14

 

 

 

Obwohl ich wach war, oder zumindest dachte, wach zu sein, konnte ich nicht einmal die Augen öffnen. Ein paar Mal schleppte ich mich ins Bad, weil ich bestimmt Stunden damit zugebracht hatte, zu ignorieren, dass ich auf die Toilette musste. Ich hörte Dorian ab und zu hereinkommen. Eigentlich hörte ich ihn nicht, er bewegte sich immer lautlos. Ich spürte mal seine Hand auf meiner Stirn, oder wie er mir die Haare aus dem Gesicht strich oder mir einen leichten Kuss auf die Wange hauchte. Meine Augen waren so schwer, ich sank immer wieder hinab ins gnädige Vergessen.

Ansatzweise versuchte ich, über das nachzudenken, was passiert war. Manchmal war mir nach Weinen zumute, doch es kamen keine Tränen mehr. Am liebsten wollte ich alles vergessen. Das konnte ich zum Glück, wenn ich mich wieder in diese Lethargie fallen ließ. Dorian würde mich auffangen. Das war ungemein beruhigend. Bei ihm im Bett zu liegen war beruhigend. Die Stille zu genießen, fernab von jedem Straßenlärm, den man in der Innenstadt zwangsläufig ertragen musste. Eingehüllt in seinen unverkennbaren Geruch und dem Duft nach frischer Bettwäsche, ließ ich mich immer wieder treiben.

Ich blieb fast zwei Wochen bei Dorian, der sich rührend um mich kümmerte, nachdem ich wieder aufstehen konnte. Es war wie eine kleine Schonfrist, ehe ich mich wieder all meinen alltäglichen Ängsten stellen musste. Ich genoss diese Zeit wie keine andere. Im Strandhaus hinter den hohen Mauern und dem ganzen technischen Überwachungsschnickschnack und vor allem mit Dorian und seinen Superkräften an meiner Seite hatte ich keine Angst. Er war da, wann immer ich ihn brauchte. Wenn ich allein sein wollte, machte er, was er eben so tat. Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber er schien immer mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Entweder saß er vor dem Computer oder hatte technische Zeichnungen vor sich oder sah sich so konzentriert einen Film an, als wäre er auf der Suche nach Informationen, die anderen Zuschauern verborgen blieben. Dorian sah tatsächlich sehr viel fern.

Die meiste Zeit verbrachten wir jedoch zusammen und unterhielten uns. Ich konnte stundenlang Geschichten aus seinem Leben lauschen. Auch ich redete über die Dinge, die passiert waren. Er drängte mich immer wieder vorsichtig dazu, und es tat gut, darüber zu reden. Obwohl ich bestimmt noch Zeit brauchen würde, um es tatsächlich zu vergessen. Manchmal fragte ich mich, was mich vor all dem hier eigentlich so in Angst und Schrecken versetzt hatte. Warum war ich damit nicht schneller fertiggeworden? Vielleicht war es Dorian, der mir immer wieder gut zuredete und mir dadurch Kraft gab.

In einer Ehe verpflichtet man sich einander für die guten und die schlechten Zeiten. So war es in einer Partnerschaft im Grunde auch. Schlechte Zeiten hatten wir bereits ausreichend. Nun mussten eigentlich die guten Zeiten folgen. Oder?

 

*

 

Während Louisa schlief und nicht einmal erwachte, wenn ich mich zu ihr setzte, hatte ich Zeit, an meinen neuen Fähigkeiten zu arbeiten. Ich hatte befürchtet, dass ich nicht genügend von Marys Blut getrunken hatte, um diese Tarnfähigkeit zu »erben«. Nach einigen vergeblichen Versuchen mit frustrierenden Kopfschmerzen hatte ich den Dreh raus und konnte um mich eine Aura erschaffen, die mich vor sterblichen Augen verbarg. Ob es bei Vampiren funktionierte, wusste ich nicht. Ich hatte keinen hier, an dem ich es hätte ausprobieren können. Es reichte zumindest, um dem Paketboten einen gehörigen Schrecken einzujagen. Das war ein Anfang.

