians Nähe, was mich beides gleichermaßen berauschte. Als Annie nach einiger Zeit auf die Toilette wollte, und ich mich ihr anschloss, entfaltete der Alkohol langsam seine Wirkung. Ich war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.
Das entging meiner besten Freundin natürlich auch nicht, und sie nahm mich kichernd an die Hand. »Hast dich ja so schick gemacht heute Abend«, stellte sie fest, als wir die Treppen nach unten zu den Toiletten gingen.
»Eigentlich wollten wir zu Hause bleiben. In Dorians Strandhaus.«
»Dann hast du die Hütte jetzt endlich gesehen? Und? Wie sieht’s da aus?«
»Es ist, wie ich gedacht hatte: riesig und unglaublich luxuriös. So etwas hab ich noch nicht gesehen. Viele Zimmer und alles ist total modern und nobel. Dorian hat sogar ein eigenes Schwimmbad.«
Wir waren unten angekommen und unterhielten uns durch die Trennwände der Toilettenkabinen hindurch weiter.
»Das ist ja der Hammer«, erwiderte Annie lachend. »Ich hoffe, er feiert da mal ’ne Poolparty und lädt uns ein. Hast du jetzt kein Problem mehr damit, dass er stinkreich ist?«
»Nein, ich denke nicht.« Dorians Reichtum war zum kleineren meiner Probleme geworden.
»Habt ihr in dem Schwimmbad auch schon … na, du weißt schon?«, hörte ich Annie fragen und konnte ihr anzügliches Grinsen beinahe sehen.
Wie gut, dass sie mich nicht sehen konnte, denn bei der Erinnerung daran wurde ich rot. »Du bist unmöglich!«, erwiderte ich und lachte. »Ja, haben wir. Und, wenn du es genau wissen willst: ja, es ist immer noch so wahnsinnig aufregend mit ihm wie beim ersten Mal.«
»Das wäre meine nächste Frage gewesen.« Annie kicherte.
Wir trafen uns vor dem Waschbecken wieder.
Sie sah mich nachdenklich im Spiegel an, während wir uns die Hände wuschen. »Du siehst irgendwie anders aus. Ist etwas passiert?«
Erschrocken hielt ich inne und sah mir mein Spiegelbild an. War das so offensichtlich? Ich fand, ich sah aus wie immer.
»Du wirkst nicht mehr so ablehnend, nicht mehr so skeptisch, wie du zu Anfang warst.« Annie musterte mich immer noch. »Warte mal. Du hast dich in ihn verliebt! Das ist es.«
Ich drehte mich erstaunt zu ihr um und merkte schon, wie ich wieder rot wurde. Sie lachte mich an und strich mir wie eine große Schwester über die Wange.
»Ist das schön! Ich freu mich für dich! Das wurde wirklich mal wieder Zeit. Ich hab schon befürchtet, dass du nie wieder einen findest, weil du immer ein Haar in der Suppe gefunden hast. Aber scheinbar gibt es an deinem Superman nichts auszusetzen. Ich hoffe nur, dass er dir nicht das Herz brechen wird. Dieser unglaublich gut aussehende und stinkreiche Dorian Fitzgerald.«
Wir machten uns wieder auf den Weg nach oben. Ich hätte ihr gern noch von Dorians Liebeserklärung erzählt, ließ es jedoch bleiben.
Dorian beugte sich zu mir, kaum dass ich wieder neben ihm saß, und küsste mich prickelnd auf die Wange. »Es ist also wahnsinnig aufregend mit mir zu schlafen?«, flüsterte er mir zu und grinste.
»Wie …?«, rief ich aus und senkte die Stimme. »Du konntest uns hören?«
»Jedes Wort.«
Wow, das war wieder eines der Dinge, an die ich mich würde gewöhnen müssen, und die ihn eindeutig von normalen Männern unterschied. »So gut ist dein Gehör? Hast du mein Gespräch mit James heute Morgen auch mitgehört?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Ich war ziemlich lange schwimmen, und unter Wasser hör ich so gut wie nichts. Gibt es etwas, das ich wissen muss?« Er sagte das im Scherz, aber seine Augen funkelten kurz zornig auf, was mich ein wenig stutzig machte.
