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Diesmal schloss Captain Blake sich ihnen an. Während der kurzen Fahrt berichtete Garcia ihr, was sie im Tagebuch gelesen hatten, setzte ihr die Bedeutung der Abkürzung BFOA
auseinander und erläuterte, dass sie nach Hunters Telefonat mit Mr Wilson relativ sicher waren, dass der Killer früher in der Armee gedient
hatte.
»Du liebe Zeit«, sagte Blake. »Das macht das Ganze ja nicht gerade einfacher.«
»Mein Reden«, pflichtete Garcia ihr bei.
Im Piper Tech angekommen, mussten sie erneut den Sicherheitscheck über sich ergehen lassen.
»Wir waren vor nicht mal einer halben Stunde hier«, argumentierte Garcia hörbar genervt. »Sie erinnern sich doch wohl noch an uns, oder nicht?«
»Ja, das tue ich«, sagte die Frau am Empfang, während sie den Hörer ihres Telefons auflegte. Sie war korpulent, mit Armen so dick wie Garcias Hals, und schaute sie hinter runden Brillengläsern leicht drohend an. »Aber ich habe meine Anweisungen. Keine Ausnahmen.« Sie klang ruhig, aber entschieden. »Sie als Detectives verstehen doch sicher, wie wichtig es ist, die Dienstvorschriften zu beachten, oder? Ich kann meinen Job verlieren, wenn ich mich nicht ranhalte.«
Captain Blake war drauf und dran, ihre Autorität spielen zu lassen, doch schon im nächsten Moment kam Vince Keller aus dem Fahrstuhl geeilt, um sie abzuholen. Rasch machte Hunter ihn mit Captain Blake bekannt, ehe sie gemeinsam losgingen.
Diesmal nahmen sie die Treppe.
»Also, was gibt es denn nun?«, fragte Garcia, als sie den ersten Treppenabsatz hinter sich gebracht hatten.
»Es ist einfacher, wenn ich es euch zeige, statt es zu erklären«, sagte Keller, der zwei Stufen auf einmal nahm.
Im zweiten Stock angekommen, führte er sie durch denselben Flur, durch den sie schon beim ersten Mal gekommen waren, vorbei an dem kleinen Raum, in dem sie ihre Besprechung abgehalten hatten, und direkt in Labor Nummer zwei.
Schon beim Eintreten sahen Hunter und Garcia das Buch weiter hinten auf der Werkbank liegen. Es war aufgeschlagen, sodass man die mit Leder kaschierte Innenseite des Buchdeckels sowie die erste Seite sehen konnte.
»Ich habe ja vorhin schon erklärt«, begann Keller, als
sich alle um die Werkbank geschart hatten, »dass ich den Kleber mit Hilfe von Dampf ablösen wollte, damit ich nachschauen kann, wie schwer es ist, einen Peilsender in der Pappe des Einbands zu verstecken. Das lief so weit auch problemlos. Nach zwanzig Minuten war ich fertig.«
»Okay, und …?«, hakte Garcia nach.
Keller schwieg zunächst und legte den Kopf schief. »Na ja, ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich unter dem Leder noch irgendwas befindet. Aber schaut selbst.« Er hob den Lederspiegel an, sodass man die frei liegende Pappe darunter sehen konnte.
Hunter und Garcia schauten verdutzt.
»Was ist das denn?« Garcia reckte den Hals.
Auf der Innenseite der Pappe, bisher unter dem ledernen Spiegel verborgen, standen vier Zeilen Text, eine seltsame, unverständliche Mischung aus Zahlen und Buchstaben. Die Handschrift war die gleiche wie im Rest des Tagebuchs.
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DOPS1207102375
122001FOBRhino
15052004MNF-I
»Was soll das sein?«, fragte Garcia noch einmal.
»Das ist die Preisfrage«, gab Keller zurück und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand.
»Das sind keine Koordinaten, oder?«, wandte sich Captain Blake an Hunter, der entschieden den Kopf schüttelte.
»Koordinaten?«, fragte Keller verständnislos.
»Da gab es was im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen«, sagte Hunter, der nicht weiter ins Detail gehen wollte.
»Und was glauben Sie, was es ist?«, bohrte Captain Blake nach. Jetzt war die Frage an alle gerichtet.
Garcia war der Erste, der ratlos den
Kopf schüttelte.
Blake fixierte Hunter mit ihrem berüchtigten Laserblick.
»Wenn ich raten müsste«, begann der mit unsicherer Miene, »würde ich sagen, dass es irgendein Code ist. Aber das spielt nur eine untergeordnete Rolle …« Er stach mit dem Finger auf die Werkbank ein, um das, was er sagte, zu unterstreichen. »Das
ist der Grund, weshalb der Täter sein Buch unbedingt wiederhaben will. Darum geht es ihm in Wahrheit. Was auch immer es ist – Geheimcodes, Passwörter oder was weiß ich … Er braucht diese Informationen für irgendetwas.«
Während die anderen ihre Aufmerksamkeit abermals auf die vier mysteriösen Zeilen richteten, zückte Hunter sein Telefon und machte ein Foto davon.