Es war nicht leicht, neue Fähigkeiten zu kontrollieren und auszubauen. Man musste zuerst herausfinden, was genau man konnte, musste all seine Gedankenkraft einsetzen und sich vorstellen, wie es wäre, genau das zu tun, was man gerade vorhatte zu tun. Wenn man es geschafft hatte, kam der schwierige Teil. Man musste üben, das »nebenbei« zu machen, unbewusst. Ansonsten stand man konzentriert und mit verkniffenem Gesicht herum, während man versuchte, seinen Angreifer gedanklich lahmzulegen. Und bot ihm damit alle Zeit der Welt, einem zuerst den Garaus zu machen. Aber wie gesagt, ich hatte ausreichend Zeit, während mein kleiner Porzellanengel schlief.

Diese Zeit musste ich auch nutzen, um mir einen Überblick über meine diversen Firmen und sonstigen Geschäfte zu verschaffen. Mein Arbeitszimmer war eher James’ Arbeitsplatz gewesen. Glücklicherweise hatte er alle Unterlagen ordentlich und systematisch sortiert. Sowohl in den Aktenordnern in den Regalen als auch auf seinem Arbeitscomputer. Dennoch verbrachte ich Stunden davor, ohne auch nur annähernd zum Ende zu kommen.

Der Koch, den ich für Louisa engagiert hatte, leistete hervorragende Arbeit. Er war Franzose. Man hatte mir gesagt, das wären die besten Köche. Das würde ich natürlich nicht beurteilen können, aber Louisa hatte eine wunderbar weibliche Figur, ich wollte nicht, dass sie knochig wurde.

Ich versuchte, es ihr so angenehm wie möglich zu machen. Hier bei mir konnte ihr nichts geschehen, dafür war gesorgt. Bei allem, was sie tat, hatte ich ein Ohr auf sie. Eigentlich war sie nicht ungeschickt. Nur wenn sie betrunken war, und bei mir trank sie nicht. Die schönen Tage mit ihr verflogen wie Sekunden, und plötzlich waren die zwei Wochen und damit meine Schonfrist vorbei.

Es war der letzte Samstag ihres Urlaubs bei mir, als wir zusammen auf einer der großen Polsterliegen auf der Terrasse lagen und den milden Abend genossen. Louisa war gern nachts draußen, das merkte ich schnell und freute mich darüber. Das war ja meine bevorzugte Tageszeit, auch wenn ich versuchte, ihr einen »normalen« Tagesrhythmus zu bieten. Ich hatte einen Heizstrahler besorgt, damit sie nicht fror, wenn wir uns unter dem Sternenhimmel liebten. Das Wetter war die ganze Zeit sommerlich schön gewesen, sobald die Sonne untergegangen war, wurde es jedoch kalt. Ich konnte sie nicht wärmen. Sie lag halb auf mir, das Gesicht an meinem Hals, und spielte mit meinen Haaren, wie sie es oft tat.

»Es ist schön bei dir.« Ihre sanfte Stimme verursachte mir einen wohligen Schauder. »Die Zeit ging viel zu schnell vorbei. Danke, dass ich so lange bei dir bleiben konnte.«

»Du kannst noch länger bleiben«, schlug ich vor und hoffte, dass sie es so verstand, wie ich es meinte.

»Ja, das wär schön«, sagte sie und seufzte leise.

Ich erwiderte ihr Seufzen, als sie nichts weiter sagte. Offenbar musste ich deutlicher werden. »Das war ernst gemeint. Du musst nicht wieder zurück in deine Wohnung.«

»Ich weiß.«

Sie wusste – was? Hatte sie mich wirklich richtig verstanden? »Louisa, ich möchte, dass du bei mir einziehst«, setzte ich todesmutig alles auf eine Karte. Ich hatte lange darüber nachgedacht. Das wäre die perfekte Lösung für meine Probleme.

