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Donnerstag, 10. Dezember
Anders als am Abend zuvor hatte Hunters Hyposomnie in dieser Nacht zu alter Form zurückgefunden. Er war immer nur für kurze Zeit eingenickt, ehe Albträume und nagende Zweifel ihn wieder aufweckten. Dieser ständige Wechsel zwischen Schlafen und Wachen war die brutalste Form der Schlaflosigkeit, denn sein Körper trat jedes Mal in die Tiefschlafphase ein, nur um gleich darauf wieder hochzuschrecken und dann wenige Minuten später erneut wegzudämmern. Dieser zermürbende Vorgang wiederholte sich die ganze Nacht. Das Einschlafen war kein Problem, das Durchschlafen dafür umso mehr. Nichtsdestotrotz brachte er es insgesamt auf etwa drei Stunden Schlaf. Nicht gerade reichlich, aber für jemanden mit chronischer Hyposomnie gar nicht so schlecht.
Er hinterließ Angela eine Nachricht und brach gegen Viertel nach fünf auf. Ganz unabhängig von seinen Schlafproblemen war Hunter zeitlebens ein Morgenmensch gewesen. Er zog es vor, möglichst früh im Büro zu sein, und heute wollte er vorher noch zu Hause vorbeifahren, um zu duschen, sich zu rasieren, umzuziehen und zu frühstücken. Letzteres war sein bester Trick, wenn es darum ging, Hirn und Körper nach einer anstrengenden Nacht wieder in Gang zu bringen.
Er wusste auch schon genau, was er essen würde.
Für jemanden, der den Großteil seines Lebens allein gelebt hatte, ließen Hunters kulinarische Fähigkeiten einiges zu wünschen übrig. Sein Protein-Omelett allerdings konnte es mit jedem Sternekoch aufnehmen.
Garcia hatte schon mehrfach gewitzelt, Hunter könne ein Restaurant eröffnen, falls er jemals beschließen sollte, den Job bei der Polizei an den Nagel zu hängen. Auf der Speisekarte würde nur ein einziges Gericht stehen: Roberts fantastisches Protein-Omelett.
»Die Leute würden Schlange stehen«, hatte Garcia gemeint, nachdem er es zum ersten Mal probiert hatte. »Im Ernst, Robert – das hat Gourmetqualitäten. Du könntest damit richtig reich werden. Jedenfalls reicher als beim LAPD.«
Hunter hatte bloß gelacht.
Während der Fahrt fiel ihm wieder ein, dass seine Kaffeemaschine kaputt war. Für Hunter war ein gesundes Frühstück ohne einen guten Kaffee undenkbar.
Als er vom Santa Monica Freeway abfuhr und in die South Santa Fe Avenue einbog, erinnerte er sich an einen kleinen Coffeeshop, in dem er einige Monate zuvor gewesen war und der Kaffee aus biologischem Anbau anbot. Er lag etwas versteckt im Arts District, nur einen Steinwurf weit von seinem momentanen Standort entfernt, und der Kaffee dort war mit der beste, den er seit langer Zeit getrunken hatte. Ein weiterer Vorteil war, dass der Coffeeshop täglich außer an Wochenenden ab halb sechs geöffnet hatte. Hunter lief das Wasser im Mund zusammen. Mehr Anreiz brauchte er nicht. Eine Minute später hielt er vor dem Urth Caffe in der South Hewitt Street.
Drinnen waren zwei Baristas damit beschäftigt, Kuchen und Sandwiches in eine große gläserne Vitrine zu legen.
Normalerweise trank Hunter seinen Kaffee zum Frühstück schwarz, aber angesichts der großen Auswahl beschloss er, heute eine Ausnahme zu machen. Er überflog die Karte und musste dabei mehrmals schmunzeln. Einige der Kreationen klangen eher nach Milchshakes als nach Kaffee.
»Sofern Sie Ihren Kaffee nicht pappsüß mögen, würde ich vom Double Cream Vanilla Deluxe lieber die Finger lassen.«
Dieser Ratschlag kam von der Person unmittelbar hinter ihm .