»Nein«, antwortete ich langsam. »James hat mich gebeten, dir eine Chance zu geben, zu beweisen, dass es dir ernst ist mit mir. Er hatte wohl nur Bedenken, ich könnte wieder das Weite suchen.«
Dorian senkte wie ertappt für einen Moment den Blick.
»Und du auch«, stellte ich fest und nahm seine Hand. »Das tut mir leid. Bist du deshalb aufgestanden, ohne mich zu wecken, und warst schwimmen? Damit du nicht hörst, wenn ich gehe?«
Er nickte.
»Glaubst du mir nicht, dass ich mit dir zusammen sein möchte?«
»Doch«, antwortete er, warf einen kurzen Blick auf die anderen und senkte die Stimme. »Aber nach allem, was passiert ist … Du bist so anders als andere Frauen. Du kommst mir einen Schritt entgegen und ziehst dich drei Schritte wieder zurück. Du kommst besser damit klar, dass ich ein Vampir bin, als dass ich reich bin. Du willst weder mein Geld noch die Dunkle Gabe von mir. Ich weiß einfach nicht, womit ich dich halten kann.«
Seine Stimme war nur ein Flüstern, doch ich hörte ihn trotzdem ganz deutlich. Er hatte vollkommen recht, denn es gab nur eines, was ich von ihm wollte. Ich beugte mich weiter zu ihm, bis meine Lippen fast seine Haut berührten. »Du musst mich einfach nur lieben«, raunte ich ihm zu und küsste ihn.
Er erwiderte meinen Kuss so stürmisch, dass Kelly neben uns anfing zu kichern.
»Und mir noch einen Cocktail bestellen«, fügte ich hinzu und grinste, nachdem ich mich mühsam von ihm gelöst hatte.
»Wenn’s weiter nichts ist.« Er lachte und bestellte eine Runde für alle.
»Was gibt’s denn zu feiern?«, fragte Josh, als die Getränke kamen.
»Dass ich die Frau fürs Leben gefunden habe«, antwortete Dorian überschwänglich. »Und dass das Einzige, was sie von mir will, ist, dass ich sie liebe, was ich ohnehin schon tue, seit ich sie das erste Mal gesehen habe.«
Es war still um uns geworden und alle starrten uns an. Ich hörte, wie Annie überrascht die Luft einsog und Kelly wieder kicherte.
»Das ist das Schönste, das ich jemals gehört habe«, sagte Kellys Freundin, deren Namen ich den ganzen Abend nicht mitbekommen hatte und seufzte.
»Das ist wohl das Schleimigste, das ich jemals gehört habe«, meinte Josh und löste die Spannung damit auf.
Dorian fing an zu lachen und prostete in die Runde. Annie blickte mich überwältigt an und tätschelte mir den Arm. Sie sah aus, als wollte sie gleich losweinen. Ich wäre am liebsten für einen Moment im Boden versunken und konnte nicht einmal genau sagen, warum. Frau fürs Leben … Irgendwie wogen solche Worte von einem unsterblichen Vampir gesprochen schwerer als von einem normalen Menschen.
Ich sah meine Freunde an und dann Dorian, der über etwas lachte, was Josh gesagt hatte. Dorian, der Vampir, der mir gerade gestanden hatte, ich wäre die Frau seines unsterblichen Lebens. Dieses Wochenende wurde immer verrückter. Zu schnell trank ich meinen Cocktail aus und merkte schon währenddessen, dass ich das besser nicht getan hätte.
*
Dass sich das Wetter änderte, wurde mir erst nach ihrem fünften oder sechsten Cocktail bewusst. Als ich sie einige Zeit später zum Auto tragen musste, weil sie nicht mehr gerade laufen konnte, war es zu spät. Der Sturm war bereits über uns hereingebrochen, und ich steckte mittendrin.