»Wartet mal«, sagte Keller und hob den Zeigefinger. »Was dagegen, wenn ich was versuche?«
»Was denn?«, fragte Blake.
»Die oberste Zeile sieht irgendwie anders aus.«
Wieder betrachteten alle den kryptischen Text.
»Es werden ausschließlich Kleinbuchstaben verwendet«, fuhr Keller fort. »Und es ist die einzige der vier Zeilen, in der sich Buchstaben und Ziffern abwechseln.« Rasch nahm er sich einen Notizblock und schrieb die erste Zeile ab.
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Captain Blake. »Aber was wollen Sie versuchen?«
»Na ja«, sagte Keller, ehe er die anderen bat, ihm zu folgen. »Es ist nur so eine Idee …«
Er führte die Gruppe zurück auf den Gang und von dort aus in den kleinen Raum mit dem Computer.
»So was Ähnliches habe ich schon mal gesehen«, sagte er, nahm hinter dem Schreibtisch Aufstellung und betätigte die Space-Taste des Rechners, um ihn aus dem Ruhezustand zu wecken.
»Wo?« Die Frage kam von Hunter.
»Im Internet«, antwortete Keller, während er auf ein Programm wartete, das gerade lud. »Die Zeile hier …« Er
legte den Notizblock auf den Tisch. »… könnte eine Webadresse sein. Es fehlt nur das Suffix.«
»Eine Webadresse?«, wiederholte Garcia und sah verständnislos zwischen Keller, Hunter und Blake hin und her. »Müsste sie dann nicht ein paar Punkte haben oder so?«
»Nein«, sagte Keller. »Weil es keine normale Website ist. Also … keine Adresse im normalen Internet.«
»Sondern im Dark Web«, sagte Hunter, als das Fenster eines Tor-Browsers auf Kellers Monitor erschien.
»Richtig.«
Keller drehte sich um und richtete sich an Captain Blake. »Genau das will ich ausprobieren. Ich muss nur diese Textzeile kopieren und hinten ein .onion dranhängen. Das ist das Suffix im Darknet – statt .com, .org und so weiter.«
Keller gab die Kombination ein. Dann fügte er das Suffix hinzu und betätigte die Enter-Taste.
Es dauerte deutlich länger als bei einem normalen Browser, bis eine Website erschien, aber irgendwann war es schließlich so weit.
»Bingo«, sagte Keller lächelnd. »Es ist tatsächlich eine Seite im Darknet.«
Kaum dass die Seite geladen hatte, erschien ein Pop-up-Fenster, und sie wurden gebeten, ein Log-in-Passwort einzugeben.
Sie tauschten ratlose Blicke.
»Kann ich das Foto mal sehen, das du gemacht hast?«, wandte Keller sich an Hunter. »Vielleicht ist eine der anderen Zeilen das Passwort.«
Hunter zog sein Smartphone aus der Tasche und zeigte Keller das Foto. »Wäre möglich. Aber das Passwort wofür?«
»Keine Ahnung«, sagte Keller mit einem flüchtigen Achselzucken. »Eine Datenbank … ein privates Forum … wer weiß?«
»Finden wir es raus«, sagte
Blake.
»Soll ich es wirklich ausprobieren?«, fragte Keller, an Hunter gewandt.
Der musste nicht lange überlegen. »Klar.«
Keller tippte die zweite der vier Zeilen in das Textfeld für das Passwort ein.
DOPS1207102375.
Kaum hatte er auf Enter gedrückt, erschien oberhalb des Pop-up-Fensters das kleine Eieruhr-Icon, das anzeigte, dass geladen wurde. Eine Sekunde später kam die Nachricht »Log-in erfolgreich«.
»Wir sind drin«, verkündete Keller und klang selbst ein bisschen überrascht angesichts ihres unverhofften Erfolgs.
Das Pop-up-Fenster verschwand, und dahinter kam die Website zum Vorschein.
Die vier rätselten, was genau sie da vor sich hatten.
»Was soll das sein?«, fragte Captain Blake stellvertretend für alle.
»Ich weiß auch nicht genau«, sagte Hunter. Er grübelte noch einige Sekunden lang. Erst als etwas Neues links am Bildschirm auftauchte, dämmerte es ihm.
»Das darf doch nicht wahr sein«, entfuhr es ihm.
Gleich darauf erschien noch etwas anderes am Bildschirm.
Garcia ließ die Arme sinken und spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte.
»Ach du Scheiße …«