25
Sobald Hunter wieder an seinem Schreibtisch saß, öffnete er die Mail von Dr. Slater. Sie enthielt einen Ordner mit insgesamt einhundertundzwanzig Fotos, von denen jedes zu einer Seite im Tagebuch gehörte. Um Verwechslungen zu vermeiden, hatte der Kriminaltechniker, der die Seiten abfotografiert hatte, auf Dr. Slaters Geheiß hin alle Polaroidfotos auf die dazugehörigen Seiten gelegt.
Hunter lud den Zip-Ordner herunter.
Garcia, der ins CC gesetzt worden war, tat das Gleiche.
Hunter schenkte sich selbst und seinem Partner eine Tasse Kaffee ein, ehe er das erste Bild mit dem Dateinamen »Seite001« öffnete. Alle Bilder waren hochauflösend gespeichert worden, was die Schrift gut lesbar machte.
Obwohl sie im kriminaltechnischen Labor bereits die ersten Seiten überflogen hatten, fing Hunter noch einmal ganz von vorne an. Der Rest des ersten Eintrags schilderte, wie der Mörder die Kiste gezimmert hatte, in der Elizabeth Gibbs lebendig begraben worden war. Danach beschrieb er, wie leicht es gewesen war, sie mit gewöhnlichen, zu Pulver zerstoßenen Schlaftabletten zu betäuben, ehe er sie in den Sarg gelegt und ihn zugenagelt hatte.
Von der kleinen Kamera, die sie im Sarg gefunden hatten, erwähnte der Verfasser nichts, allerdings beschrieb er Elizabeths verzweifelten Überlebenskampf, sobald ihr klar
geworden war, dass man sie lebendig begraben hatte. Sie hatte am Deckel der Kiste gekratzt, dagegen geschlagen und getreten, ja sogar hineingebissen, ehe ihr schließlich Hoffnung und Kraft ausgegangen waren.
Den Aufzeichnungen zufolge hatte es annähernd vierundzwanzig Stunden gedauert, bis der Sauerstoff knapp geworden und Elizabeth Gibbs gestorben war. Ihre letzten Stunden hatte sie nicht mehr gekämpft, sondern geweint und gebetet.
Allerdings endete der Eintrag mit einer Überraschung.
Genau wie alle bisherigen Subjekte hat auch dieses geweint und mich um sein Leben angefleht, als es ernst wurde. Auch die Fragen sind immer dieselben: »Warum? Warum ich? Warum tun Sie mir das an? Was habe ich Ihnen je getan?« Es ist faszinierend, ein Subjekt dabei zu beobachten, wie ihm bewusst wird, dass es wirklich und wahrhaftig sterben wird und dass es nichts gibt, was es tun kann, um mich umzustimmen oder aufzuhalten. Manche bieten mir ihren Körper an. Sie sagen mir, dass ich mit ihnen machen kann, was ich will, solange ich sie hinterher gehen lasse. Manche sagen mir auch, dass sie mir auf eine Art und Weise Befriedigung verschaffen können, die ich vorher nicht mal für möglich gehalten hätte. Manche appellieren an meine Menschlichkeit und erzählen mir Geschichten aus ihrem Leben. Sie sagen mir, wie viel sie schon durchgemacht und gelitten haben. Manche erzählen von ihren Familien … ihren Eltern … ihren Geschwistern … ihren Ehemännern … sogar von ihren Haustieren. Diese Frau war nicht anders. Sie erzählte mir Dinge aus ihrer Kindheit – dass ihr Stiefvater sie als Kind drei Jahre lang regelmäßig vergewaltigt hätte. Sie erzählte mir, wie sehr er ihr körperlich und seelisch wehgetan hätte. Er hätte sie so schwer verletzt, dass sie niemals Kinder bekommen könnte, und sie wäre fast daran zerbrochen … Mehr als einmal wäre sie kurz davor gewesen, sich das Leben zu nehmen, und der einzige Grund, weshalb sie es am Ende nicht getan hatte, wäre ihr bester Freund
gewesen, der irgendwann ihr Geliebter und schließlich ihr Verlobter wurde. Dass sie in acht Monaten heiraten wollten. Ich habe alle nur erdenklichen Geschichten von den Subjekten gehört, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Sie versuchen nur, ihr Leben zu retten. Das liegt in der Natur des Menschen. Aus irgendeinem Grund ist die Geschichte dieser Frau bei mir hängen geblieben. Vielleicht war es der Ausdruck in ihren Augen … der tiefe Schmerz in ihrer Stimme, oder vielleicht lag es auch daran, dass sie mich an jemanden erinnerte, den ich vor langer Zeit kannte. Ich weiß es nicht, aber ich beschloss, ihr ein Geschenk zu machen. Ich beschloss, dass ich ihr in acht Monaten – an dem Tag, an dem sie eigentlich hätte heiraten sollen – ein Brautkleid anziehen würde.
Hunter hörte auf zu lesen und blickte von seinem Bildschirm auf. Wie auf Kommando machte Garcia genau dasselbe.