Sie richtete sich langsam auf und sah mich gerührt an. »Das kann ich nicht, das weißt du.«

»Wieso nicht?«

»Bei dir ist immer alles so leicht«, antwortete sie und strich mir mit einer fast schon mütterlichen Geste über die Wange. »Ich kann mich hier nicht ewig verstecken. Ich hab ein Leben außerhalb deiner Mauern. Zu dem du natürlich auch gehörst. Aber ich hab auch Freunde, meine Arbeit und all die kleinen Baustellen, an denen ich noch zu arbeiten habe.«

»Du kannst dein Leben von hier aus weiterführen. Mit mir.«

»Das würde ich sehr gern«, sagte sie und lächelte.

Ich wusste, das unvermeidliche Aber würde nicht lange auf sich warten lassen.

»Aber willst du, dass ich bei dir einziehe, weil du mit mir zusammenleben möchtest, oder damit du besser auf mich aufpassen kannst?«

Wahrscheinlich sah ich genauso ertappt aus, wie ich mich fühlte. Natürlich wollte ich mit ihr zusammenleben. Im Moment ging es mir tatsächlich in erster Linie darum, dass ihr nichts geschah.

»Ich muss erst einmal mit meinem bisherigen Leben klarkommen. Wenn ich jetzt bei dir einziehe, flüchte ich nur wieder. Es hat gut getan, hier zu sein und zu wissen, dass du auf mich aufpasst. Du hast mir sehr dabei geholfen, mit den schrecklichen Erlebnissen klarzukommen. Glaube mir, wenn ich jetzt hier einziehe, wird mich das irgendwann erdrücken. Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber du kannst mir am meisten helfen, wenn du weiterhin für mich da bist und mir zuhörst. Und wenn du einfach öfter bei mir übernachtest. Ich liebe dich und ziehe gern bei dir ein, aber nicht jetzt. Kannst du auf mich warten?« Ihr Blick war ernst, auch wenn ihre Lippen ein kleines Lächeln umspielte.

Ich musste lachen und drückte sie an mich. »Ach, Louisa, ich hab sechshundert Jahre auf dich gewartet, da schaff ich wohl noch ein paar Wochen mehr.«

 

*

 

Wieder zu Hause zu sein, in meiner kleinen Wohnung, war ein komisches Gefühl. Dorian hatte mich gebracht und blieb bei mir. Wahrscheinlich würde er nie mehr von meiner Seite weichen.

Als ich das Bett frisch bezog, wollten die Erinnerungen an das Zusammensein mit Eric wieder hochkommen, und ich musste sie mühsam verdrängen. Dorian ließ sich nichts anmerken und warf sich gleich hinein, kaum dass ich fertig war.

Er hatte sich einen Pyjama angezogen und sich sogar ein paar Wechselklamotten mitgenommen. »Vielleicht sollte ich lieber bei dir einziehen«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Deine Wäsche riecht immer so gut.«

Ich betrachtete ihn verliebt und kroch auf ihn, knöpfte den Pyjama auf und legte seine weiße feste Brust frei. Er beobachtete mich lächelnd. Ich würde nie satt werden, ihn anzusehen! Ich schmiegte mich an seine kalte Haut. Er legte wie so oft seine Arme um mich und zog gleichzeitig die Decke über uns beide. Diese vertraute Geste tat gut. Er war hier. Der Mann meiner Träume. Er gehörte zu meinem Leben. Es würde nie wieder ein von Angst bestimmtes Dasein sein.