Ich hätte sie davon abhalten können, zu trinken. Aber ich wusste nicht, ob sie mich gelassen hätte, und ich wollte ihr keine Szene machen vor ihren Freunden. Wenn das ihre Art war, damit umzugehen, dass sie sich in einen Vampir verliebt hatte, sollte sie es tun. Besser sie betrank sich in meiner Gegenwart, als wenn sie allein war. Jetzt konnte ich mich um sie kümmern und Schlimmeres verhindern.
Sie schlief an meine Schulter gelehnt ein, kaum dass ich aus dem Parkhaus herausgefahren war. Was waren wir für ein Paar: der Vampir und die Trinkerin!
Diese Situation hatte eine gewisse Komik, und ich konnte mir ein Grinsen während der Rückfahrt nicht verkneifen. So viele Jahrzehnte hatte ich mir darüber Gedanken gemacht, wie ich es am besten erzählte, dass ich ein Vampir war, sollte ich die Eine jemals gefunden haben. Jedes mögliche und unmögliche Antwortszenario hatte ich mir ausgedacht. Und dann kam alles anders. Mehr durch Zufall hatte ich mich verraten. Louisas Reaktion kam in keiner meiner ausgedachten Möglichkeiten vor. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie noch nicht fertig war mit Reagieren.
Ich hielt vor meiner Haustür an und weckte sie sanft. Natürlich hätte ich sie hineintragen können, aber ich hoffte, sie würde sich auf ein Gespräch einlassen.
Sie sah mich überrascht an, bis sie erkannte, wo wir waren. »Ich möchte noch nicht rein. Können wir nicht noch mal an die Steilküste fahren? Es war so schön da«, fragte sie.
Ich nickte geduldig und stieg wieder ein. Frische Luft würde ihr mit Sicherheit guttun.
»Tut mir leid, dass ich …«
»Du musst dich nicht entschuldigen.«
Es war kurz nach Mitternacht, und die Sterne funkelten klar von einem wolkenlosen Himmel. Ich parkte in der Nähe der Kante, schaltete den Motor ab und stieg aus. Schnell lief ich ums Auto herum, um Louisa herauszuhelfen. Wir gingen ein Stück vom Auto weg. Ich hielt sie im Arm, während sie in den Himmel hinauf sah.
»Es ist so schön hier in der Nacht. Vielleicht sehen wir ja eine Sternschnuppe.«
»Dann darfst du dir was wünschen.«
Sie blickte mit großen Augen zu mir auf und küsste mich lange. Ich brauchte mir nichts mehr wünschen. Ich hatte alles, was ich brauchte. »Lass mich eine Decke holen, es ist kalt hier«, schlug ich vor, als sie mich wieder losließ, und ging zum Auto.
»Oh, ich glaube, ich hab eine gesehen!«
Ich sah vom Kofferraum auf. Louisa war näher an die Kante gegangen. Sie hatte sich zu mir umgedreht und den Kopf in den Nacken gelegt und wies mit einem Arm nach oben. Während ich mich aufrichtete, sah ich, wie sie einige Schritte zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor und mit einem entsetzten Gesichtsausdruck rückwärts über den Rand der Klippe fiel.
Dort ging es gut fünfzehn Meter in die Tiefe. Ich hatte keine Ahnung, ob ein Mensch so einen Sturz überleben würde, und wollte es gewiss nicht darauf ankommen lassen. Blitzschnell sprang ich ihr hinterher, bekam sie gerade noch im Flug zu fassen und presste sie voller Angst an mich. Es war keine Zeit mehr, mich aufzurichten, um auf den Füßen zu landen, aber ich schaffte es, mich umzudrehen, sodass sie über mir war. Unten war ein Sandstrand und zum Glück keine größeren Steine oder Felsen. Dennoch landete ich sehr schmerzhaft auf dem Rücken. Mir wurde die Luft aus den Lungen gepresst, und durch Louisas Gewicht auf mir brachen einige Rippen. Ein stechender Schmerz zuckte von meinem Rücken in mein Gehirn, und ich stöhnte auf und blieb reglos liegen.
