Kapitel Vierzehn

Acht Uhr morgens. Mika war wach und schickte Penny eine Nachricht: Bist du sicher, dass du dir die Galerie heute schon ansehen willst? Da herrscht noch das totale Chaos. Für einen Moment schämte sie sich ganz furchtbar, stopfte das Gefühl dann aber hastig zurück in das Loch, aus dem es gekrochen war. Wenn ihr heute Abend kommt, wird alles fantastisch aussehen, versprochen!, schob sie noch hinterher.

Die Antwort kam schnell: Gar kein Problem. Ich könnte dir doch dabei helfen, alles vorzubereiten! Ich mache mir gerne die Hände schmutzig. Schickst du mir die Adresse? Mit einem ergebenen Seufzer gab sich Mika geschlagen, bat Penny aber, ihr ein paar Stunden Vorsprung zu geben. Dann schickte sie eine Nachricht an Leif, der dem Künstler Stanley noch einmal sagen sollte, dass sie heute kam. Er antwortete mit einem Daumen-hoch-Emoji.

Unterwegs piepte ihr Handy, da eine Nachricht von Hana reinkam: Penny ist großartig. Und weißt du, was noch großartig ist?

Mika hatte schon geschlafen, als Hana am Vorabend nach Hause gekommen war, und nun war sie aufgebrochen, bevor ihre Freundin wach wurde. Normalerweise hatten sie beide denselben Rhythmus – lange Nächte, morgens spät aus den Federn. Aber in letzter Zeit war Mika meistens früher aufgestanden, vor allem, um so viel Zeit wie möglich mit Penny verbringen zu können, solange diese in Portland war.

An einer roten Ampel schickte sie eine Antwort: Lass mich raten: Käsekuchen zum Frühstück? Jogginghosen? Ausdruckstanz?

Als die Ampel auf Grün sprang, begann das Telefon zu klingeln. Kurzer Blick auf das Display: ihre Mutter. Schon wieder. Mikas Laune trübte sich ein. Bestimmt wollte Hiromi wissen, ob sie schon einen neuen Job gefunden hatte. Sie lehnte den Anruf ab. Wenig später informierte sie das Handy darüber, dass eine neue Nachricht auf ihrer Mailbox eingegangen war. Und an der nächsten roten Ampel war auch Hanas Antwort gekommen. Ja, das alles und die Tatsache, dass Garrett unter chronischem Durchfall leidet. Er muss die Tour absagen, um sich seinem Reizdarmsyndrom zu widmen. Trauriges Emoji, Partyemoji. Was wiederum heißt, dass ich mit Pearl Jam auf Tour gehen werde.

Mika erwiderte: Erstens: Bitte erspare mir in Zukunft jegliche Information über Garretts Verdauungstrakt. Zweitens: Ich freue mich wahnsinnig für dich!

Idee!, schrieb Hana zurück. Du solltest mich begleiten, als mein emotionales Assistenztier. Gratishotels und -mahlzeiten, Backstagepässe … Was meinst du? In ein paar Wochen geht es los.

Mika hielt an und parkte vor einem vollkommen durchschnittlichen Lagerhaus. Auf einem Schild wurde für den »Künstlerischen Donnerstag« geworben, was nichts anderes hieß, als dass an jedem ersten Donnerstag im Monat Leute kamen, Wein aus Plastikbechern tranken und sich vom Keller bis zum Loft die neuesten Arbeiten der aufstrebenden, aber vor allem hungernden Künstler ansahen.

Durch eine schwere Eingangstür betrat sie das Gebäude. An der Wand war eine Tafel angebracht, auf der die einzelnen Künstler verzeichnet waren. DAPHNES KREATIONEN, EINHEIT 1; ZEN PRODUCTS, EINHEIT 2 … STANLEY WOLF, EINHEIT 10.

Mika ging die Treppe hinauf und klopfte kurz an die Tür von Einheit 10, bevor sie eintrat. »Hallo?« Eine alte Stereoanlage malträtierte ihre Ohren mit dröhnenden Metallica-Hits. Einmal hatte sie Essen auf dem Herd anbrennen lassen – das hatte so ähnlich gerochen wie der beißende Gestank in diesem Raum. Überall lag Metallschrott herum: Betonstahl, Stahlbänder, Eisenträger. Durch vier große Fenster fiel natürliches Licht herein. In einer Ecke stand ein Mann mit einem Schneidbrenner; Funken stiegen von der Skulptur auf, an der er gerade arbeitete. Dann erlosch die Flamme, der Mann schob seine Schutzmaske hoch und schaltete die Musik aus.

