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Hunters Abstecher zum Coffeeshop hatte etwas länger gedauert als geplant, weshalb zu dem Zeitpunkt, als er seinen Buick auf dem Parkplatz des PAB abstellte, die Wintersonne bereits über die Horizontlinie gestiegen war und nun wie eine Spinne langsam die Fassaden der Gebäude im Zentrum von L. A. hinaufkroch.
Im Büro angekommen, wunderte er sich nicht, dass Garcia bereits an seinem Schreibtisch saß. Auch Garcia war ein Frühaufsteher und meistens sogar noch vor Hunter im Büro.
»Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt«, teilte er Hunter mit, als dieser sich an seinem Schreibtisch niederließ und den Rechner einschaltete. »Müsste in ein paar Minuten durchgelaufen sein.« Er nickte beifällig. »Brazilian Supremo Bean Dark Roast. Viel edler geht es nicht.«
Garcia hatte seine Leidenschaft für Kaffee von seinem brasilianischen Vater, einem echten Aficionado, geerbt und nahm das Thema sehr, sehr ernst. Die Kaffeemaschine im Büro war seine eigene, ein modernes chromblitzendes Gerät, das mehr gekostet hatte, als er sich streng genommen leisten konnte. Doch in seinen Augen war die Maschine jeden Penny wert – eine Auffassung, die von Hunter geteilt wurde. Natürlich war eine Kaffeemaschine nur die halbe Miete, deshalb fuhr einer der beiden jede Woche in eins der vielen Spezialitätengeschäfte im Zentrum, um eine Packung mit einer besonderen Röstung zu kaufen.
Der Duft, der sich im Büro ausbreitete, ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch ausnahmsweise achtete Hunter kaum darauf.
»Er hat mich angerufen«, sagte er nur.
Das war nicht die Reaktion, mit der Garcia gerechnet hatte.
»Was?« Er kniff die Augen zusammen. »Wer hat dich angerufen? Brazilian Supremo Bean Dark Roast?«
Garcias Witz stieß auf taube Ohren. »Der Täter«, sagte Hunter. »Der Besitzer des Tagebuchs. Er hat mich gestern Abend angerufen, gleich nachdem ich Angela zum Safehouse gefahren hatte.«
Garcias Augenbrauen schnellten in die Höhe. Er hatte Hunters Worte zwar gehört, doch sein Gehirn hatte Mühe, ihren Sinn zu verstehen.
»Moment mal … Was?« Er schüttelte perplex den Kopf. »Ich meine … Woher wusste er denn, dass er dich anrufen muss? Und wie um alles in der Welt ist er an deine Telefonnummer gelangt?«
»Als er in der Wohnung war, muss er die Visitenkarte gefunden haben, die ich Angela gegeben hatte.«
»Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Und was hat er gesagt?«
Hunter griff nach seinem Smartphone. »Hier, du kannst es dir anhören.« Er schloss das Telefon an seinen Computer an, weil der über bessere Lautsprecher verfügte.
Während die Tonaufnahme lief, verwandelte sich Garcias anfängliches Erstaunen zunächst in Unglauben, dann in blanke Fassungslosigkeit.
»Habe ich das richtig verstanden?«, fragte er, nachdem die Aufzeichnung zu Ende war. »Dieser Drecksack hat dir ein Ultimatum gestellt?«
Hunter ließ sich gegen die Lehne seines Stuhls sinken. »Kann man so sagen.«
»Und die Deadline ist heute Nachmittag um siebzehn Uhr. «
»Die Deadline wofür – Kaffee?« Diese Frage kam von Captain Blake, die in der Tür zu ihrem Büro erschienen war und Garcias letzten Satz aufgeschnappt hatte.
Als die beiden hochschauten, bemerkte sie sofort ihre sorgenvollen Mienen. »Was ist los?« Von jetzt auf gleich war ihr scherzhafter Ton verschwunden.