Ich ließ meine Zunge von seiner Brust seinen Hals hinauffahren, was ihm ein leises Stöhnen entlockte. Wir hatten etliche Male miteinander geschlafen in dem kurzen Urlaub bei ihm. Aber noch nicht wieder in meinem Bett. Dem Bett, in dem ich …

Offenbar ahnte Dorian, woran ich dachte, denn er hob mich etwas höher. Seine Finger lagen kühl an meiner Taille, als er mich so sanft küsste wie schon lange nicht mehr. Seine Lippen waren ebenfalls kühl, aber so weich und sinnlich, dass sie im steten Widerspruch zu seiner enormen Körperkraft standen. Als ich seine liebkosende Zunge in meinem Mund spürte, hätte ich in unserem Kuss versinken können. Seine Hände schoben sich unter mein Shirt. Ich erschauderte leicht und half ihm, mir das Shirt auszuziehen. Sein Atem ging schneller, ich spürte, wie sich sein harter Bauch unter mir rhythmisch bewegte. Er nestelte an meinem Slip herum, und ich streifte ihm die Pyjamahose ab. Ich strampelte die Decke beiseite und wollte ihn ansehen. Wollte genau sehen, dass er es war. Dorian.

Als ich mich auf ihn setzte, verfinsterten sich seine Augen schlagartig, und ich konnte beobachten, wie sein Herz das mächtige Blut mit wenigen kraftvollen Schlägen in seine Adern pumpte. Sie traten dadurch schwarz durch die weiße Haut heraus. Ich blickte ihn die ganze Zeit an, während ich mich auf ihm bewegte. Ich wusste nicht, ob er mit den schwarzen Augen genauso gut sehen konnte wie sonst, aber sie waren unverwandt auf mich gerichtet. Er strich mir die Haare aus dem Gesicht, streichelte mir über die Brüste und packte mich nach einiger Zeit an den Hüften, um mich im gleichen Rhythmus noch fester an sich zu pressen.

Irgendwann wirbelte er mich herum. Ich spürte seine Hand an meinem Gesäß, als er energischer weitermachte. Es fühlte sich an, als müsse auch er seine bösen Geister austreiben. Er hatte sein Gesicht an meinem Hals vergraben und hielt mich fest an sich gedrückt. Ich spürte seine unbändige Kraft, als würde er sie mit den Stößen seiner Hüfte in mich pumpen. Alles in mir reagierte auf diese Bewegungen und seine betörende Nähe.

Gerade als sich mein Körper in einem langen Orgasmus entlud, kam er hoch, hörte mit seinen Bewegungen auf und sah mich mit diesem wilden, animalischen Blick an. Wenn er so aussah, war er nicht mehr Dorian. Dann war er der Vampir. Ob er wohl heimlich von meinem Blut trank, während wir so zusammen waren? Ich strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Er war nicht gekommen, und ich fragte mich, warum er innehielt. »Du tust mir nicht weh«, sagte ich leise und zog sein Gesicht sanft zu mir herunter.

»Das würde ich nie«, erwiderte er mit rauer Stimme, sodass ich sie kaum als seine erkennen konnte.

Er küsste mich gierig und machte mit kraftvollen Stößen weiter, bis ich ihn vor Lust aufschreien hörte. Sein Körper spannte sich unter meinen Händen an, als wollten seine steinharten Muskeln seine Haut zerreißen. Seine Küsse wurden sanfter, inniger, als sein Körper sich langsam wieder entspannte. Als er sich aufrichtete, war das dunkle Blut verflogen. Er rollte sich von mir herunter und zog mich in seinen Arm, damit ich meinen Kopf auf seine Brust betten konnte. »Es stört dich nicht, dass ich so kalt bin?«

»Nein, ich kenn dich nicht anders. Stört’s dich, dass ich warm bin?«

Er lachte so leise, dass ich es nur in seiner Brust hören konnte. Ich liebte es, auf ihm zu liegen und seine tiefe Stimme im Brustkorb brummen zu hören. »Ich hätte nie freiwillig mit ihm geschlafen«, flüsterte ich, weil ich mir denken konnte, dass er deshalb eben innegehalten hatte.

