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Kaum dass der Werwolf aufgelegt hatte, hängten sich Shaffer und Silva an ihre Funkgeräte und instruierten ihre Teams, sich sofort in die Nähe des Downtown Independent Theaters zu begeben.
»Robert«, sagte Captain Blake. »Sie haben fünf Minuten, worauf warten Sie noch? Gehen Sie. Na los!«
Hunter prüfte noch ein letztes Mal seine Armbanduhr, dann wirbelte er herum und griff nach dem Tagebuch. In diesem Moment klingelte das Telefon erneut. Alle blieben wie angewurzelt stehen.
»Was ist das denn jetzt noch?«, fragte Garcia.
Hunter schaute auf das Display. Ein weiterer Videoanruf.
Er nahm ihn an.
Als das Bild erschien, sah er wieder den Werwolf.
»Eins noch, Detective Hunter. Ich möchte Ihnen was zeigen.«
»Was denn?«
»Schauen Sie einfach auf den Bildschirm.«
Hunter gehorchte. Sekunden später schwenkte die Kamera langsam nach rechts. Hunter verfolgte das Geschehen dermaßen gebannt, dass die anderen ihn stirnrunzelnd beäugten.
»Was ist da los?«, flüsterte Garcia.
Hunter winkte die anderen mit einer Bewegung seines Zeigefingers näher heran.
Sie versammelten sich hinter ihm, und ihr verständnisloses Stirnrunzeln schlug in Entsetzen um.
»Was zur Hölle hat er vor?«, murmelte Agent Shaffer halblaut.
Sie sahen einen jungen Mann von Anfang zwanzig. Vermutlich hätte er attraktiv ausgesehen, wäre
sein erbarmungswürdiger Zustand nicht gewesen. Seine mittellangen schwarzen Haare waren schmutzig und ungekämmt. Der schweißnasse Pony klebte ihm an der Stirn, einige Strähnen waren ihm ins linke Auge gefallen. Seine dunklen Augen waren gerötet, und die dicken Tränensäcke darunter verrieten, dass er entweder tagelang nicht geschlafen oder aber viel geweint hatte – oder beides. Die Bartstoppeln auf seinen Wangen deuteten darauf hin, dass er sich mindestens drei Tage nicht mehr rasiert hatte. Seine Lippen waren spröde und aufgesprungen.
»Wer ist das?«, raunte Captain Blake Hunter ins Ohr.
Der zuckte lediglich mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
Die Kamera zoomte weiter weg, und man sah, dass der junge Mann auf einem stabilen Metallstuhl saß. Seine Arme waren hinter seinem Rücken an die Stuhllehne gefesselt, die nackten Füße an den Stuhlbeinen fixiert. Das weiße T-Shirt, das er trug, war genauso schmutzig und verschwitzt wie seine Haare.
»Kopf hoch«, befahl der Werwolf dem jungen Mann. »Schau in die Kamera.«
Langsam hob der Mann den Kopf.
Der Werwolf zoomte näher an das Gesicht des Mannes heran, bis man die Todesangst in seinen Augen sehen konnte.
»Nicht so schüchtern«, sagte der Werwolf. »Stell dich dem Detective vor.«
Dem jungen Mann schossen Tränen in die Augen, doch Hunter sah, dass bei dem Wort »Detective« auch ein Funken Hoffnung darin aufglomm.
»Bitte, helfen Sie mir«, flehte er mit tränenerstickter, kaum hörbarer Stimme.
»Bleiben Sie ruhig«, sagte Hunter fest. »Wir holen Sie da raus, vertrauen Sie mir.«
»›Bitte, helfen Sie mir‹ ist nicht dein Name, oder?«, sagte der Werwolf
.
Der verängstigte Blick des Mannes zuckte kurz umher, ehe er wieder in die Kamera schaute.
»Sag ihm deinen Namen«, befahl der Werwolf barsch.
»Ich heiße Clay …«, stieß der junge Mann unter Tränen hervor. »Clay Heath.«
Sofort notierte Garcia sich den Namen.
»Und jetzt sag ihnen, wo du wohnst«, befahl der Werwolf. »Wie lautet deine Adresse?«
»Ich … ich wohne noch bei meinen Eltern in …« Clay hielt kurz inne, als hätte er seinen eigenen Wohnort vergessen. »Apartment fünfzehn, 2098 Butler Avenue, West L. A.«
Garcia schrieb sich alles auf.
»Jetzt sag ihnen, was du machst.«
»Was ich mache?«, fragte Clay verwirrt.
»Ja«, sagte der Werwolf. »Was machst du beruflich?«
Clay schüttelte den Kopf und sah seinen Peiniger verständnislos an. »Ich habe keinen Beruf. Ich bin noch … Ich studiere an der UCLA.«
»Sag es der Kamera, nicht mir.«
Clay schaute in die Kamera und wiederholte, was er gerade gesagt hatte.