»Kommen Sie rein und hören Sie selbst, Captain«, sagte Garcia und bat sie mit einer Geste herein.
Blake schloss die Tür hinter sich, trat an Hunters Schreibtisch und stellte ihre leere Tasse darauf ab.
»Was soll ich hören?«
»Das Telefonat zwischen Robert und dem Killer«, klärte Garcia sie auf.
»Wie bitte?« Blake legte die Stirn in Falten, während sie gleichzeitig die Augen aufriss.
Hunter spielte das Gespräch noch einmal ab. Am Ende war Blake genauso fassungslos wie Garcia – nicht nur angesichts der Dreistigkeit des Mannes, sondern auch wegen seiner eiskalten Ruhe. Er hatte seine Forderungen mit einer solchen Selbstverständlichkeit vorgebracht, als beeindrucke es ihn nicht im Geringsten, dass er mit einem Detective des Morddezernats sprach.
»An Selbstbewusstsein mangelt es dem Kerl nicht, das steht mal fest«, lautete ihr Kommentar, nachdem Hunter die Aufzeichnung angehalten hatte.
»Und er ist wesentlich sachkundiger, als wir ihm bisher zugetraut haben«, warf Hunter ein.
Captain Blake ging zur Kaffeemaschine und goss sich ihre Tasse voll. »Sachkundig in Bezug auf was, Robert?«
»Den Ablauf bei polizeilichen Ermittlungen. Ich habe den Eindruck, er weiß genau, wie wir arbeiten.«
Aus der Tasche ihres maßgeschneiderten schwarzen Blazers holte Captain Blake einen kleinen Spender mit Süßstoff hervor und gab eine winzige Tablette in ihren Kaffee. »Was veranlasst Sie zu dieser Vermutung? «
»Zum einen sein Anruf bei mir.« Hunter stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte. »Er hat mir gesagt, dass er mir weitere Instruktionen erteilen würde, sobald ich das Tagebuch habe. Als ich wissen wollte, weshalb er denkt, dass ich es nicht bei mir trage, war seine Antwort …«
»›Ich bin nicht dumm‹«, unterbrach Blake ihn. »Wir haben es alle gehört, Robert. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Darauf, dass man diese Erwiderung zwar grundsätzlich auf verschiedene Arten interpretieren kann, ich aber stark davon ausgehe, dass er wusste, dass ich sein Tagebuch – das Original, wohlgemerkt, nicht Fotos oder Scans oder Kopien davon – nicht bei mir habe – weder in meinem Auto noch in meiner Wohnung … und auch nicht hier im Büro.«
Captain Blake trank einen Schluck von ihrem Kaffee, ehe ihr Blick zu Garcia wanderte. Der schien genauso neugierig zu sein wie sie. Beide sahen Hunter erwartungsvoll an.
Der ließ sich nicht lange bitten. »Der Täter weiß, dass das LAPD, sobald es im Besitz seines Tagebuchs war, es als Erstes ins kriminaltechnische Labor weitergegeben hat. Lauter Seiten mit handgeschriebenem Text, dazu Polaroidfotos, Blutflecke und so weiter – das muss alles analysiert werden. Außerdem weiß er, dass es Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern kann, ehe sämtliche Analysen abgeschlossen sind. Deshalb hat er mir bis fünf Uhr heute Nachmittag gegeben, um es zurückzuholen. Er weiß, dass ich dafür Zeit brauche.«
Captain Blake ließ sich diese Theorie durch den Kopf gehen.