Hunter erstarrte. Er wusste genau, wem diese Stimme gehörte. Mehr noch: Fast dasselbe hatte sie bei ihrer allerersten Begegnung in der Bibliothek der UCLA vor fast anderthalb Jahren zu ihm gesagt.
Er holte tief Luft. Das Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust. Einen Augenblick später drehte er sich um.
»Hallo, Robert«, sagte Tracy Adams mit einem verhaltenen Lächeln.
»Tracy?« Hunter konnte es noch immer nicht ganz glauben.
Bei ihrer ersten Begegnung in der Bibliothek hatten sie beide sofort eine starke Anziehung gespürt. Einige Zeit später waren sie ein Paar geworden, doch obwohl Hunter tiefe Gefühle für sie hegte, hatte er nicht zugelassen, dass sich aus ihrer Romanze etwas Ernstes entwickelte – was, im Nachhinein betrachtet, eine sehr kluge Entscheidung gewesen war.
Etwa sechs Monate zuvor hatte ein tragisches Ereignis dazu geführt, dass ihre Beziehung abrupt und sehr schmerzhaft zu Ende ging. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen oder auch nur miteinander gesprochen.
Hunter erwiderte ihr Lächeln. Es gab eine Million Dinge, die er ihr gerne gesagt hätte, aber alles, was ihm in diesem Moment über die Lippen kam, war: »Was machst du denn hier?« Seine Überraschung war echt, und die Frage hatte nichts Vorwurfsvolles, trotzdem verspürte er das Bedürfnis, sich klarer auszudrücken. »Ich meine … was machst du um diese Uhrzeit in diesem Teil der Stadt? Bist du umgezogen?«
Als Hunter und Tracy sich das letzte Mal gesehen hatten, hatte sie in Hollywood gewohnt, das lag etwa elf Meilen vom Urth Caffe entfernt.
»Nein«, sagte sie. »Ich wohne immer noch in derselben alten Wohnung.«
Hunter fragte nicht weiter nach.
»Ich habe bei Amber übernachtet«, fügte sie hinzu. »Ich weiß nicht, ob du dich noch an sie erinnerst.«
Ja, Hunter erinnerte sich. Amber war Tracys beste Freundin.
»Sie wohnt hier gleich um die Ecke«, fuhr Tracy fort. »Wie du weißt, bin ich normalerweise nicht zu so einer unchristlichen Stunde wach, aber ich habe heute ganz früh eine Lehrveranstaltung, für die ich mich noch vorbereiten muss. Ich bin nur kurz hier reingesprungen, um mir was zum Frühstücken zu holen.«
Hunter überließ das Lächeln seinen Augen. Mit ihrer schwarzen Schmetterlingsbrille, die perfekt zu ihrem herzförmigen Gesicht passte, den grünen Augen, den über und über tätowierten Armen und den Piercings in Lippe und Nase erinnerte sie ihn nach wie vor an eine etwas wilde Version eines Pin-up-Girls aus den Fünfzigerjahren. Allerdings war ihr Haar ein wenig kürzer als in Hunters Erinnerung und das Rot ein wenig heller. Irgendwie machte sie das noch attraktiver.
»Und du wohnst immer noch in Huntington Park?«, erkundigte sie sich.
»Ja.«
Tracy lachte leise. »Ich frage lieber nicht, wie es kommt, dass du um diese Uhrzeit hier bist.«
Diesmal versuchte Hunter sich an einem richtigen Lächeln, auch wenn er das Gefühl hatte, seine Mundwinkel würden sich dagegen sträuben.
»Gut siehst du aus«, sagte er. »Ich mag die Haare. Das steht dir.«
Tracy schien überrascht, dass Hunter ihre neue Frisur aufgefallen war.
»Danke.« Sie wirkte geschmeichelt. »Du aber auch. Du siehst …« Sie gab sich redlich Mühe, aber sie war immer schon eine schreckliche Lügnerin gewesen. Außerdem wusste sie, dass Hunter sich nichts vormachen ließ. »Du siehst müde aus, Robert.«
Hunter nickte. »Es war ziemlich stressig in letzter Zeit.«
»Ach, komm. So schlimm kann es doch nicht sein.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Wir unterhalten uns schon seit zwei Minuten, und dein Telefon hat nicht ein einziges Mal geklingelt.«
»Stimmt.«
Schweigen trat ein. Es währte so lange, dass es unangenehm wurde.
