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Der Killer hatte Mumm. Das musste Hunter ihm lassen.
Rasch tippte er auf das Symbol der Aufnahme-App, die er auf seinem Smartphone installiert hatte.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe, Detective? Ich brauche mein Tagebuch zurück.«
Die Stimme klang natürlich und unverfälscht. Hunter konnte keinen Pitchshifter und keine elektronische Verzerrung wahrnehmen, noch schien der Anrufer seine Stimme in irgendeiner Weise zu verstellen.
»Ja, ich habe Sie gehört«, antwortete er ruhig. »Sie können es jederzeit wiederhaben. Kommen Sie einfach im Police Administration Building vorbei, dann gebe ich es Ihnen.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Detective.« Abermals eine kurze Pause. »Stattdessen werden Sie meine Anweisungen befolgen, wie die Übergabe stattzufinden hat. Wenn Sie das tun, wird nur das Mädchen sterben. Wenn nicht … sind Sie als Nächster dran.«
Hunter blinzelte.
Hatte dieser Mann ihm gerade allen Ernstes mit dem Tod gedroht?
Die Kühnheit des Mannes machte ihn sprachlos, aber zugleich war sie auch faszinierend. Er wollte unbedingt hören, was der Mann sonst noch zu sagen hatte.
»Ihre Anweisungen befolgen?«, wiederholte er ohne eine Spur von Sarkasmus .
»Richtig.«
»Okay«, sagte Hunter und lehnte sich im Fahrersitz zurück. »Und wie genau möchten Sie Ihr Tagebuch wiederhaben? Wie lauten die Anweisungen, die ich befolgen soll?«
»Sobald Sie das Buch in Ihrem Besitz haben«, sagte der Mann, »melde ich mich wieder bei Ihnen, dann kriegen Sie weitere Instruktionen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich es nicht bei mir habe?«, fragte Hunter.
»Ich bin nicht dumm, Detective.« Der Mann hatte offenbar kein Bedürfnis, weitere Erklärungen abzugeben. »Ich gebe Ihnen bis morgen Punkt siebzehnhundert Zeit, um das Tagebuch in Ihren Besitz zu bringen. Tragen Sie immer Ihr Telefon bei sich.«
Hunter zog die Augenbrauen hoch, doch ehe er Gelegenheit hatte, noch etwas zu erwidern, war die Leitung tot.
Eher aus Gewohnheit rief er danach unverzüglich in der Technical Investigation Division des LAPD an und bat dort um eine Standortbestimmung des Anrufers. Große Hoffnungen machte er sich nicht. Nach nicht mal einer halben Minute erhielt er die Antwort, mit der er bereits gerechnet hatte.
»Tut mir leid, Detective, der Anrufer hat ein Prepaid-Handy benutzt, das entweder keinen GPS-Chip besitzt oder bei dem der GPS-Chip deaktiviert wurde.«
Die nächste Minute lang saß er regungslos in seinem Wagen und ließ sein Gespräch mit dem Mörder noch einmal Wort für Wort Revue passieren.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Jordan, der aus dem Haus gekommen war und, die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen, auf Hunters Buick zuhielt.
Hunter wusste, wie gut die SIS war. Bestimmt hatten sie vorne und hinten am Haus Überwachungskameras angebracht und Hunter kommen sehen, lange bevor er in die Einfahrt eingebogen war.
Hunter öffnete die Fahrertür und stieg aus. Dann spähte er besorgt die Straße hinunter. In ihm regten sich erste Zweifel.
Ja, er hatte sich streng ans Sicherheitsprotokoll gehalten und während der Fahrt darauf geachtet, dass ihnen niemand folgte. Er hatte eine Kombination verschiedener Techniken angewandt, um etwaige Verfolger abzuschütteln, außerdem hatte er mehrere Umwege genommen, sodass aus einer eigentlich vierzigminütigen Fahrt zwei Stunden geworden waren. Und er hatte alle paar Minuten in den Rückspiegel geschaut. Wäre ihnen jemand gefolgt, hätte er es bemerkt, erst recht während einer so langen Fahrt. Er war sich absolut sicher.
Instinkt und Erfahrung sagten ihm, dass er nichts zu befürchten hatte, aber das Timing des Anrufs sowie die Tatsache, dass der Anrufer so ruhig geklungen hatte, gaben ihm zu denken. Was, wenn er doch einen Fehler gemacht hatte? Was, wenn der Mörder Angelas Wohnhaus observiert und nur darauf gewartet hatte, dass das LAPD kam – denn er hatte gewusst, dass sie früher oder später kommen würden. Wenn dem so war … wenn der Killer gesehen hatte, wie Hunter und Angela losgefahren waren … was hätte ihn daran gehindert, ihnen bis hierher zu folgen?
Nein. Hunter hätte jeden Verfolger abgeschüttelt. Davon war er überzeugt.
»Detective?«, sagte Jordan erneut. »Ist alles in Ordnung?« Instinktiv nahm er sich ein Beispiel an Hunter und ließ ebenfalls den Blick in die Runde schweifen. »Fürchten Sie, Ihnen könnte jemand gefolgt sein? Glauben Sie, wir sind nicht mehr sicher?«
Noch immer mit dem Blick ans Ende der Straße gerichtet, schüttelte Hunter langsam den Kopf.
»Nein«, sagte er entschieden.
»Die Bedrohung gegen die Frau im Haus«, sagte Jordan. »Reden wir da von einer Einzelperson oder einer Organisation? «
Hunter wusste, weshalb Jordan diese Frage gestellt hatte. Beim Zeugenschutz ging es meistens um Leute, die gegen das organisierte Verbrechen aussagten.
»Der bisherigen Beweislage nach handelt es sich um eine Einzelperson«, gab Hunter Auskunft.
Jordan kannte Hunter nicht persönlich, hatte jedoch von den Erfolgen des Detectives und vom Ruf der UV-Einheit gehört. Hunter war nicht als ein Mann bekannt, der viele Fehler machte.
»Ihre Entscheidung, Detective«, meinte er nach einer Weile. »Aber wenn Sie auch nur den geringsten Zweifel haben, dass das Haus kompromittiert sein könnte, müssen wir die Zeugin verlegen. Sie wissen genau, dass wir kein Risiko eingehen dürfen.«
Hunter ging die Fahrt von Angelas Wohnung bis zum Safehouse noch einmal im Kopf durch.
Er war sicher, dass ihnen niemand gefolgt war. Mehr noch: Nicht ein einziges Mal während der gesamten Fahrt hatte ihn ein ungutes Gefühl beschlichen. Nicht ein einziges Mal war ihm ein verdächtiges Fahrzeug aufgefallen. Nicht ein einziges Mal hatte er dasselbe Fahrzeug zweimal gesehen.
»Nein«, sagte er noch nachdrücklicher als zuvor. »Das Haus ist sicher. Wir bleiben hier.«