Er drückte mich. »Ich weiß, mein Engel. Ich weiß.« Dann schwieg er.

Wie schlimm musste es für ihn gewesen sein. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Es würde nicht zwischen uns stehen, das wusste ich. »Erzähl mir eine Geschichte aus deinem Leben«, bat ich ihn irgendwann, als mir das Schweigen zu drückend wurde.

Er stöhnte leise. »Wirst du nie müde, mir zuzuhören?«

»Nein. Da bin ich wohl so unersättlich wie du.«

Er küsste mich sanft auf den Scheitel und begann, leise zu erzählen. Mit seiner tiefen Stimme im Ohr und seinen kühlen Händen auf meinem Rücken schlief ich innerhalb weniger Minuten ein.

 

Dorian blieb jetzt immer über Nacht und fast kam es mir so vor, als wäre er tatsächlich bei mir eingezogen. Er hatte sich mehr Kleidung und vor allem Arbeit mit zu mir genommen. Wenn ich nach Hause kam, sah ich ihn oft in seine Akten vertieft. Meine Panikattacken waren wie weggeblasen.

Manchmal träumte ich schlecht und wachte weinend oder mit klopfendem Herzen auf. Ich wusste immer, dass es nur Erinnerungen waren. Ich hatte es überstanden. Ich lebte noch. Dorian würde dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passierte. Dennoch ging ich wieder zu dem Treffen der Selbsthilfegruppe, und Dorian akzeptierte, dass ich allein hingehen wollte. Er hatte neue Räume in der Innenstadt gefunden, die neben einer Polizeiwache lagen. Vielleicht ließ er mich deshalb gehen.

Worüber Dorian jedoch böse war, war, dass ich mich mit Eric treffen wollte. Eric rief ungefähr zwei Wochen nach meiner Rückkehr in mein altes Leben an, und wir verabredeten uns. Ich konnte nicht Nein sagen, immerhin hatte ich ihm angeboten, dass er mit mir reden konnte, wenn ihm danach war.

Kurz bevor ich mich auf den Weg machen wollte, nahm Dorian mich zum wiederholten Mal in den Arm und küsste mich stürmisch, als hoffte er, mich damit davon abbringen zu können. »Es gefällt mir nicht, dass du dich mit ihm triffst. Lass mich dich wenigstens hinbringen.«

Ich blickte zu ihm hoch. Er sah wie immer umwerfend aus. Er hatte sich die Haare komplett zu einem Zopf zurückgebunden, was seine Wangenknochen so schön betonte, und trug ein dunkelgraues Hemd, das er in die Hose gesteckt hatte, die so perfekt saß, dass ich ihm jedes Mal auf den Hintern starren musste, wenn er sich umdrehte. Er sah mich bittend an, doch sein Blick war anders als sonst. Er hatte keine Angst um mich, er war eifersüchtig! Unfassbar, dass dieser Mann, Vampir, der mein Herz so hoch schlagen ließ, dass ich manchmal befürchtete, es würde mir aus der Brust springen, eifersüchtig auf einen anderen sein konnte! Ich gab mich geschlagen und ließ mich von ihm vor dem Adam’s absetzen.

Er küsste mich zum Abschied. »Ich warte hier.«

»Versuch bitte, nicht alles mitzuhören, okay?« Ich stieg aus und sah ihn an, wie er mit bleicher Unschuldsmiene die Schultern zuckte, und wusste, dass er lauschen würde. Da fiel mir etwas ein, und ich lehnte mich noch einmal ins Auto. »Bevor wir uns kannten, als ich mit Annie hier saß und Josh und Eric zu uns kamen. Das warst du auf der anderen Straßenseite, oder?« Sein schuldbewusstes Gesicht war Antwort genug. Hatte ich doch gewusst, dass mich jemand beobachtet hatte. Dann war es wirklich kein Zufall, dass wir uns auf dem Konzert begegnet waren, denn auch an dem Abend hatte er wahrscheinlich alles mitgehört.