»Warst du schon an der Stelle mit dem Hochzeitskleid?«, fragte er.
»Ja«, sagte Hunter.
»Ist das etwa seine Vorstellung von Gnade? Ihr an dem Tag, an dem sie vor den Altar hätte treten sollen, ein Hochzeitskleid anzuziehen?«
»Keine Ahnung … vielleicht.«
»Er bezeichnet es als Geschenk
. Ist das zu fassen?« Garcia zitierte: »›Aber ich beschloss, ihr ein Geschenk zu machen‹. Der Kerl ist doch vollkommen gestört. Er hat sie nach acht Monaten wieder ausgegraben, um ihr ein Hochzeitskleid anzuziehen … wozu? Damit er sich für seine gute Tat auf die Schulter klopfen kann? Um seine Schuldgefühle zu lindern?«
Hunter gab keine Antwort.
Garcia war noch nicht fertig.
»Kannst du dir diese Geduld vorstellen? Dieses Durchhaltevermögen? Die Leiche kann zu dem Zeitpunkt nicht mehr in gutem Zustand gewesen sein. Die Verwesung war in
vollem Gange, und trotzdem hat er sie exhumiert und umgezogen.« Er machte eine Pause und hob die Hand. »Ich gehe davon aus, dass er sie ursprünglich in ihren Kleidern begraben hat.« Garcia schüttelte fassungslos den Kopf. »Wahrscheinlich hat er bei der Gelegenheit auch noch das Innere des Sarges sauber gemacht. Er war blitzblank, weißt du noch?«
Hunter nickte.
»Wenn das nicht das Handeln eines gestörten Geistes ist, weiß ich es auch nicht.«
»Am besten, wir lesen einfach weiter«, meinte Hunter.
»Klar. Aber vorher brauche ich eine Pinkelpause.« Garcia stand auf und verließ das Büro.
Hunter machte derweil mit Seite007 und Seite008 weiter – dem zweiten Tagebucheintrag und somit dem zweiten »Subjekt«.
Das dazugehörige Polaroidfoto war das des blonden Jungen, das Dr. Slater ihnen bereits am Morgen geschickt hatte.
Hunter nippte noch einmal an seinem Kaffee, dann vertiefte er sich in den Text. Auch dieser Eintrag enthielt Zeichnungen und wies keinerlei Absätze oder andere Unterteilungen auf … nur ein Wort nach dem nächsten, Zeile um Zeile.
Die Stimmen waren wieder da, gestern spät in der Nacht. Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet, dass sie sich so bald wieder melden. Seit dem letzten Subjekt sind erst zweiundzwanzig Tage vergangen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, als würden die Stimmen immer hungriger und gieriger werden … und ihre Lust auf Sadismus und Erniedrigung immer größer. Wieder einmal hatten sie eine sehr präzise Vorstellung von dem, was sie wollten. Alter: nicht älter als achtzehn und nicht jünger als fünfzehn. Mindestgröße: 1,68 m. Haare: naturblond (nicht gefärbt – sehr wichtig), Länge egal. Augen: blau, egal ob hell oder dunkel, aber ausschließlich blau, ohne grüne oder braune
Anteile … auf jeden Fall BLAU. Körpergewicht: irrelevant. Hautfarbe: weiß. Anfangs dachte ich, es würde mir leichtfallen, die richtige Zielperson zu finden, schließlich lebe ich in Los Angeles, wo blonde Menschen gewissermaßen auf den Bäumen wachsen, aber wie sich herausstellt, liegen Schein und Sein oft weit auseinander. Eigentlich hätte ich das aus eigener Erfahrung wissen sollen. Wie auch immer. Offenbar ist in dieser Stadt nur jede fünfte blonde Frau und jeder dritte blonde Mann von Natur aus blond. Zunächst schaute ich mich auf den Straßen nach einem passenden Subjekt um, vorzugsweise einem, das niemand vermissen würde, aber damit hatte ich keinen Erfolg. Anscheinend gibt es keine jugendlichen Obdachlosen mit blonden Haaren und blauen Augen. Auch das Alter war schwierig – fünfzehn bis achtzehn, also noch schulpflichtig. Ich brauchte mehrere Tage, bis ich drei potenzielle Kandidaten ins Auge gefasst hatte. Dann kostete es mich noch einmal zwölf Tage (ich beobachtete jeden der drei jeweils vier Tage lang), um das eigentliche Subjekt auszuwählen. Meine Wahl fiel auf Cory Snyder, einen sechzehnjährigen Jungen aus Lakewood, Southeast L. A. Danach musste ich noch einmal vier Tage darauf verwenden, ihn rund um die Uhr zu beschatten, ehe sich endlich die perfekte Gelegenheit zum Zuschlagen ergab. Datum und Uhrzeit: 25. März 2018, gegen 0145 h. Ort: Centralia Street, Lakewood. Das Subjekt war gerade auf dem Heimweg von einer Party. Es war leicht angetrunken und high, weil es Gras geraucht hatte, somit hatte ich leichtes Spiel. Foto aufgenommen am darauffolgenden Nachmittag, nachdem das Subjekt ausgenüchtert war.
