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Fünfzehn Minuten nachdem der Franklin Canyon Park seine Tore für die Allgemeinheit geöffnet hatte, brach der Mann auf. Obwohl sein Lieblingsplatz ruhig und abgeschieden war, wusste er, dass schon bald Fährtenleser, Jogger, Radfahrer und Hundebesitzer kommen und mit ihrer geschmacklosen grellbunten Freizeitkleidung die natürliche Schönheit des Ortes stören würden. Ganz zu schweigen von dem Lärm, den sie mitbrachten und der einen Großteil der Wildtiere verscheuchte. So war es bei jedem Wetter.
Aber die Ruhe hatte ihm zu geistiger Klarheit verholfen, und er war bereit für das, was kommen würde.
Die Fahrt nach Santa Clara, wo der Mann in einem am Rande eines kleinen Waldstücks gelegenen leer stehenden Gebäude hauste, dessen Keller er zu einer wahrhaften Kammer des Schreckens ausgebaut hatte, dauerte knapp eine Stunde.
Er stieg die ausgetretene Betontreppe hinunter. Sein Schatten, den die einsame Leuchtröhre am oberen Ende der Treppe an die gemauerten Wände warf, tanzte bei jedem
Schritt gespenstisch vor ihm her. Der Geruch, der ihn empfing, war eine seltsame Mischung aus Mehltau, saurer Milch und Desinfektionsmitteln, denn der Mann putzte die Stufen jede Woche mit beinahe religiöser Gründlichkeit.
Nach einer Weile machte die Treppe einen Knick nach rechts. Dorthin drang das schwache Licht der Leuchtröhre kaum noch vor. Am Fuß der Stufen angekommen, gelangte der Mann zu einer großen Stahltür. Statt eines Schlüssellochs besaß sie einen ausgeklügelten elektronischen Schließmechanismus, der sich nur mittels einer sechsstelligen Ziffernfolge oder eines Daumenabdrucks öffnen ließ. Der Mann hielt seinen rechten Daumen auf den Scanner, und die Tür ging mit einem lauten Summen auf. Er betrat einen quadratischen Raum, der bis auf eine flache Werkbank an der Wand leer war. An der Decke entlang verliefen zahlreiche unterschiedlich dicke Rohre kreuz und quer in alle Richtungen. Die Wände bestanden aus massiven Betonziegeln. Der Mann betätigte den Lichtschalter zu seiner Rechten, und zwischen zwei Rohren erwachte eine weitere Leuchtröhre zum Leben. Sie flackerte mehrmals, ehe sie den Raum in ihr stumpfes orangefarbenes Licht tauchte.
Direkt gegenüber befand sich eine weitere Stahltür, noch dicker als die erste. Auch sie verfügte über ein elektronisches Schloss. Diesmal legte der Mann seinen linken Daumen auf den Scanner, woraufhin sich die Tür öffnete. Der Raum dahinter war ein wenig kleiner als der erste. Er enthielt ein Kontrollpult, zwei Stühle sowie einen großen Monitor an der Wand über dem Pult. Rechts davon stand ein großes Metallregal voll mit Elektronik und Computerbauteilen, daneben ein Schrank, den er stets verschlossen hielt. Links vom Pult befand sich eine weitere Tür. Sie war so perfekt in ihren Rahmen eingepasst, dass man nicht einmal ihre Angeln sehen konnte.
Auch hier machte der Mann Licht. Acht Halogenbirnen an der Decke leuchteten auf, und es wurde taghell
.
Acht Schritte führten ihn zum Kontrollpult, wo er auf einen Knopf drückte, um den Monitor einzuschalten. Darauf erschienen vier verschiedene Bilder, zwei oben und zwei unten, von denen jedes exakt ein Viertel der Fläche einnahm.
Die Tür links vom Kontrollpult führte in einen langen und dunklen L-förmigen Gang. Von diesem Gang gingen insgesamt fünf Räume ab. Vier davon waren Zellen, die er selbst gebaut hatte – absolut ausbruchssicher. Jede dieser Zellen verfügte über eine kleine Kamera, die in der Mitte der Decke in einem schützenden Drahtkäfig angebracht war und jederzeit in den Infrarotmodus umgeschaltet werden konnte, sodass sie auch im Dunkeln gute Bilder lieferte. Die Aufnahmen wurden in Echtzeit auf den Monitor übertragen. Im Augenblick war lediglich eine der vier Zellen unbenutzt.
Der Mann machte es sich auf seinem Bürosessel bequem und betrachtete einen Moment lang den Bildschirm.
»Na, wie geht es euch heute?«, murmelte er, während sein Blick von einem Bild zum nächsten sprang. »Schauen wir uns das doch mal ein wenig genauer an.«
Der Mann gab einen Befehl in eine Tastatur ein, woraufhin der viergeteilte Bildschirm verschwand und stattdessen ein einzelnes Bild erschien, an dessen oberem Rand in kleinen weißen Buchstaben »Zelle 1« zu lesen war. Mit einem weiteren Befehl wechselte er zu »Zelle 2« und schließlich zu »Zelle 3«. Mehrere Minuten verbrachte er damit, zwischen den Aufnahmen der einzelnen Zellen hin und her zu springen und die drei Insassen zu beobachten. Die Frau in der ersten Zelle saß mit dem Rücken zur hinteren Wand, die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen, den Kopf gesenkt. Auch ohne das Mikrofon in ihrer Zelle zu aktivieren, wusste der Mann, dass sie weinte. Er sah das leichte Beben ihres Kopfes und ihrer Schultern.
Er wechselte zur Kamera in Zelle zwei. Der Mann dort saß im Schneidersitz auf seiner Pritsche und hatte die Hä
nde wie zum Gebet gefaltet. Es war unmöglich zu erkennen, ob er wirklich betete, aber das spielte auch keine Rolle. Gebete änderten nichts. Sie änderten nie etwas.
Die Frau in der dritten Zelle schien zu schlafen. Sie hatte sich mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett zusammengerollt.
Wieder wechselte der Mann zwischen den Kameras. Er musste eine Entscheidung treffen: Welcher der drei würde an diesem Tag sterben?
Er lachte leise.
»Das Leben ist unberechenbar, nicht wahr?«, sagte er, als unterhielte er sich mit seinen Gefangenen. »Ich wette, keiner von euch hat sich träumen lassen, dass sein Schicksal mal von einem Abzählreim abhängt.«
Der Mann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und begann mit Singsangstimme leise vor sich hin zu murmeln.
»Eene, meene muh …«