»Hi, hi! Du bist dann wohl Mika?« Er kam auf sie zu und streifte dabei die schweren Handschuhe ab. »Stanley.« Fröhlich streckte er Mika die Hand entgegen. Ein Weißer mit leuchtend blauen Augen und schwarz gefärbten Haaren. In einem Ohr trug er einen langen, mit Federn geschmückten Ohrring.

Lächelnd schüttelte Mika ihm die Hand. Dann trat sie einen Schritt zurück, um sich eine der über zwei Meter großen Statuen genauer anzusehen. Es war nicht ganz leicht zu erkennen, was sie darstellen sollte. Einen Menschen vielleicht? Allerdings mit sehr verkrümmtem Rücken. »Das ist interessant. Es strahlt eine wahnsinnig starke Emotion aus.«

Stanley wurde rot. »Leif hat mir gesagt, du willst hier eine Galerie aufziehen?«

Nun ging Mika weiter in den Raum hinein. »Ganz genau, und wenn du mitmachst, kann das definitiv funktionieren.« Dieser Ort hatte eine Menge Potenzial. In der Ecke standen sechs weitere Skulpturen, alle einander zugeneigt, wie Liebende, die vor einem heraufziehenden Sturm Schutz suchten. Wenn sie Stanleys Zeug wegschafften, hätten sie jede Menge freie Fläche für die Skulpturen, die noch dazu von den in der Decke eingelassenen Strahlern wunderbar beleuchtet würden. Sie sah kurz zu Stanley hinüber. »Und es macht dir bestimmt nichts aus, wenn ich deine Arbeiten ausstelle und heute einfach dein Atelier übernehme?«

»Nö.« Stanley warf seine Handschuhe auf einen Haufen verschiedenster Materialien, darunter auch einige Ölfarben und eine Staffelei. Als Mika die Farben sah, musste sie die Hände zu Fäusten ballen, damit sie nicht zitterten. Eine Mischung aus Furcht und Sehnsucht überkam sie. In dem Haufen lag auch eine Flasche Terpentin. Der Anblick ließ sie erstarren wie ein kleines Tier, das im Wald von einem Raubtier gejagt wird.

»Ich bin hier so weit fertig, der Laden gehört also ganz dir. Hinten in der Ecke stehen ein paar Farbeimer und Roller. Leif meinte, du willst dem Ganzen vielleicht einen neuen Anstrich verpassen. Ich lass dich dann mal machen«, verkündete Stanley.

Mika setzte ein leeres Lächeln auf, hörte sich einen Dank murmeln. Die Tür fiel zu. Sie schluckte schwer, dann riss sie sich aus ihrer Benommenheit und krempelte die Ärmel hoch. Nun hieß es: an die Arbeit.

*

Zwei schweißtreibende Stunden später bekam sie eine Nachricht von Penny, in der stand, dass das Uber sie gerade abgesetzt habe. Mika lief nach unten, um sie einzusammeln.

»Hiiii«, trällerte Penny und hüpfte fröhlich auf sie zu. »Was sagst du?« Sie breitete die Arme aus. Heute trug sie eine Jeansjacke und darunter das neue T-Shirt, das Mika ihr gekauft hatte. Anstelle des DIESE DINGER-Shirts hatten sie sich für eines von Asian Invasion entschieden, und auf Pennys Brust prangte nun das Teamlogo, ein Paar Essstäbchen, das in einer Reiskugel steckte.

»Gefällt mir«, versicherte Mika. Ihre Tochter so fröhlich zu sehen, machte sie glücklich.

Penny rümpfte empört die Nase. »Ich habe gestern Abend noch versucht, Dad dazu zu überreden, dass ich mir die Haare färben darf. Meiner Meinung nach würde es den Look perfekt machen, wenn ich hier eine blaue Strähne hätte.« Sie zupfte an den Haaren, die ihr Gesicht umrahmten.

»Mach das bloß nicht selbst. Ich habe mir in der Highschool mal die Haare gebleicht, und es hat über ein Jahr gedauert, bis sie wieder normal aussahen. Wenn du das wirklich durchziehen willst, sei vernünftig und lass es von einem Profi machen.«

Penny nickte ernst. »Guter Punkt.«

»Wie hast du geschlafen?«, fragte Mika, während sie die Treppe hinaufgingen.

»Traumhaft gut. Ich bin ja so gespannt auf deine Galerie.«

Nervös zupfte sich Mika am Ohrläppchen. »Es gibt noch eine Menge zu tun … versprich dir also nicht zu viel davon.« Als Penny ihr einen besorgten Blick zuwarf, fügte sie schnell hinzu: »Ich stehe im Moment einfach total unter Druck, weil alles perfekt werden soll. Immerhin ist heute Abend Eröffnung.«

»Verstehe. So bin ich immer vor Wettkämpfen – gereizt und aufgeregt, weil ja alles reibungslos ablaufen soll.«

»Ganz genau.« Mika öffnete die Tür zu Einheit 10, und Penny ging hinein.

