83
Aus Reflex drehte Hunter sich nach rechts in Richtung des Geräuschs.
Zu spät.
Ehe er auch nur blinzeln konnte, blickte er in die Mündung einer Neunmillimeterpistole mit Schalldämpfer.
»Detective Hunter«, sagte der Mann, den Hunter sofort an seiner monotonen Stimme wiedererkannte. »Wie schön, dass wir uns endlich mal persönlich begegnen.«
Hunters Blick ging von der Waffe zum Gesicht des Mannes.
Das ist also der Mann hinter der Werwolfmaske , dachte er. Der Mann, der seine Morde im Darknet anbietet .
Er war etwa Anfang vierzig und trug eine schwarze Wollmütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Seine Augen waren dunkel wie eine sternenlose Nacht und so kalt, dass sie einem Kadaver hätten gehören können. Quer über seinen Nasenrücken – der ihm dem Aussehen nach schon mindestens einmal gebrochen geworden war – verlief eine gezackte Narbe. Und es war nicht die einzige. Am Kinn hatte er eine weitere, die vom linken Mundwinkel in einem halbmondförmigen Bogen bis hin zum Unterkiefer reichte. Diese Narbe war nicht sauber verheilt, die Haut war dick und ledrig. Das Gesicht des Mannes war eckig, seine Lippen fleischig, seine Brauen dicht, sein Kiefer kantig. Er hatte einen muskulösen Körperbau, aber es waren keine Muskeln, wie man sie sich im Fitnessstudio antrainierte. Nein, es waren harte, sehnige Muskeln, die man nur von harter körperlicher Arbeit bekam. Er trug einen mitternachtsschwarzen Kampfanzug und schwarze Armeestiefel.
Er sah aus wie der Held aus einem klassischen Actionfilm, fand Hunter. Alles, was noch fehlte, war der Dreitagebart.
»Okay«, fuhr der Mann fort. »Sie machen jetzt Folgendes, Detective: Ich will, dass Sie sich wieder nach vorne umdrehen, und dann nehmen Sie beide Hände nach hinten – einen Arm auf jeder Seite, als wollten Sie den Sitz umarmen. Wird’s bald?«
Hunter hielt dem Blick des Mannes noch eine Sekunde lang stand.
Der Mann lud seine Pistole durch.
»Jetzt, Detective.«
Hunter drehte sich nach vorn und tat, was der Mann gesagt hatte.
Blitzschnell und mit großer Geschicklichkeit fesselte dieser Hunters Handgelenke mit einem Kabelbinder.
»Okay«, sagte Hunter. »Und was jetzt?«
Statt einer Antwort stieg der Mann auf der Fahrerseite aus und öffnete Hunters Tür.
Hunter blickte neugierig zu ihm auf.
Noch immer auf sein Gesicht zielend, griff der Mann in Hunters Jacke, um ihm Dienstwaffe, Handy, Marke und seine Handschellen abzunehmen.
»Wow«, sagte er, als er Hunters Pistole betrachtete. »Eine Heckler & Koch Mark 23? Ich sehe, Sie kennen sich aus, Detective.« Er nickte. »Gefällt mir. Etwas altmodisch, aber hierzulande die bevorzugte Waffe militärischer Spezialeinheiten.« Der Mann steckte sie sich hinten in den Hosenbund. »Zweitwaffe?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Hunter. »Keine.«
»Na ja.« Der Werwolf zuckte die Achseln. »Ich vergewissere mich lieber selbst. «
Er betastete Hunters Oberkörper, seine Beine und Knöchel. Er fand nichts.
»Glücklich?«, wollte Hunter wissen.
Der Werwolf schenkte ihm ein kaltes Lächeln. »Ich weiß nicht mal mehr, was das bedeutet.«
Diese Worte ließen den Psychologen in Hunter aufhorchen.
Der Mann warf Hunter die Handschellen in den Schoß, ehe er in eine seiner Taschen griff und ein Kampfmesser herausholte. »Wir zwei machen jetzt eine kleine Spritztour, Detective«, sagte er, während er mit dem Messer den Kabelbinder um Hunters Handgelenke durchschnitt. Seine Pistole war immer noch auf Hunters Kopf gerichtet.
Hunter sah dem Mann in die Augen und rieb sich die Handgelenke.
»Jetzt«, fuhr der Werwolf fort und trat einen Schritt zurück, »nehmen Sie die Handschellen und fesseln sich die Hände hinter dem Rücken. Sie brauchen dafür nicht auszusteigen. Beugen Sie sich einfach ein Stück nach vorn. Tun Sie es jetzt, und zwar schön langsam.«
Hunter folgte den Anweisungen des Mannes.
»Eine Spritztour?«, fragte er. »Wohin denn?«
»Wir besuchen Ihre kleine Freundin, die diebische Schlampe.« Er bedeutete Hunter, aus dem Wagen auszusteigen.
Hunter tat es.
»Gehen Sie vor mir her«, befahl der Mann und wies mit einer knappen Bewegung seines Kopfes zur Straße. »Sehen Sie den dunklen Lieferwagen da drüben? Zu dem gehen wir jetzt hin. Wenn Sie auch nur eine falsche Bewegung machen, wird es das Letzte sein, was Sie tun. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Glasklar.«
Langsam und schweigend gingen sie zum Lieferwagen. Dort angekommen, öffnete der Mann die Schiebetür.
»Drehen Sie sich mit dem Gesicht zum Wagen«, befahl er.
Hunter gehorchte.
Der Werwolf schnalzte geräuschvoll mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Sie hätten das wirklich nicht machen sollen, Detective. Wegen Ihres dummen kleinen Tricks muss ich Ihnen jetzt zeigen, wozu ich fähig bin. Ich will nicht nur, dass Sie sehen, was ich mit der kleinen Schlampe mache. Ich will, dass Sie hautnah dabei sind. Ich will, dass Sie ihre Angst riechen. Ich will, dass Sie ihre Schreie hören. Ich will, dass Sie ihr Blut schmecken. Aber vor allem will ich, dass Sie hinterher ihre Einzelteile aufsammeln müssen.«
Der Mann schlug mit dem Griff seiner Pistole hart gegen Hunters Hinterkopf.
Alles wurde schwarz.