Das war während ihrer kurzen Beziehung nicht ein einziges Mal vorgekommen. Vom ersten Tag an hatten sie sich in der Gegenwart des anderen so wohlgefühlt, als wären sie schon ihr ganzes Leben lang zusammen. Es hatte nie eine Rolle gespielt, ob sie schwiegen oder redeten.
»Soll ich dir was empfehlen?«, machte Tracy dem beklemmenden Moment ein Ende und deutete auf die Tafel mit den Getränken. »Nimm den Caffe Quadra oder den Rude Awakening, die sind beide mit extra viel Espresso. Könntest du brauchen.«
Hunter wandte sich wieder nach vorn und überflog die Beschreibung der zwei Kaffeespezialitäten, die Tracy ihm vorgeschlagen hatte.
»Die klingen beide gut«, meinte er. »Aber Rude Awakening hört sich stärker an.«
»Ist er auch.«
Hunter bestellte einen großen Rude Awakening und wartete, während Tracy einen mittleren Spanish Latte sowie eine Berry Bowl zum Mitnehmen in Auftrag gab.
»Übrigens«, sagte sie, während sich der Barista an die Zubereitung ihrer Getränke machte. »Ich ziehe bald an die Ostküste. In einer Woche, um genau zu sein.«
Diese Neuigkeit zog Hunter fast den Boden unter den Füßen weg.
»Ach ja? Wohin denn?«, fragte er und bemühte sich krampfhaft, seine Emotionen zu zügeln. Sowie ihm diese Frage über die Lippen gekommen war, wurde ihm bewusst, wie distanzlos sie geklungen hatte. »Tut mir leid.« Er hob entschuldigend die Hand. »Ich wollte nicht übergriffig sein. Du musst die Frage natürlich nicht beantworten.«
»Schon gut«, wiegelte Tracy ab und schenkte ihm ein weiteres Lächeln. »Wenn ich nicht wollte, dass du es erfährst, hätte ich es gar nicht erst erwähnt.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich habe eine Anfrage von Yale bekommen. Die Position, die sie mir angeboten haben, war zu gut, um sie abzulehnen.«
Im ersten Moment verspürte Hunter nichts als eine überwältigende Traurigkeit. Doch das Gefühl hielt nicht lange an.
»Das ist ja großartig, Tracy.« Er freute sich aufrichtig für sie. »Herzlichen Glückwunsch. Du hast es absolut verdient.«
Der Barista kam zurück an den Tresen, um Hunter seinen Kaffee hinzustellen. Er nahm den Becher entgegen und drehte sich ein letztes Mal zu Tracy um. Die beiden sahen einander in die Augen und schwiegen einen Moment lang. Diesmal hatte ihr Schweigen nichts Unbeholfenes oder Peinliches.
»Es war sehr schön, dich wiederzusehen, Tracy«, sagte Hunter und hoffte, dass seine Stimme nicht verriet, wie sehr ihn das Treffen aufgewühlt hatte.
»Geht mir auch so, Robert«, entgegnete sie, ohne zu zögern. »Wirklich. Ich meine das ganz ernst.«
Ein seltsames Ziehen regte sich tief in seinem Innern, aber er konnte es erfolgreich zurückdrängen, ehe es allzu stark wurde.
»Danke für den Tipp«, sagte er und hob seinen Kaffeebecher. »Und … pass gut auf dich auf, ja?«
»Mache ich.«
Du auch auf dich , wollte Tracy sagen, doch sie wusste besser als jeder andere, wie hohl diese Worte geklungen hätten. Also schenkte sie ihm einen letzten Blick und sagte das Einzige, was es zwischen ihnen noch zu sagen gab.
»Leb wohl, Robert. «
Hunter brachte es nicht über sich, ihr ebenfalls Lebewohl zu sagen. Nicht schon wieder. Stattdessen winkte er ihr vom Eingang her wortlos zu, ehe er mit bleischwerem Herzen zurück zu seinem Wagen ging.