»Als der Killer Angela angerufen und sie nach dem Verbleib seines Tagebuchs gefragt hat«, fuhr Hunter fort, da er die nächste Frage bereits vorausgeahnt hatte, »hat sie ihm gesagt, sie hätte es ans LAPD geschickt. Vom kriminaltechnischen Labor oder davon, dass sie es bei Dr. Slater in den Briefkasten geworfen hat, war nie die Rede. Ich habe Angela gestern Abend ganz bewusst noch mal danach gefragt.«
Captain Blake nippte erneut an ihrem Kaffee. »Wenn es stimmt, was Sie vermuten, warum hat er sich dann bei Ihnen gemeldet? Warum hat er den Mittelsmann nicht einfach übersprungen und gleich im Labor angerufen?«
»Weil man ihn dort gar nicht durchgestellt hätte«, antwortete Hunter. »Wer ohne konkretes Aktenzeichen in der FSD anruft, kommt nicht weit. So intelligent er auch sein mag, er hätte die Person in der Zentrale niemals dazu gebracht, ihm den Namen des Ansprechpartners für den Fall zu verraten. Selbst wenn man ihm hätte helfen wollen , wäre das gar nicht möglich. Ein Beweismittel wie dieses Tagebuch durchläuft eine Unzahl von Tests und Analysen – Fingerabdrücke, DNA, Grafologie, Papieranalyse und so weiter. Ich habe Dr. Slater konkrete Anweisungen erteilt, dass immer das komplette Buch in die einzelnen Labore weitergegeben werden soll. Es wandert also durch viele Hände, es gibt nicht eine einzige Person, die dafür zuständig ist. Insofern wäre es reine Zeitverschwendung gewesen, in der FSD anzurufen. Ich bin mir sicher, dass er das wusste.«
Schweigen trat ein, während Captain Blake ihren Kaffee austrank.
»Wir haben das Buch also wirklich nicht?«, fragte sie schließlich.
»Nein«, sagte Garcia. »Es ist nach wie vor in der Kriminaltechnik. Uns liegen nur die eingescannten Fotos der einzelnen Seiten vor.«
Captain Blake nickte. »Und wie gehen wir jetzt mit seinem Ultimatum um?« Sie hob die Hand, um den anderen zu signalisieren, dass sie noch nicht fertig war. »Ich weiß, offiziell müssten wir uns überlegen, wie wir ihm eine Falle stellen können, und dann auf seinen nächsten Anruf warten – aber nach allem, was Sie mir gerade erzählt haben«, sie deutete in Hunters Richtung, »glaube ich nicht, dass uns das so einfach gelingen wird.«
Hunter zuckte in einer Geste der Ratlosigkeit die Achseln. »Wir könnten es versuchen, aber ich bezweifle, dass es funktionieren wird.« Er zeigte auf sein Handy, das auf dem Schreibtisch lag. »Sie haben ja selbst gemerkt, wie abgeklärt und souverän er klang.«
Blake nickte.
»Ich wette, das liegt daran, dass er bereits den perfekten Plan für die Übergabe ausgetüftelt hat«, meinte Garcia.
»Bestimmt«, pflichtete Hunter ihm bei. »Aber seine Selbstsicherheit geht noch weit darüber hinaus.«
»Wie meinen Sie das?« Captain Blake nahm Garcia die Worte aus dem Mund.
»Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich mir die Aufzeichnung angehört habe«, sagte Hunter. »Und der Eindruck, den er dabei auf mich gemacht hat – sein Tonfall, seine Stimme … Ich glaube, er versucht nicht bloß, selbstbewusst zu klingen, weil er mit dem LAPD telefoniert. Er klingt so selbstsicher, weil er wirklich keine Angst vor uns hat. Weder vor dem LAPD noch vor irgendeiner anderen Strafverfolgungsbehörde. Ich wette, er hätte auch mit jemandem vom FBI, der NSA oder dem ATF reden können, und das hätte keinen Unterschied gemacht. Er hätte so oder so keine Angst gehabt. Er hätte so oder so sein Ultimatum gestellt.«
Captain Blake fixierte Hunter einen Moment lang. Sie sah ein seltsames Funkeln in seinen Augen, das sie nur zu gut kannte. Im Kopf war er bereits dabei, ein Profil des Täters zu erstellen.