Garcia kam ins Büro zurück und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Zur gleichen Zeit hielt Hunter im Lesen inne, um noch einmal einen Blick auf das Polaroid zu werfen. Das Herz wurde ihm unendlich schwer. Wenn das Opfer einen Namen hatte – wenn man wusste, was für ein Mensch es gewesen war und woher es kam –, war es besonders
schlimm.
Hunter minimierte das Bild auf seinem Monitor und rief stattdessen die Vermisstendatenbank auf. In weniger als fünf Sekunden hatte er einen Treffer.
Cory Snyder war am 10. Juli 2001 in Los Angeles geboren worden. Wie der Tagebucheintrag verriet, hatte er in Lakewood gewohnt, einer multikulturellen Gegend im Südosten von L. A. Cory war Einzelkind gewesen und hatte bei seiner Mutter, einer gewissen Lindy Flynn, gelebt, die ihn am 25. März 2018 als vermisst gemeldet hatte, nachdem er nicht von einer Party im Haus eines knapp eine Meile entfernt wohnenden Freundes zurückgekehrt war. Corys Eltern hatten sich scheiden lassen, als er fünf gewesen war. Sein Vater Martin Snyder lebte in Palo Alto. Laut Protokoll der Vermisstenstelle lautete Corys Anschrift Elsa Street Nummer 5941. Er wurde nach wie vor als vermisst geführt. Offiziell liefen die Ermittlungen noch.
Rasch rief Hunter eine Karte auf und ließ sich die Adresse des Jungen anzeigen. Die Elsa Street war eine kurze Wohnstraße in der Nähe der Centralia Street, die der Verfasser des Tagebuchs als Ort der Entführung angegeben hatte. Wie es schien, war Cory Snyder nur noch wenige Minuten von zu Hause entfernt gewesen, als sein späterer Mörder zugeschlagen hatte.
Hunter vertiefte sich noch einmal in den Bericht der Vermisstenstelle und suchte nach dem Namen des ermittelnden Detectives – Winston Bradley. Er kannte Detective Bradley. Die UV-Einheit hatte schon mehrere Vermisstenfälle übernommen, nachdem sie zu Mordfällen geworden waren.
Dann las Hunter weiter.
Wie ich bereits sagte, der Hunger der Stimmen nach Sadismus und Erniedrigung ist ungebrochen. Ihre Anweisung lautete: Auspeitschen. »Der Junge soll nackt ausgezogen und festgebunden werden – die Arme über dem Kopf ausgestreckt, die Handgelenke zusammengekettet. Er soll jeden Tag 25 Peitschenhiebe auf den
Rücken und 25 Peitschenhiebe auf die Brust erhalten, so lange, bis der Tod eintritt. Die Hiebe sollen mit einer ledernen Peitsche ausgeführt werden. Ich will sehen, wie viele Tage so ein hübscher weißer Junge aushalten kann. Er soll einmal am Tag Wasser und Nahrung erhalten, nicht öfter. Er soll nicht vor Hunger oder aufgrund von Flüssigkeitsmangel das Bewusstsein verlieren. Er muss an den Peitschenhieben sterben. Die Wunden dürfen nicht versorgt und Blutungen dürfen nicht gestillt werden.« Ich befolgte die Anweisungen gewissenhaft. Abends bekam er Essen und Trinken. Anfangs ließ meine Genauigkeit bei den Peitschenhieben noch zu wünschen übrig. Mit der Zeit wurde es besser, aber obwohl ich ausschließlich auf Brust oder Rücken zielte, landeten einige Hiebe auch auf seinen Beinen, im Lendenbereich, am Hals oder im Gesicht. Schon nach sehr kurzer Zeit war klar, dass es eine sehr blutige und dreckige Angelegenheit werden würde. Das Ende einer Peitsche schneidet mit Leichtigkeit durch menschliche Haut und Muskeln. Trotz meiner anfänglichen Ungenauigkeit riss ihm jeder Hieb die Haut auf. Es waren tiefe Wunden, bei denen selbst jemand von der SanTruppe das kalte Grausen bekommen hätte. Mit jedem neuen Schlag spritzte das Blut aus der frischen Wunde. Es tränkte die Luft wie ein roter Nebel. Außerdem landeten viele Schläge unmittelbar in bereits existierenden Wunden und vertieften sie, bis sie fast auf den blanken Knochen reichten. Mitunter riss die Peitsche ihm ganze Stücke Fleisch aus dem Körper, die durch die Gegend flogen und mit einem Klatschen am Boden landeten. Verständlicherweise verlor das Subjekt während dieser Tortur mehrmals das Bewusstsein. Wenn dies eintrat, wartete ich immer, bis er von selbst wieder zu sich gekommen war, ehe ich fortfuhr. Als Antwort auf die Frage der Stimmen – und zu meinem eigenen Erstaunen – ertrug er insgesamt 241 Peitschenhiebe. An Tag 5 verstarb er.