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Ein wohlplatzierter Schlag gegen den Solarplexus, ein komplexes Nervengeflecht auf Höhe des Oberbauchs, kann dazu führen, dass sich das Zwerchfell krampfartig zusammenzieht und sogar eine kurzzeitige Lähmung eintritt, sodass man das Gefühl hat, keine Luft mehr zu bekommen, und das Herz anfängt zu rasen.
Ungefähr diese Wirkung schienen Hunters letzte Worte auf den Werwolf gehabt zu haben. Der Ex-Soldat rang nach Atem. Er brodelte innerlich vor Zorn, während die beiden einander in die Augen starrten.
Hunter bereute seine Worte. Vielleicht hätte er noch etwas abwarten sollen, bis er diese Karte ausspielte, aber jetzt war es zu spät, um noch zurückzurudern. Er gelangte zu dem Schluss, dass es das Beste war, die Flucht nach vorn anzutreten und einfach weiterzureden.
»Ja«, sagte er mit fester, aber gänzlich unaufgeregter Stimme. »Wir haben rausgefunden, was diese Zeilen bedeuten. Wir haben den Chatroom im Darknet entdeckt. Und die ›Stimmen‹.«
Einen Herzschlag lang sah der Werwolf so aus, als würde er gleich die Beherrschung verlieren.
»Haben Sie sich eingeloggt?«, fragte er gepresst.
Statt eine Antwort zu geben, betrachtete Hunter den Mann schweigend.
»Ob – Sie – sich – eingeloggt – haben?«, stieß der Werwolf durch zusammengebissene Zähne hervor.
»Ja«, gestand Hunter schließlich. »Das habe ich. Schlauer Nickname übrigens. Miles Sitrom. Sehen Sie sich so? Als Soldat des Todes?«
Der Werwolf stand da wie erstarrt.
»Hat sich eine der Stimmen gemeldet?«, fragte er nach
einer ganzen Weile. »Haben Sie mit jemandem gechattet?«
Wieder musterte Hunter den Mann, ohne zu antworten.
»Besser, Sie machen den Mund auf, Detective, sonst stirbt die kleine Schlampe jetzt und hier, das schwöre ich bei Gott.« Der Werwolf deutete auf die Stahltür hinter ihm.
»Ja«, sagte Hunter und nickte. »Mit Stimme 1 und Stimme 2. Sekunden nachdem wir uns eingeloggt hatten, sind sie dem Chat beigetreten.«
Das war Hunters zweiter Schlag gegen den mentalen Solarplexus des ehemaligen Soldaten. Er sah den Zorn in seinen Augen lodern.
»Hören Sie mir gut zu, Detective. Sie müssen sich jetzt genau an den Chat zurückerinnern. Ich muss wissen, was gesagt wurde, und damit meine ich den exakten Wortlaut … Alles, was Sie und die Stimmen sich geschrieben haben. Das Leben der kleinen Schlampe hängt davon ab.«
»Es hat nicht lange gedauert«, sagte Hunter.
»Es ist mir scheißegal, wie lange es gedauert hat. Ich muss wissen, was Sie geschrieben haben, und zwar jetzt
!«
Der Ton des Werwolfs verriet den inneren Druck, unter dem er stand.
»Schon gut«, sagte Hunter, ehe er berichtete, was sich am Morgen in Vince Kellers Büro zugetragen hatte. Er erinnerte sich noch an jedes Wort aus dem Chat.
Sobald er den ausgedachten Wasserschaden erwähnte, schloss der Werwolf wie unter Schmerzen die Augen.
»Die Stimmen haben Ihren Rechner zurückverfolgt«, sagte er. »Sie verfügen über die neueste Technik. Sie haben mit Sicherheit gemerkt, dass ich es nicht war.«
»Nein, haben sie nicht«, widersprach Hunter. »Unsere Technologie ist auch auf dem neuesten Stand. Unsere Firewalls verschleiern die IP-Adresse und leiten die Verbindung über mehrere Server um. Außerdem waren wir nicht mal zwei Minuten eingeloggt. Selbst
wenn sie die nötige Technologie hätten, um die IP-Adresse zu entschlüsseln, war die Zeit dazu viel zu kurz. Im Film geht so was vielleicht, aber nicht im echten Leben.«
»Trotzdem hätten Sie das nicht tun dürfen, Detective. Sie hätten sich wirklich nicht einloggen dürfen. Dafür müssen Sie bezahlen.«
Der Werwolf griff nach der Waffe auf dem Kontrollpult und zielte damit auf Hunters Kopf. Der Schalldämpfer war verschwunden.
»Sie sagten doch, auf der Polizeiakademie hätten Sie ganz ähnliche Dinge gelernt wie wir in der Armee?«
Hunter versteifte sich unwillkürlich.
Der Ex-Soldat gab Hunter keine Gelegenheit zum Antworten.
»In dem Fall möchte ich Sie etwas fragen, Detective: Hat man Ihnen dort auch beigebracht, so zu schießen?«
Der Werwolf drückte zweimal blitzschnell hintereinander ab.