Sie beschloss, nachzuhaken. »Woran liegt das Ihrer Meinung nach?«
Endlich konnte Hunter dem köstlichen Duft des Kaffees nicht länger widerstehen. Er ging zur Maschine und schenkte sich eine große Tasse ein.
»Die Frage kann ich unmöglich beantworten, Captain. Dazu müsste ich ihn erst vernehmen.«
»Geschenkt. Sie können spekulieren.« Sie hob die Hand. »Ich weiß, das machen Sie nicht gern, aber bitte tun Sie mir den Gefallen, Robert. Ich versuche nur, mir ein Bild davon zu machen, womit wir es hier zu tun haben. Was macht diesen Kerl Ihrer Ansicht nach so selbstsicher … so angstfrei?«
Hunter hob die Kaffeetasse an die Lippen. »Okay. Aber wie gesagt: Alles, was jetzt kommt, ist reine Mutmaßung.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, sagte Captain Blake.
»Also«, begann Hunter. »Wir wissen, dass er Stimmen hört, was auf einen schizophrenen Psychopathen hindeutet. Wenn die Stimmen ihm befehlen, sich sein Tagebuch zurückzuholen, wird er alles tun, um diesem Befehl zu gehorchen, auch wenn das bedeutet, dass er dafür seine eigene Sicherheit aufs Spiel setzt. Furcht, Schmerzen, Erschöpfung, Gefahr, selbst seine psychopathische, narzisstische Selbstliebe … all das tritt in den Hintergrund, weil die Stimmen und ihre Wünsche absolute Priorität haben. Für ihn ist es das Allerwichtigste, sie zufriedenzustellen. Er will sie um keinen Preis gegen sich aufbringen.«
Obwohl die anderen Hunters Ausführungen mühelos folgen konnten, beschlich Captain Blake das Gefühl, dass er ihnen etwas verschwieg.
»In Ordnung«, sagte sie. »Aber das ist nicht Ihre eigentliche Theorie, stimmt’s? Da gibt es noch mehr. Etwas, das Sie beunruhigt.«
Hunter schwieg.
»Raus mit der Sprache, Robert.«
»Es ist weniger eine Theorie als ein Bauchgefühl, Captain«, sagte Hunter und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. »Und dieses Bauchgefühl kann ich nur verifizieren, indem ich mir sämtliches Material, das Dr. Slater uns geschickt hat, noch einmal ganz genau ansehe. Wenn Sie mir also noch ein bisschen Zeit geben … kann ich Ihnen bald vielleicht mehr dazu sagen.«
»Nein.« Blake schüttelte energisch den Kopf. »Ich weiß genau, dass man Ihre Bauchgefühle nicht ignorieren darf. Jedes Mal, wenn Sie eins dieser Bauchgefühle haben, passiert hinterher was Schlimmes. Sagen Sie es uns hier und jetzt.«
»Da hat Captain Blake nicht ganz unrecht«, meinte Garcia, ehe auch er zurück zu seinem Computer ging und das erste der Bilder aus Dr. Slaters Zip-File öffnete. »Spuck’s schon aus.«
Hunter kam sich vor wie ein Kind, das seinen Eltern beizubringen versuchte, dass es ein Einhorn im Garten gesehen hatte.
»Vielleicht hat diese Souveränität, die aus seinem Handeln spricht, damit zu tun, dass er es gewohnt ist, sehr viel furchteinflößenderen Feinden gegenüberzustehen als dem LAPD. Und vielleicht versteht er das polizeiliche Vorgehen deshalb so gut, weil er selbst schon einmal Teil davon war.«
»Moment«, unterbrach Blake ihn. »Sie glauben, er ist ein Cop?«
»Nein«, entgegnete Hunter mit einem leichten Kopfschütteln. »Kein normaler Cop. Nicht so wie wir. Jemand, der eine wesentlich härtere Ausbildung durchlaufen hat.«