»Bist du mir böse?«

»Nein«, antwortete ich und lachte. »Ich fühl mich geschmeichelt, dass du mein heimlicher Verehrer warst. Es gab genügend andere in jener Nacht im R7, die nicht so abweisend gewesen wären wie ich.«

 

Eric erwartete mich am Eingang. Er nickte Dorian mit verschlossener Miene zu und begrüßte mich verhalten. »Danke, dass du gekommen bist.«

Er bestellte uns Kaffee und wirkte nervös. Es schien ihm unangenehm zu sein, mich angerufen zu haben. Während er bei unserem ersten Treffen viel gelächelt hatte, wirkte sein eigentlich hübsches Gesicht jetzt bekümmert. Selbst seine sonst so strahlendblauen Augen hatten etwas von ihrem aufregenden Glanz verloren. »Du siehst gut aus«, bemerkte er. »Erholt.«

»Ich hatte mich zwei Wochen krankgemeldet. Danach. Und viel geschlafen. Außerdem hat Dorian mir geholfen.«

»Vielleicht hätte ich mich auch krankmelden sollen«, erwiderte er, nachdem er einen Blick nach draußen und auf Dorians Auto geworfen hatte. »Er lässt dich nicht mehr allein, was?«

Dorian hatte genau vor der Tür geparkt. Die Scheiben seines Sportwagens waren sehr dunkel getönt, dennoch wussten wir beide, dass er drinnen saß.

»Ungern.«

Wir schwiegen und warteten auf den Kaffee.

»Ich muss immer wieder daran denken, wie hilflos ich mich gefühlt habe. Und dass sie Maggie getötet hat. Das kommt mir alles so unwirklich vor, obwohl ich dabei war. Wie kommst du damit klar?«

»So gut kannte ich Maggie eigentlich nicht. Also, ich finde es schrecklich, aber …«

»Das mein ich nicht«, unterbrach er mich und beugte sich zu mir. »Dass er ein Vampir ist. Hast du keine Angst, dass er dich die ganze Zeit manipuliert? Dass er dich zu Dingen zwingt, die du sonst nicht machen würdest?«

»Nein. Ich vertraue ihm. Und ich glaube nicht, dass so eine Manipulation über Wochen wirken kann. Irgendwann kommt die Wahrheit wieder durch.«

»Keiner von uns hat bemerkt, was er ist, oder?« Eric sah mich eindringlich an. »Wer weiß, wie viele hier noch herumlaufen, und wir merken es nicht. Manchmal hab ich das Gefühl, dass sie überall sein und so ziemlich alles mit uns anstellen könnten. Jagt dir das keine Angst ein?«

Ich konnte seine Angst sehr gut verstehen und redete ihm gut zu. Ich erzählte ihm sogar von Mick, und wie ich es mit Dorians Unterstützung geschafft hatte, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Eric sah mich zweifelnd an und trank seinen Kaffee. Ich hatte meinen weggestellt. Irgendwie roch er komisch. Vielleicht war die Milch schlecht.

»Weiß er das alles?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich. »Ich konnte von Anfang an über alles mit ihm reden. Eric, ich weiß, dass es schwer ist, darüber zu sprechen, und dass du natürlich auch niemandem die ganze Wahrheit erzählen kannst. Du sollst wissen, dass du jederzeit anrufen kannst, aber du wirst mich und Dorian niemals auseinanderbringen können. Für mich spielt es keine Rolle, was er ist.«

»Auch nicht, dass er dich in all das hineingezogen hat? Ich meine, ohne ihn wären wir nie in diesen Schlamassel verwickelt worden. Ohne ihn …«

»Nein«, unterbrach ich ihn. »Es ist gewiss nicht Dorians Schuld, dass das passiert ist. Es ist einfach passiert, hörst du? Niemand ist schuld daran.«

Eric sah mich überrascht an. »Du bist viel stärker als ich«, sagte er leise.

