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»Um Himmels willen!« Als der helle Lichtstrahl der Taschenlampe das Innere des geöffneten Sargs traf, verschlug es Dr. Slater fast den Atem. Sie war als Erste im Park eingetroffen, der Rest ihres Teams würde bald nachkommen.
Im Sarg lag eine Frauenleiche im frühen Stadium der Verwesung. Augen, Nase und Lippen waren vollständig verschwunden, sodass ihr ursprüngliches Gesicht nur noch aus vier unheimlich wirkenden schwarzen Höhlen sowie zwei Reihen fleckiger Zähne bestand. Abgesehen davon hing noch relativ viel Haut und Muskelgewebe an dem Skelett.
Doch es war nicht der Zustand der Leiche, der Hunter, Garcia und Dr. Slater so verblüffte. Sie alle wussten, dass ein nicht einbalsamierter menschlicher Körper, der ohne Sarg in zwei Meter Tiefe begraben wurde, zwischen acht und zwölf Jahren brauchte, um bis auf die Knochen zu verwesen. Mit Sarg dauerte der Prozess natürlich wesentlich länger, je nachdem, welches Holz verwendet wurde. Da die von Hunter und Garcia entdeckte Leiche in einer stabilen Holzkiste gelegen hatte und etwa zwei Jahre zuvor in einem sechzig Zentimeter tiefen Grab unter die Erde gelangt war, entsprach der noch nicht sehr weit fortgeschrittene Verwesungsprozess absolut ihren Erwartungen.
Womit sie jedoch nicht gerechnet hatten, war das Hochzeitskleid.
»Der Täter hat ihr ein Brautkleid angezogen?«, sagte Dr. Slater. »Wieso?«
Hunter und Garcia wussten, dass sie nicht wirklich eine Antwort erwartete.
Dr. Slater legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. »Ich habe auch nicht viel weiter gelesen als Sie zwei. Wir sind bei so vielen Fällen mit der Arbeit im Rückstand, dass ich schlichtweg nicht die Zeit dazu gefunden habe. Bis zu der Stelle, an der ich stehen geblieben bin, wurde nichts davon erwähnt.«
»Ist das Notizbuch denn noch im Labor?«, wollte Garcia wissen.
»Ja, aber in einem anderen. Ich habe es zur Analyse ins DNA-Labor geschickt, zusammen mit den Polaroidfotos.«
Das Serologie/DNA-Labor war die einzige Abteilung des FSD, die nicht auf dem Campus der California State University in Alhambra untergebracht war. Es lag viereinhalb Meilen entfernt im C. Erwin Piper Technical Center in Downtown Los Angeles, in unmittelbarer Nachbarschaft des PAB.
»Rein aus Interesse«, sagte Dr. Slater, »habe ich die ersten paar Seiten abfotografiert, damit ich sie später noch lesen kann.«
»Könnten Sie uns die Fotos so schnell wie möglich in die UV-Einheit schicken?«, fragte Hunter.
»Sicher.«
»Jetzt, wo wir wissen, dass es kein Scherz ist«, sagte Garcia, »müssen wir das komplette Buch abfotografieren lassen.«
»Kein Problem«, sagte Dr. Slater. »Ich rufe morgen im DNA-Labor an und bitte jemanden darum.« Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Sarg. Wenige Sekunden später runzelte sie die Stirn. »Moment mal. Irgendwas stimmt hier doch nicht.«
Hunter nickte. Er und Garcia hatten sich bereits darüber unterhalten, während sie auf Dr. Slater gewartet hatten.
»Haben Sie sie in dieser Position vorgefunden?«, wollte sie wissen.
»Wir haben nichts angerührt, Doc«, beteuerte Garcia.
Die Tote lag auf dem Rücken in der für Bestattungen üblichen Position – die Beine lang ausgestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet. Ihre langen schwarzen Haare waren wie ein Fächer um ihren Kopf herum ausgebreitet.
»Aber im Notizbuch steht doch, dass das Opfer bei lebendigem Leib begraben wurde.« Slater sah fragend zwischen den beiden Detectives hin und her.
Hunter nickte.
»Sie fragen sich, wie es sein kann, dass sie so ruhig daliegt, stimmt’s?«, sagte Garcia. »Als sie in einer dunklen Kiste aufgewacht ist, muss ihr doch nach wenigen Sekunden klar geworden sein, dass sie eingesperrt ist. Sie muss in Panik geraten sein. Bestimmt hat sie getreten, geschlagen, gekratzt und geschrien … Sie muss alles versucht haben, um sich zu befreien. Jede andere Position wäre realistisch, nur diese nicht. Und dann noch die Haare. Sie umrahmen perfekt ihr Gesicht, als würde sie für ein Foto posieren.«
»Sie hat auf jeden Fall gekämpft.« Hunter wies auf den Deckel, den sie einige Meter entfernt an einen Baum gelehnt hatten. »An der Innenseite sind zahlreiche Kratzspuren und Blutflecke zu sehen. Es stecken sogar abgebrochene Fingernägel im Holz. Sie hat um ihr Leben gekämpft.«
Dr. Slater richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Baum mit dem Sargdeckel, ging jedoch nicht hin. Die Spuren konnte sie später im Labor noch eingehend untersuchen.
»Das zweite Problem mit diesem Anblick«, fuhr Hunter fort, »ist, dass das Kleid wenigstens ein paar Risse aufweisen müsste. Und es müsste definitiv schmutzig sein.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tote. »Aber schaut es euch an. Es ist praktisch makellos weiß.«
In dem Moment fiel bei Dr. Slater der Groschen.
