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Das Westin Bonaventure Hotel and Suites war das größte Hotel in Los Angeles – fünfunddreißig Stockwerke hoch, mit insgesamt tausenddreihundertachtundfünfzig Zimmern und einhundertfünfunddreißig Suiten. Darüber hinaus verfügte es über mehrere erstklassige Restaurants, ein luxuriöses Spa, verschiedene Pools sowie ein sich drehendes Restaurant mit Bar auf der obersten Etage, das den
Gästen eine spektakuläre Aussicht über die Stadt der Engel bot.
»Zwölf Minuten für fünfeinhalb Blocks? Zu Fuß?« Diesmal war es Garcia, der sich über Funk meldete. Offenbar saß er mit Agent Shaffer im Auto. »Und dann noch vierunddreißig Stockwerke rauf? Das ist doch Wahnsinn.«
»Ich kann es nicht ändern«, gab Hunter zurück, der sich bereits auf den Weg gemacht hatte.
»Wenn du die Markthalle durch den Hinterausgang verlässt«, sagte Garcia, »kommst du in der South Hill Street raus. Dann musst du rechts abbiegen, nicht links. Nimm die West Third Street, dann sind es vier Blocks geradeaus bis zur South Flower Street. Da musst du noch mal einen Block nach links, und dann stehst du vor der Rückseite des Hotels. Der hintere Eingang liegt zwei Ebenen unter der Lobby in der South Figueroa Street, aber der Weg ist trotzdem deutlich kürzer.«
»Gute Idee«, sagte Hunter und rannte durch den Notausgang der Markthalle ins Freie. So musste er sich auch nicht ein zweites Mal durch die Menschenmassen quälen.
Ihm blieben noch elf Minuten und einundvierzig Sekunden.
Genau wie Garcia ihn angewiesen hatte, bog er zunächst nach rechts in die South Hill Street ein und legte den halben Block bis zur West Third Street in siebzehn Sekunden zurück.
Noch elf Minuten und vierundzwanzig Sekunden.
An der West Third Street angekommen, waren es vier Blocks bis zur South Flower Street.
Die Straßen zwischen den einzelnen Blocks zu überqueren kostete ihn Zeit, doch es war weniger schlimm, als er befürchtet hatte. Insgesamt verlor er etwa dreiundzwanzig Sekunden. Dafür machte sich mittlerweile ein neues Problem bemerkbar: seine Stiefel. Er trug Cowboystiefel aus Kunstleder mit vier Zentimeter hohen Absätzen, die definitiv nicht fürs
Laufen gemacht waren.
Bereits am Grand Central Market hatten ihm die Füße wehgetan, und nachdem er die ersten zwei Blocks in der West Third Street zurückgelegt hatte, schrien sie fast vor Schmerzen. Er merkte, wie er unwillkürlich immer langsamer wurde.
»Ich hätte daran denken sollen, mir andere Schuhe anzuziehen«, keuchte er.
Als er endlich die vier Blocks hinter sich gebracht hatte und an der Ecke zwischen West Third Street und South Flower Street stehen blieb, spürte er, wie sehr die Stiefel die Haut an den Füßen wundgescheuert hatten. Sein Tempo litt merklich darunter. Insgesamt hatte er von der Markthalle sechs Minuten und neunundzwanzig Sekunden gebraucht.
Ihm blieben also nur noch vier Minuten und zweiunddreißig Sekunden. Für fünfunddreißig Stockwerke.
Von der Straßenecke, an der er stand, waren es noch anderthalb Blocks bis zum Westin Bonaventure, aber seine Füße wollten schon jetzt nicht mehr.
»Scheiß drauf«, sagte er.
»Worauf?«, meldete sich ein beunruhigter Agent Shaffer in seinem Ohr.
»Meine Stiefel«, sagte Hunter, ehe er sich an die Hauswand lehnte, beide Stiefel auszog und sie nebeneinander auf den Gehweg stellte. Das kostete ihn weitere sieben Sekunden. »Bitten Sie nachher jemanden, sie einzusammeln. Sie stehen direkt an der Ecke West Third und South Flower.«
»Wie meinen Sie das, jemand soll Ihre Stiefel einsammeln?«, wollte Shaffer wissen. »Haben Sie die etwa stehen lassen?«
»Ja«, sagte Hunter, ehe er in Socken losrannte. »Die hätten mich sonst umgebracht.«
Ohne das hinderliche Schuhwerk gelang es ihm zwar, das Tempo wieder etwas zu steigern, doch von seiner Bestform war er weit entfernt. Seine Füße waren bereits so
wundgelaufen, dass er eigentlich nicht einmal mehr richtig gehen konnte – geschweige denn rennen.
Er versuchte die Schmerzen, so gut es ging, zu ignorieren und legte die letzten anderthalb Blocks in einer kurios anmutenden Mischung aus Humpeln und Sprinten zurück.
»Ich bin jetzt am Hotel«, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor.
»Sie haben noch drei Minuten und vierundfünfzig Sekunden«, sagte Agent Shaffer.
Das wusste Hunter selbst, aber er wollte sich den Atem sparen. »Na super«, keuchte er, während er erst am Mann vom Parkservice und dann am Portier vorbeieilte und auf die hintere Lobby zuhielt.
Natürlich war der Portier sofort auf den Mann mit der seltsamen Gangart aufmerksam geworden, der mit nichts als – mittlerweile fast durchgelaufenen – Socken das Hotel betreten wollte.
»Sir«, rief er laut und heftete sich an seine Fersen.
»Polizeiliche Ermittlungen«, warf Hunter über die Schulter zurück, ohne sich umzudrehen.