Ich lachte kurz und freudlos auf. »Nein, das kommt dir nur so vor.«

»Es tut mir alles so leid.«

»Es war ja nicht deine Schuld. Sie hat uns dazu gezwungen.«

Er schüttelte abwehrend den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch die zerzausten schwarzen Haare, sodass sie danach in alle Himmelsrichtungen abstanden. »Ja, das hat sie. Aber ich hab trotzdem alles mitbekommen. Louisa, ich wollte von Anfang an mit dir schlafen. Gut, vielleicht nicht von Anfang an. Aber als ich dich auf dem Konzert wieder getroffen habe … du hast so sexy ausgesehen und warst anders als andere Frauen. Es hat mir gefallen, mit dir zu schlafen.«

Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Dorian aus dem Auto gesprungen war, und bedeutete ihm mit einem kleinen Kopfschütteln, draußen zu bleiben.

Eric war meinem Blick gefolgt und starrte mich nun mit großen Augen an. »Kann er uns hören?«, fragte er und stützte die muskulösen Arme auf den Lehnen ab, als wollte er sich für einen Sprung bereit machen.

»Jedes Wort. Obwohl ich ihn gebeten hatte, nicht zu lauschen«, antwortete ich und richtete den Blick fest auf Dorian, der entschuldigend beide Hände hob. Ich sah Eric wieder an. »Trotzdem hättest du es unter normalen Umständen nie ohne meine Zustimmung getan, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Dann hast du dir nichts vorzuwerfen. Ich werfe dir das nämlich nicht vor. Wir waren beide Opfer. Wir können froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Mein Angebot steht. Wenn du reden möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen.«

Endlich versuchte er ein Lächeln, was ihm jedoch nicht recht gelingen wollte. »Danke, Louisa. Aber ich werde die Stadt verlassen. Ich werde wieder zur Marine gehen. Nächsten Monat. Hab meinen Job bereits gekündigt. Ich wollte mich nur von dir verabschieden.«

»Okay«, erwiderte ich langsam.

»Ich geh lieber. Ich wünsch dir alles Gute. Euch beiden. Danke für alles, Louisa.«

Eric hielt mir die Hand hin, und ich ergriff sie unsicher. Sie war kalt. Er stand auf, lächelte mich noch einmal an und ging. Dorian kam ihm entgegen, und die beiden gaben sich ebenfalls kurz die Hand.

Dass er die Sache so schwer verkraftete, hatte ich nicht gedacht. Aber ich war nicht traurig darüber, Eric nicht ständig begegnen zu müssen.

Gedankenverloren nahm ich meinen Kaffeebecher zur Hand, stellte ihn aber angewidert wieder ab. Er roch widerlich, mir wurde ganz übel davon. Seit Tagen hatte ich Anflüge von Übelkeit und Schwindel. Hoffentlich hatte ich mir keine Magen-Darm-Erkrankung eingefangen.

 

*

 

Das schöne Wetter war vorüber. Seit Tagen war es grau und kalt und regnete. Richtiges Aprilwetter, obwohl es bereits Juni war. Die Leute liefen mit hochgezogenen Schultern und eingezogenen Köpfen herum. Wenn sie überhaupt vor die Tür gingen. Mir machte es herzlich wenig aus. Es war mollig warm im Bentley. Wenn Louisa von diesem Arzttermin zurückkam, würden wir nach Hause fahren und uns vor ein schönes prasselndes Kaminfeuer setzen. Ich hatte mich auf den Sommer gefreut, auf die Wärme und darauf, Louisa in kurzen Röcken und rückenfreien Tops zu sehen. Aber sie nackt vor einem wärmenden Feuer in eine Decke einzuwickeln, hatte auch seine Reize. Louisa brachte noch immer mit unverminderter Kraft mein Blut in Wallung – selbst wenn ich gerade keines getrunken hatte.