»Mein Gott!«, stieß sie hervor. »Das heißt, wer auch immer sie lebendig begraben hat, hat gewartet, bis sie gestorben war, dann ist er noch mal zurückgekommen, hat sie wieder ausgegraben, den Sarg geöffnet, ihr das Brautkleid angezogen, sie so hingelegt und dann ein zweites Mal beerdigt?«
»Davon gehen wir aus«, sagte Hunter .
Dr. Slater seufzte schwer. Sie wollte noch einmal »Wieso?« fragen, aber momentan hätte wohl nur der Täter diese Frage beantworten können. Stattdessen sah sie sich in ihrer Umgebung um.
»Das hier ist ein ziemlich weitläufiges Areal. Glauben Sie, es könnte noch mehr Gräber geben?«
»Im Moment wissen wir praktisch noch gar nichts«, antwortete Hunter. »Fürs Erste würde ich aber keine größere Suchaktion veranlassen. Wir haben das Buch. Wer auch immer die Frau hier begraben hat, hat uns die exakten Koordinaten geliefert …« Abermals deutete er auf die Leiche. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass er auch die Koordinaten seiner weiteren Gräber dokumentiert hat, ob sie sich nun hier befinden oder anderswo.«
»Klingt vernünftig«, sagte Dr. Slater. Im selben Moment klingelte ihr Telefon. »Entschuldigen Sie mich eine Sekunde.« Sie wandte sich ab und nahm den Anruf entgegen.
»Doc.« Es war Kenneth Morgan, ein erfahrener Kriminaltechniker, der genau wie Dr. Slater in der FSD arbeitete. »Wir sind jetzt da. Wir parken direkt hinter Ihrem Wagen. Wie kommen wir an den Fundort?«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich hole Sie ab.«
Aufgrund der Vegetation und des hügeligen, steinigen Geländes war es nicht möglich, mit dem Fahrzeug bis zu der Stelle vorzudringen. Sie mussten am Dunsmore Canyon Trail parken und die komplette Ausrüstung zu Fuß an den Fundort tragen, einschließlich Lichtern, Grabungsgeräten und Stromgeneratoren. So war es fast dreiundzwanzig Uhr dreißig, als das Team der Kriminaltechnik endlich die Scheinwerfer anwarf.
»Einen Kran herzuschaffen kommt nicht infrage«, teilte Dr. Slater Hunter und Garcia mit. »Wir müssen die Kiste wieder verschließen, damit kein Dreck hineingelangt, und sie dann per Hand ausgraben.«
Damit hatten die beiden bereits gerechnet .
»Während wir auf Sie gewartet haben, sind wir schon mal die nähere Umgebung abgelaufen, um nach Hinweisen zu suchen, dass jemand hier war«, sagte Hunter. »Die Stelle ist so abgelegen, wenn wir da etwas finden – einen Zigarettenstummel, einen alten Kaugummi, ein Bonbonpapier, eine leere Wasserflasche oder was auch immer –, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es von demjenigen stammt, der das Grab ausgehoben hat. Wer auch immer das ist, es sieht ja so aus, als hätte er eine Menge Zeit hier verbracht, vor allem wenn er noch mal zurückgekommen ist, um sie wieder auszugraben.«
»Und? Sind Sie fündig geworden?«
»Nein«, antwortete Garcia. »Aber wir waren auch nicht annähernd gründlich genug. Es ist stockfinster hier draußen, und wir hatten nur die Stirnlampen.«
»Macht nichts«, meinte Dr. Slater. »Wenn dieses Monster irgendwelche Spuren hinterlassen hat, werden wir sie finden.«
Der Fotograf der Spurensicherung ging an ihnen vorbei und begann, die Leiche in der Holzkiste abzulichten.
»Das wird eine sehr langwierige und öde Arbeit«, sagte Dr. Slater, an Hunter und Garcia gewandt. »Wir werden auf jeden Fall noch mehrere Stunden hier zu tun haben. Sie sollten nach Hause fahren. Ich bin mir sicher, Ihr Dienst ist längst vorbei. Falls wir noch was finden, gebe ich Ihnen sofort Bescheid.«
»Ich bleibe noch ein Weilchen«, sagte Hunter, ehe er sich an seinen Partner wandte. »Aber fahr du ruhig nach Hause, Carlos. Grüß Anna von mir. Wir sehen uns dann morgen im Büro.«
Garcia wollte gerade gehen, als der Fotograf etwas an der rechten Innenseite neben dem Kopf der Leiche entdeckte, das bisher von ihren Haaren verdeckt gewesen war.
»Detectives!«, rief er und ließ seine Kamera sinken. »Vielleicht könnten Sie noch mal kurz herkommen und sich das hier ansehen.«
Hunter, Garcia und Dr. Slater traten näher und gingen am Rand des Grabs in die Hocke. Wenig später gesellte sich auch Kenneth Morgan zu ihnen.
»Da unten.« Der Fotograf schob behutsam einige Haarsträhnen aus dem Weg und deutete auf eine winzige rechteckige Box von der Größe eines Achter-Legosteins.
»Lassen Sie mich mal sehen«, bat Morgan und zog sich ein frisches Paar Latexhandschuhe über. Er kroch näher heran, langte in den Sarg und griff nach der schwarzen Box, doch diese ließ sich nicht entfernen. »Es geht nicht ab. Ich glaube, das Ding ist am Holz festgeklebt.«
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Dr. Slater.
»Ich bin mir nicht sicher.« Morgan beugte sich tief über den offenen Sarg, um den Gegenstand aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. In dem Moment fiel ihm die winzige runde Linse auf. Er stutzte, hob den Kopf und drehte sich zu Dr. Slater um. »Ich glaube, es ist eine Kamera, Doc. Eine Streaming-Kamera. Wer auch immer der Täter ist, er hat diese arme frau nicht nur lebendig begraben, er hat ihr auch noch beim Sterben zugesehen.«