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Nahe dem Zentrum von Los Angeles, zwischen dem San Fernando Valley und Beverly Hills, lag der Franklin Canyon Park: knapp zweihundertfünfzig Hektar Busch- und Grasland, ein Eichenwald, ein großer See, ein Ententeich, weitläufige Rastplätze und mehr als fünf Meilen Wanderwege. See und Teich boten zahlreichen Zugvögeln Unterschlupf, weil sie auf dem Pacific Flyway lagen, der wichtigsten Migrationsroute für Vögel auf dem amerikanischen Kontinent, die von Alaska bis hinunter nach Patagonien reichte.
In der Nähe eines abgeschiedenen kleinen Wäldchens auf der Nordwestseite des Sees hatte der Mann seinen
Lieblingsplatz. Es zog ihn oft hierher. Weitab von den anderen Parkbesuchern saß er da, blickte stundenlang aufs Wasser, beobachtete die Vögel und hing seinen Gedanken nach.
Trotz der relativ zentralen Lage des Parks in einer Stadt mit über vier Millionen Einwohnern herrschte eine friedliche, beinahe magische Atmosphäre. Sobald man das Tor durchschritten hatte, ließ man Los Angeles mit all seiner Geschäftigkeit und seinem Lärm hinter sich. Es war, als wäre man unversehens in eine andere Welt versetzt worden … oder sogar auf einen anderen Planeten. Das war der Grund, weshalb der Mann den Franklin Canyon Park von allen Parks in Los Angeles am liebsten mochte. Im Durchschnitt kam er zwei- bis dreimal die Woche hierher. Die herrliche Ruhe, verbunden mit der Schönheit der Natur und der vielfältigen Vogelwelt schenkte ihm ein Gefühl inneren Friedens – sofern er zu solchen Gefühlen überhaupt noch in der Lage war.
Offiziell öffnete der Park seine Pforten erst um sieben Uhr, aber für jemanden mit seinen Fähigkeiten war es ein Kinderspiel, den Zaun zu überwinden. Und vor Sonnenaufgang war es im Park am schönsten.
Als die ersten Strahlen die Bäume küssten und das Wasser trafen, entstand eine hypnotisch glitzernde Wellenbewegung, als würde das Licht verborgene Diamanten am Grund des Sees zum Funkeln bringen.
Der Mann aß den letzten Bissen von seinem Pastrami-Sandwich und trank einen Schluck Kaffee. Die Sonne war zwar noch schwach, aber angenehm warm auf seiner Haut. Aus der Ferne hörte er, wie ein Specht mit seinem Tagewerk begann. In den Tiefen des Wäldchens begrüßten mehrere Vögel mit ihrem Gesang den neuen Tag.
Der Mann saß mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um die Beine. Als er nach oben in den Himmel blickte, hatte er das Glück, einen Eisvogel zu sehen, der hoch über seinem Kopf kreiste und im flachen Uferwasser
des Sees nach Fischen Ausschau hielt. Nachdem er seine Beute ins Visier genommen hatte, stieß der Vogel blitzschnell und mit höchster Präzision hinab. Wie ein Pfeil tauchte er ins Wasser, sodass eine glitzernde Fontäne aufspritzte, und kam Sekunden später mit einem Fisch im Schnabel wieder hoch. Der Fisch zappelte, kämpfte verzweifelt um sein Leben und versuchte alles, um dem Vogel zu entkommen, doch seine Mühen waren vergeblich. Wenn der Eisvogel seine Beute erst einmal gepackt hatte, gab es für diese kein Entrinnen mehr.
Der Mann sah zu, wie der Vogel sich ein Stück entfernt auf den Ast eines Baumes zurückzog, und lachte freudlos, weil er daran denken musste, wie ähnlich er und der kleine Meisterfischer sich waren.
Genau wie der Eisvogel ließ auch er nicht locker, sobald er seine Beute ins Auge gefasst hatte. Und die Gemeinsamkeiten reichten noch weiter. Obwohl Eisvögel wunderschöne Tiere waren, mit ihren langen, spitzen Schnäbeln, den großen Köpfen und Augen, ihrem farbenprächtigen Federkleid, den kleinen grazilen Beinen und kurzen Schwänzen, galten sie unter Ornithologen als besonders gnadenlose Jäger.
Es war die brutale Weise, auf die der Eisvogel seine Beute tötete, die ihm seinen Ruf als grausamer Killer eingebracht hatte. Sobald er sich auf seinen Ansitz zurückgezogen hatte, wartete er nicht, bis der Fisch von selbst verendete, sondern schlug ihn mit dem Schnabel mehrmals heftig gegen einen Ast. Wieder und wieder … bis er tot war. Auf den Menschen übertragen, war das so, als würde man jemanden mit dem Kopf gegen eine Betonwand schlagen, bis die Schädeldecke zertrümmert war und das Gehirn sich in Matsch verwandelt hatte.
Das Leben entbehrt wirklich nicht einer gewissen Poesie
, dachte der Mann.
Er goss sich eine zweite Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein und sah auf die Uhr. Nicht mal mehr zehn Stunden bis zu seinem Anruf bei Detective Hunter
.
Obwohl er ihm die Chance dazu gegeben hatte, rechnete er nicht wirklich damit, dass der Detective sich seinen Forderungen beugen würde. Wenigstens nicht auf Anhieb. Aus diesem Grund hatte er sich bereits einen Plan zurechtgelegt.
Er würde sein Tagebuch zurückerlangen, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Und wenn er den Detective im Zuge dessen töten musste, tja …
Diesmal brauchte er keine Stimmen, die ihm sagten, was er zu tun hatte.