»Oh, wow!«, rief sie, noch während sie sich an Mika vorbeischob.

»Was?« So schlimm? Mika versuchte, den Raum durch Pennys Augen zu sehen. Trotz ihrer Anstrengungen in den letzten Stunden herrschte immer noch ein ziemliches Chaos. Zum Beispiel lag das Schmiedewerkzeug zusammen mit einigen anderen Kunstwerkzeugen mitten im Raum auf dem Boden herum.

»Na ja, da muss wohl noch etwas Ordnung geschaffen werden«, stellte Penny fest, während sie den Raum einmal komplett abging.

»Stimmt«, gab Mika kleinlaut zu.

Penny sah sie einen Moment lang reglos an. Dann klatschte sie in die Hände. »Okay, ich denke, zu zweit sollten wir hier in ein oder zwei Stunden durch sein.«

»Und das macht dir wirklich nichts aus?«

»Natürlich nicht! Womit willst du anfangen?«

Nachdenklich tippte Mika sich mit dem Finger an die Lippen. »Lass uns erst mal die ganzen Werkzeuge wegschaffen.« Sie durchquerte das Atelier und öffnete eine Tür, die – hoffentlich – zu einem Einbauschrank führte. Ein kurzer Blick hinein bestätigte: staubig und leer. Entschlossen zog sie die Tür weiter auf.

Während der kommenden Stunde arbeiteten sie unermüdlich und schleppten die Lötwerkzeuge und das Altmetall in den Schrank. Bald lief ihnen der Schweiß über die Gesichter. »Soll das auch in den Schrank?«, fragte Penny. Sie stand vor dem Haufen mit den Malutensilien.

Mika spreizte angestrengt die Finger, um das Zittern zu vertreiben. Ein paar stumpfe Graphitstifte sprangen ihr ins Auge. Marcus hatte mit solchen Stiften gezeichnet. Eine Tonscherbe, die im richtigen Winkel wie ein schlagendes Herz aussah. Verfaulte Bananen. Ein ausgetrockneter Brunnen. Am Ende des Wintersemesters hatte er sogar einen Preis gewonnen für das Bild mit der Tonscherbe.

»Herzlichen Glückwunsch«, gratulierte Mika ihm strahlend. Sie war ein wenig außer Atem, weil sie quer über den Campus gehetzt war, um ihn nach ihrem Kunstgeschichtekurs noch zu erwischen. Die Heilige Jungfrau hatten sie abgehakt, nun beschäftigten sie sich mit der Renaissance, wo Frauen auf Möbelstücken drapiert, in Muscheln gestellt oder schwebend auf Wolken gemalt wurden, das Licht fokussiert auf Hüften, Schenkel, Brüste – ein Festmahl, bereit, verschlungen zu werden. Mika stand in Marcus’ Büro und überreichte ihm ein Geschenk: einen elektrischen Anspitzer, dekoriert mit einer roten Schleife. Die Tatsache, dass er nur altmodische Anspitzer benutzte, die man per Hand drehen musste, war zwischen ihnen zu einem Running Gag geworden.

»Vielen Dank.« Mit einem verstohlenen Lächeln zupfte er an dem Geschenkband.

»Was werden Sie mit der Auszeichnung machen? Ich finde, Sie sollten sie über Ihren Schreibtisch hängen.« Mika zeigte auf die Plakette des Southwestern Institute of Art.

»Keine Ahnung. Vermutlich werde ich sie irgendwann als Aschenbecher benutzen.« Er kratzte sich das stoppelige Kinn.

»Aber das sollte auf jeden Fall gefeiert werden«, fand Mika.

»Nun ja.« Marcus warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Wir wollen uns heute Abend bei Pete treffen, auf ein paar Drinks. Ich wollte eigentlich nichts machen, aber er hat darauf bestanden. Warum kommen Sie nicht auch?«

Mika war rot angelaufen und hatte gestrahlt, hatte sofort angefangen zu überlegen, was sie anziehen könnte. »Sehr gerne, danke.«

»Mika?« Penny hatte sich vor ihr aufgebaut.

