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Mittwoch, 9. Dezember
Es war schon fast ein Uhr, als Hunter endlich den Ball verließ. Hätte er die Wahl gehabt, wäre er schon viel früher gegangen. Er brannte darauf, sich das Tagebuch des Mörders vorzunehmen und die restlichen Einträge zu lesen, aber Captain Blake hatte darauf bestanden, dass er erst ging, nachdem Gouverneur Gordon seine Rede gehalten hatte, die für Mitternacht angesetzt war. Danach musste Hunter noch weitere zwanzig Minuten ausharren, ehe Blake ihm endlich die Erlaubnis gab zu verschwinden.
Nächstes Jahr
, dachte er, als er ins Auto stieg und den Motor anließ, mache ich definitiv bei den Weihnachtsmännern mit.
Die Weihnachtsmänner waren eine Gruppe von zehn Polizisten und Detectives, die sich passend zum Fest verkleidet hatten und auf dem Ball lustige Geschenke und Karten verteilten oder den Gästen Streiche spielten. Auch Garcia war in diesem Jahr ein Teil der Gruppe, und sein Zombie-Weihnachtsmannkostüm war Gesprächsthema Nummer eins. Ohne ihn wäre Hunter vor Langeweile gestorben.
Um diese Uhrzeit dauerte die Fahrt vom Globe Theatre in Downtown L. A. nach Huntington Park nur knapp dreißig Minuten. Zu Hause zog sich Hunter als Erstes etwas Bequemeres an, dann schenkte er sich einen doppelten Kilchoman Sanaig Single Malt Scotch ein und setzte sich an den kleinen Esstisch im Wohnzimmer, der ihm zugleich als Schreibtisch diente. Er schaltete seinen Laptop ein und rief sein Mailprogramm auf. Er konnte es nicht erwarten, das Tagebuch weiterzulesen, doch schon nach kurzer Zeit merkte er, wie ihm die Lider immer schwerer wurden und seine Aufmerksamkeit nachließ
.
Hunter litt schon fast sein ganzes Leben lang an Hyposomnie, und bei Verlassen des Balls hatte er fest mit einer schlaflosen Nacht gerechnet. Alle Anzeichen waren vorhanden: die kreisenden Gedanken, der Frust, die Flut von Fragen, auf die er keine Antworten wusste. Normalerweise genügte das, um sein Gehirn die ganze Nacht auf Hochtouren laufen zu lassen, ohne auch nur den Hauch einer Chance auf Ruhe. Er war an solche Nächte gewöhnt und darauf vorbereitet, aber er hatte auch gelernt, dass ihn seine Schlaflosigkeit manchmal – wenn auch sehr selten – aus unerfindlichen Gründen verschonte.
Er hatte seinen Whisky kaum angerührt, die Müdigkeit konnte also nicht vom Alkohol kommen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und entspannte sich. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er die Ursache des Gefühls identifiziert: Er war zu Tode erschöpft, ganz einfach. Sein Körper wollte schlafen.
Das Leben mit Hyposomnie hatte Hunter vieles gelehrt. Die wichtigste Lektion war, dass man eine solche Gelegenheit niemals ungenutzt verstreichen lassen durfte. Wenn sich die Möglichkeit auf Schlaf bot, tat man gut daran, sie zu ergreifen.
Er schaltete den Rechner aus, leerte sein Whiskyglas und ging ins Bett.