Ehe der Portier ihm folgen konnte, wurde er von einer schlanken, dunkelhaarigen Frau abgefangen, die ihm fest eine Hand auf die Schulter legte. Sie zeigte ihm diskret die Marke in ihrer linken Hand, während sie ihm gleichzeitig einige Worte ins Ohr raunte.
Der Portier beäugte die Marke und runzelte erst die Stirn, dann riss er erschrocken die Augen auf.
Eine Sekunde später war die Frau im Hotel verschwunden.
Als sie die hintere Lobby betrat, hatte Hunter bereits zwei Etagen hinter sich gebracht und befand sich auf dem Level der Hauptlobby.
Pro Stockwerk musste er zwei Treppenabsätze zu je vierzehn Stufen überwinden. Er nahm zwei, manchmal auch drei Stufen auf einmal. Bei seiner gegenwärtigen Geschwindigkeit schaffte er einen Absatz in vier
bis fünf Sekunden.
»Drei Minuten und siebenundzwanzig Sekunden«, teilte Garcia ihm überflüssigerweise mit.
»Nicht gut«, sagte Hunter, der gerade im ersten Stock angekommen war. »Gar nicht gut.« Mit großen Schritten eilte er weiter, doch er wusste bereits, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde.
Als er das sechste Stockwerk erreichte, fingen seine Beine an zu brennen. Seine Muskeln waren übersäuert, was ihn zusätzlich verlangsamte.
Zwei Minuten und zweiundvierzig Sekunden.
Vom neunten Stock an musste er sich am Geländer hochziehen, um seine schmerzenden Beine zu entlasten.
»Noch genau zwei Minuten, Robert«, sagte Garcia wenig später. »Wo bist du?«
»Kurz vor dem elften.«
»Scheiße!«
»Sehr hilfreich«, entgegnete Hunter. »Danke.«
Er wusste, selbst wenn er die nächsten zehn Stockwerke in einer Minute schaffte, würde er es nicht rechtzeitig bis in den vierunddreißigsten Stock schaffen. Trotzdem war er wild entschlossen, sein Bestes zu geben.
Die nächsten zehn Stockwerke kamen ihm vor wie ein Marathonlauf. Irgendwo tief in seinem Innern fand er die Kraft, sie in einer Minute und elf Sekunden zurückzulegen.
Noch neunundvierzig Sekunden und dreizehn Stockwerke.
Er flehte seine Beine an, ihn jetzt nicht im Stich zu lassen. Nur noch ein Stückchen weiter. Inzwischen benötigte er etwa elf Sekunden pro Stockwerk.
Zweiundzwanzigste Etage – noch achtunddreißig Sekunden.
Dreiundzwanzigste Etage – noch siebenundzwanzig Sekunden.
Vierundzwanzigste Etage – noch sechzehn Sekunden.
Fünfundzwanzigste Etage – noch fü
nf Sekunden.
Seine Beine begannen zu zittern. Sein Herz pochte wie ein Presslufthammer.
Vier … drei … zwei … eins …
Hunter war zwischen dem fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Stock, als es in seiner Tasche klingelte. Es war das Handy, das er aus dem Spülkasten gefischt hatte.
Mit zitternden Fingern fischte er es heraus. Er konnte sich schon vorstellen, was der Werwolf zu ihm sagen würde.
Er nahm den Videoanruf an.
»Ts, ts«, machte der Werwolf kopfschüttelnd, sobald sein Gesicht auf dem Display sichtbar wurde. »Sagen Sie mir bitte, dass das nicht stimmt, Detective. Für mich sieht es nämlich so aus, als hätten Sie es nicht rechtzeitig in die vierunddreißigste Etage geschafft.«
Hunter stapfte verbissen weiter. Das Telefon in seiner Hand wackelte, während er mehrere Stufen auf einmal hinaufstieg.
»Das war eine …«, japste er. Er war in der sechsundzwanzigsten Etage angelangt und auf dem Weg in die siebenundzwanzigste. »… vollkommen unmögliche Aufgabe … Und das wissen Sie auch.«
»Sind Sie immer noch am Treppensteigen?«
Hunter gab keine Antwort.
Siebenundzwanzig. Auf zum nächsten Stockwerk.
»Wow. Ich muss zugeben, ich bewundere Ihre Entschlossenheit.«
Achtundzwanzig.
»Wollen Sie … Ihr Tagebuch … noch haben … oder nicht?«, stieß Hunter hustend hervor.
Neunundzwanzigster Stock.
»Ha, ha.« Der Werwolf lachte humorlos. »Bitte, Detective. Sagen Sie nicht, dass Sie versuchen, mit mir zu verhandeln.«
Dreißigster Stock.
»Na ja … wenn Sie es … wiederhaben wollen …
Ich … habe es … dabei.«
Einunddreißig.
»Ich mag Sie, Detective Hunter. Sie geben nicht auf, selbst wenn der Kampf längst verloren ist.«
Zweiunddreißigster Stock.
»Das respektiere ich bei einem Menschen. Wo sind Sie gerade?«
»Dreiunddreißig …« Hunters Stimme war ein kraftloses Flüstern.
»Was, wirklich?«
Hunter röchelte und versuchte verzweifelt, mehr Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen. Seine Beine fühlten sich an wie Pudding und drohten unter ihm nachzugeben. Er musste sich an der Wand abstützen.
»Nein«, sagte er. »Nicht dreiunddreißig … Ich bin … im vierunddreißigsten.«
Hunter drehte das Telefon so, dass der Werwolf die Nummer an der Wand neben der Tür lesen konnte – 34.