Nun sollte man ja meinen, dass ich als so alter Vampir über jede Form körperlichen Schmerzes stand. Weit gefehlt. Schmerz nahmen wir intensiver wahr. Er hielt nur nicht so lange an. In meinem Fall wenige Minuten, höchstens ein paar Stunden. Wenn ich mir etwas gebrochen hatte, würde es fast umgehend wieder verheilen, aber es tat trotzdem höllisch weh. Louisa rollte sich erschrocken von mir herunter und brach mir damit eine weitere Rippe. Ich stöhnte erneut vor Schmerz auf.
»Oh, nein! Dorian!«
Ich hätte sie gern beruhigend angesehen, aber ich konnte meinen Kopf nicht bewegen. Wahrscheinlich war mehr gebrochen als nur meine Rippen.
Sie beugte sich über mich und strich mir vorsichtig über die Stirn. Ihre Augen waren vor Schreck fast so groß wie am Tag der Entführung. »Dorian? Oh, mein Gott! Bitte stirb nicht«, rief sie, während sie mir weiter mit zitternder Hand über die Stirn strich.
Es tat weh, sie so zu sehen, aber ich konnte nichts machen. Ich war gelähmt, und der Schmerz wütete in mir wie tausend glühende Nadeln. »Gleich … besser«, presste ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor und hoffte, sie würde nicht versuchen, mich aufzurichten. Ich merkte bereits, wie die Knochen wieder zusammenwuchsen, doch wenn sie mich bewegte, würden sie erneut brechen. Vielleicht würde ich sogar das Bewusstsein verlieren. Das kam durchaus vor, wenn ich mich zu stark verletzte. Dann wäre Louisa in noch größerer Gefahr, weil meine vampirischen Reflexe nicht zwischen Freund und Feind unterschieden. Ich würde sie töten, ohne es überhaupt zu wissen.
Glücklicherweise strich sie mir nur weiter über die Stirn und weinte. Der Schmerz nahm langsam ab, und ich konnte den Kopf wieder leicht drehen, ohne dass mein Gehirn in tausend Teile zu zerspringen drohte. »Ich sterbe nicht«, sagte ich zu ihr und versuchte ein Grinsen.
Leider schien sie das nicht zu beruhigen. Sie schluchzte laut auf und weinte nur noch mehr. Herrgott, heilt schneller, ihr verdammten alten Knochen! Ich würde zukünftig wieder regelmäßig trinken müssen, damit ich bei solchen Aktionen bei Kräften blieb. Versuchsweise drehte ich mich auf die Seite. Es ging. Mühsam rappelte ich mich zum Sitzen auf, wobei Louisa mir half. Noch ein, zwei Mal tief durchatmen, dann war es vorbei. Ja, alles wieder heil. Na ja, einigermaßen. Etwas steif zog ich Louisa an mich.
»Louisa, mach das nie wieder! Herrgott noch mal! Du hättest sterben können!« Mir war klar, dass es sich wie ein Vorwurf anhörte, weil sie zu viel getrunken hatte. Vielleicht war es das auch. Hätte sie nichts zu mir gesagt, hätte ich nicht hochgesehen … Ich hätte sie verloren! Nicht auszumalen, was ich dann getan hätte. Allein der Gedanke daran, dass sie hätte tot sein können, ließ mich sie noch fester drücken.
Sie weinte und klammerte sich an mich. »Es tut mir leid.«
»Nein, ist schon gut. Ich hätte besser aufpassen müssen und dich nicht so nah an die Klippe heranlassen dürfen.«
»Ich dachte, du würdest sterben«, flüsterte sie und sah mich ängstlich an. »Ich dachte, ich würde sterben. Dorian, der Vampir, dieser widerliche Kerl … Ich dachte, er bringt mich um …« Ihre Stimme brach, als sie noch heftiger weinte und sich so fest an mich klammerte, dass sie mir damit fast wieder die Rippen brach.