»Clay«, sagte Hunter. »Versuchen Sie, ruhig …«
»Halten Sie die Schnauze, Detective«, schnitt ihm der Werwolf das Wort ab. »Das hier ist keine Unterhaltung. Es ist eine Lektion.«
»Eine Lektion?«, fragte Hunter.
Das Stirnrunzeln der anderen vertiefte sich.
»Ja. Passen Sie gut auf.« Der Werwolf richtete das Wort wieder an Clay. »Sag ihnen, was du studierst.«
»Ähh …« Auch diesmal hatte Clay Mühe mit der Antwort. »Mein Hauptfach ist …« Er brauchte eine Weile, bis es ihm wieder einfiel. »Chemie.« Inzwischen konnte er kaum noch sprechen. »Helfen Sie mir … bitte … Hilfe …«
Die Aufnahme wackelte einen Moment lang, dann war ein Klicken zu hören, und das Bild stabilisierte sich
wieder. Der Werwolf hatte das Handy in einer Halterung oder auf einem Stativ befestigt.
Auf Hunters kleinem Display sahen sie, wie Clay den Kopf hob und ihn langsam nach links bewegte. Er schien dem Werwolf zu folgen, als dieser hinter dem Handy hervortrat.
Blitzschnell drehte Hunter sich weg, damit er die anderen im Büro nicht sah.
Gerade noch rechtzeitig. Im nächsten Moment tauchte der Werwolf hinter Clays Stuhl auf. Da die Kamera auf dessen Gesicht ausgerichtet war, konnte man vom Werwolf nur einen Teil des Oberkörpers sehen. Wer auch immer er war, er wirkte gut durchtrainiert.
»In Ordnung«, sagte der Werwolf. »Zurück zu unserer Lektion, ja?« Drei Sekunden verstrichen. »Bestimmt haben Sie die Regeln verstanden, die ich Ihnen vorhin erklärt habe. Und bestimmt ist Ihnen auch klar, welche Konsequenzen es hat, sollten Sie sie brechen oder eine der Aufgaben nicht in der vorgegebenen Zeit lösen.«
»Ja, ich habe alles verstanden«, sagte Hunter mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
»Also, die Lektion ist folgende … Versuchen Sie nicht, mich reinzulegen, Detective. Wenn Sie es doch tun, passiert der diebischen Schlampe dies.«
Die behandschuhte linke Hand des Werwolfs packte Clay an den Haaren, riss seinen Kopf nach hinten und entblößte seinen nackten Hals. Einen Sekundenbruchteil später tauchte auch seine rechte Hand im Bild auf. Sie hielt ein großes Jagdmesser. Die scharfe, blinkende Klinge fuhr so schnell über Clays Kehle, dass Hunter im ersten Moment gar nicht begriff, was geschah.
»Nein!«, rief er, doch es war bereits zu spät. Das Messer glitt durch Haut wie durch Butter. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte sie Clays Gurgel von links nach rechts aufgeschlitzt. Blut sprudelte aus der klaffenden Wunde hervor und lief dem
jungen Mann über die Brust.
Hunter sah, wie sich Clays Augen vor Überraschung und Entsetzen in ihren Höhlen verdrehten. Gleich darauf erlosch jeder Funke Hoffnung darin.
Niemand würde kommen.
Niemand würde ihn retten.
Das wusste er jetzt.
Sein Mund öffnete sich, und sein Körper begann instinktiv ums Überleben zu kämpfen. Er rang keuchend nach Luft und stieß einen gurgelnden Schrei aus, der den im Büro Anwesenden eine Gänsehaut über den Körper jagte. Doch all sein Kämpfen, all seine Verzweiflung waren vergeblich. Es gelangte kein Sauerstoff mehr in seine Lungen, weil seine Luftröhre durchtrennt worden war.
Der Werwolf hielt Clays Kopf fest, sodass die offene Wunde an der Kehle des jungen Mannes auf obszöne Weise aufklaffte. Das Blut ergoss sich wie ein träger roter Wasserfall über seine Brust.
Clay blinzelte langsam – einmal … zweimal … dreimal … dann wurde er still.
Sein Körper gab den Kampf auf.
Sein Röcheln verstummte.
Das Leben des jungen Mannes war erloschen.
»Du verdammtes Dreckschwein!«, rief Agent Silva. In diesem Moment war es ihm scheißegal, ob der Werwolf seine Anwesenheit bemerkte.
Doch den Werwolf schien es nicht zu interessieren, ob außer Hunter noch andere mitgehört hatten.
»Lektion beendet«, sagte er eisig und ließ Clays Kopf los. Sein lebloser Körper sackte nach vorn. Noch immer lief das Blut aus der Wunde. Es bedeckte ihn wie ein scharlachrotes Grabtuch.
»Sie haben … noch zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden, um die erste Aufgabe zu erfüllen«, sagte der Werwolf. »An Ihrer Stelle würde ich mich sputen.«
Im nächsten Moment hatte er aufgelegt.