Ich trank wieder beinahe täglich. Oft frisches Blut. Ich schlich mich heimlich raus dafür, obwohl ich wusste, dass ich das nicht musste. Ich hielt auch nach Vampiren Ausschau, die mir in die Quere kommen konnten.

Louisa war jetzt jeden Tag bei mir – oder ich bei ihr in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung – und lag in meinen kalten Armen. Sie wirkte ein wenig kränklich in letzter Zeit, und ich machte mir Sorgen, dass sie sich erkältet hatte. Meinetwegen. Deshalb war ich froh, dass sie sich einen Termin bei ihrem Arzt geholt hatte. Ich hatte sie gern hingefahren. Sie war eine gute und sichere Fahrerin, aber die anderen Schwachköpfe nicht. Also saß ich im Auto und wartete auf sie. Arztpraxen behagten mir nicht, genauso wenig wie Krankenhäuser. Beides brauchte ich für gewöhnlich nicht von innen zu sehen.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, oder zumindest fühlte es sich so an, als sie endlich ebenfalls mit eingezogenem Kopf über den Parkplatz rannte und sich tropfend neben mich fallen ließ.

»Warum muss man eigentlich so lange warten, wenn man einen Termin hat?«, fragte ich und fuhr los.

»Vielleicht sind Ärzte nicht so gut im Zeitmanagement«, antwortete Louisa scherzhaft, wirkte aber ein bisschen abwesend.

»Und? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich sie nach einem forschenden Blick, der mir nichts Neues offenbarte.

Sie sah aus wie immer und sah aus dem Fenster. Mir fiel ein Zettel auf, den sie in der Hand hielt.

»Ist das ein Rezept? Soll ich noch an einer Apotheke halten?«

Sie sah mich an, schüttelte den Kopf und packte den Zettel weg. »Nein, nicht nötig«, antwortete sie und nahm meine Hand. »Ich bin nicht krank.«

»Na, dann ist ja gut«, erwiderte ich. »Ab nach Hause. Wir machen uns ein schönes Feuer an und genießen es, nicht mehr rausgehen zu müssen.«

Wenn sie nicht krank war, hätten wir uns die Fahrt sparen können. Na ja, so wussten wir wenigstens Bescheid. Dennoch hätte ich gern darauf verzichtet, mich zwischen Autos hindurchschlängeln zu müssen, deren Fahrer offensichtlich nicht Auto fahren konnten. Komischerweise war bei Regen immer mehr los auf den Straßen. Die meisten Fahrer fuhren offenbar nur bei Regen und kamen in der Zwischenzeit aus der Übung. Es war sonst nicht meine Art in Gegenwart einer Dame zu fluchen, aber bei dem dritten Ich-bremse-auch-für-Regentropfen-Fahrer konnte ich einfach nicht an mich halten. Meine wüsten Beschimpfungen entlockten meinem Porzellanengel ein kleines Lachen. Ach, das Leben war schön!

Zu Hause angekommen nahm ich Louisa die nassen Sachen ab und hängte sie weg. Freudestrahlend folgte ich ihr ins Wohnzimmer. Louisa stand vor dem kalten Kamin, hatte ihre Tasche auf den Tisch gelegt und sah zu mir auf. Ihr Blick war ernst. Zu ernst. Mit einem Satz war ich bei ihr. Sie blinzelte nicht einmal, so sehr hatte sie sich an meine »Eigenarten« gewöhnt.

»Bist du doch krank?«, fragte ich sie und versuchte, in ihrem Gesicht irgendetwas zu erkennen, was auf eine Krankheit schließen ließ. Doch ich sah nichts. Sie war wunderschön wie immer. Ihre Züge wirkten etwas weicher, aber vielleicht lag das auch nur an dem gedämpften Licht.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin schwanger.«