Das war der Sturm, der sich über uns zusammengebraut hatte, und er brach mit voller Gewalt aus ihr heraus und traf mich so heftig, dass ich zusammenzuckte. Obwohl sie mir unter Schluchzen von ihrer Todesangst und ihrer Pein erzählte, konnte ich kaum ermessen, wie fürchterlich es für sie gewesen sein musste. Das alles war ihr widerfahren, weil ich mich in sie verliebt hatte. Es war einzig und allein meine Schuld, auch wenn sie mir mit keinem Wort einen Vorwurf machte. In dem Moment schämte ich mich, dass ich so egoistisch gewesen war und mich nicht von ihr hatte fernhalten können. »Ich werde besser auf dich aufpassen«, versprach ich ihr, als sie geendet hatte.
»Du kannst nicht rund um die Uhr bei mir sein«, erwiderte sie und sah mich an. »Dorian, es wird immer jemanden geben, der stärker ist als du oder cleverer oder einfach skrupelloser. Du kannst nicht die ganze Zeit auf mich aufpassen. Was wäre das denn für ein Leben?«
Sie hatte recht. Wenn ich dafür sorgen wollte, dass ihr nichts mehr passieren konnte, gab es nur eine Möglichkeit. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und sah sie fest an. »Louisa, es gibt etwas, das ich für dich tun kann. Dann brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
Sie sah mich erst fragend an, dann riss sie die Augen weit auf und schüttelte heftig den Kopf. »Mich zu einem Vampir machen? Nein, Dorian! Auf keinen Fall! Das kommt nicht infrage. O Gott! Wie kannst du nur so was denken? Ich will nicht so …« Sie brach ab und sah mich unglücklich an.
»So werden wie ich?«
»Bitte versteh mich nicht falsch. Ich liebe dich, Dorian, aber ich bin nicht bereit für so etwas. Ich bekomme nicht einmal dieses Leben richtig in den Griff, wie sollte ich dann ein Leben als Vampir meistern können? Ich kann das nicht, Dorian. Bitte verlang das nicht von mir.«
Sie sah mich flehentlich an, und ich nickte ihr beruhigend zu. Ich konnte sie verstehen. Als man mir das Angebot machte, hatte ich nichts zu verlieren, nichts, wofür es sich zu leben lohnte. Ich hasste meinen Vater, und ich hasste mein Leben, das genauso verlaufen wäre wie seines. Täglich vierzehn Stunden und mehr auf dem Feld schuften, um nicht mehr zu haben als eine alte verfallene Hütte und gerade genug zu essen, um nicht zu verhungern. Gerald hatte mir ein aufregendes Leben voller Reisen und Annehmlichkeiten geboten. Natürlich war auch daran eine Bedingung geknüpft. Aber, hey, nichts im Leben war umsonst – nicht einmal der Tod.
»Ich verlange nichts von dir, Louisa«, erwiderte ich leise. »Aber dann musst du mir zugestehen, dass ich auf dich aufpassen darf.«
»Ach, Dorian, wie willst du das denn machen? Willst du mich einsperren?«
»Das wäre eine Möglichkeit«, antwortete ich und grinste, stand auf und zog sie ebenfalls hoch. »Ich lass mir etwas einfallen. Aber jetzt will ich nach Hause. Festhalten!«
Ich hielt Louisa ganz fest und ging etwas in die Knie, um Schwung zu holen. Als ich mich abdrückte, schrie sie erschrocken auf und klammerte sich an mich. Ich landete etwas holperig, weil Louisa mich so fest hielt, dass ich schlecht manövrieren konnte, aber ich hatte keine weiteren Knochenbrüche zu beklagen. Halleluja.