Sofort versuchte Mika, sich ein Lächeln abzuringen. »Tut mir leid, ich war in Gedanken. Würde es dir etwas ausmachen, die Sachen in den Schrank zu räumen?«

Penny nickte stumm, sammelte die Farbtuben ein und verschwand damit in dem Einbauschrank. Mika zertrat einen Zeichenstift unter ihrem Schuh und beförderte die Reste mit einem Tritt in die nächste Ecke. Dann ging sie zu den Skulpturen hinüber und machte sich Gedanken über ihre Anordnung – welche sollte wo stehen und in welcher Reihenfolge? Schließlich wählte sie die krummste von allen aus und schob sie auf einen Platz in der Nähe des Eingangs. Sie war bereits bei der vierten angekommen, als Penny mit den Malsachen fertig war.

»Wow«, seufzte sie. »Das ist wirklich eindrucksvoll.«

Mika trat einen Schritt zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. In dieser Aufstellung war jede Skulptur ein bisschen weniger gekrümmt als die vorhergehende, wie eine Abfolge von Standfotos, bei der eine Gestalt sich nach und nach aus ihrer geduckten Haltung erhob. »Ja, mir gefällt es auch.« Nun war Mikas Lächeln echt. Stolz war sie und überglücklich.

Sie rückten die restlichen Skulpturen an ihre Plätze, nur nicht das eine Stück, das unter einem schweren Tuch verborgen war. »Ich glaube, an der arbeitet Stanley noch«, erklärte Mika, während sie sich die Hände an ihrer Jeans abwischte. »Ich kontaktiere ihn später noch und frage nach, wo wir sie platzieren sollen. Wir sind ein echt gutes Team«, stellte sie fest, was Penny mit einem Lächeln bestätigte. »Möchtest du etwas trinken? Ich habe draußen im Flur einen Automaten gesehen.«

»Klingt gut.«

Sie benutzten das Kleingeld aus Charlies Auto, um sich Wasser und ein paar Chips zu ziehen, dann ließen sie sich im Schneidersitz auf dem Boden der Galerie nieder. »Und, was macht dein Dad heute?«, erkundigte sich Mika, während sie das Essen wie eine Opfergabe um Penny herum aufbaute.

»Keine Ahnung. Vermutlich arbeitet er oder so. Ich habe ihn jedenfalls darum gebeten, dass er nicht mitkommt.«

»Ach ja?«

Penny biss sich kurz auf die Lippe, während sie sich ein paar Doritos nahm. »Ja. Ich dachte mir, es wäre doch schön, wenn wir mal allein sind. Klar, ich liebe meinen Dad, aber … manchmal klebt er an mir wie ein nasses Handtuch.«

Mika grinste. »Keine Einwände meinerseits.« Dann aber musste sie an ihren Besuch beim Roller Derby denken, wo Thomas Penny mit so viel Hingabe, Bewunderung und Stolz beobachtet hatte. »Trotzdem scheint er mir ein echt toller Vater zu sein.«

Ein kleines Lächeln huschte über Pennys Gesicht. »Ja, das ist er. Vor allem, als ich noch kleiner war. Er hat mir jeden Abend etwas vorgelesen, das war irgendwie unser gemeinsames Ding. Ich war total verrückt nach Goldlöckchen, aber bei ihm war es immer ihr wunderschönes, langes dunkles Haar, das in der Sonne glänzte. Genau so hat er es gelesen, und dann hat er mich angesehen und gesagt: ›Wie bei dir.‹« Als ich älter wurde, habe ich das Buch selbst gelesen. Er hatte jedes ›blond‹ durchgestrichen und durch ›dunkel‹ ersetzt, und auf den Bildern hatte er die Haare mit einem Edding schwarz übermalt.«

»Das ist wirklich süß.« Mika hatte einen Kloß im Hals.

»In letzter Zeit stehen wir uns nicht mehr so nah.« Nachdenklich strich sich Penny einige Krümel vom Knie. »Dabei weiß ich gar nicht, ob ich mich verändert habe oder er oder wir beide. Vermutlich liegt es vor allem an mir. Manchmal sehe ich mich selbst im Spiegel an und frage mich: Wer bist du? Wer bist du eigentlich?«

Wer bin ich? Wieder diese Frage. Mika hatte einmal eine Dokumentation gesehen, in der gefragt wurde, inwiefern sich das Leben adoptierter Kinder anders entwickelt hätte, wenn sie bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen wären. Biologie versus Sozialisation. Was machte Penny zu Penny? Wie viel von ihr war von Geburt an bestimmt, und wie viel hatte sich in den Jahren danach ausgeprägt? Was hatte Mika ihrer Tochter mitgegeben, was Thomas, was Caroline? Oder ihr biologischer Vater? Und spielte es überhaupt eine Rolle? »Weißt du«, sagte Mika bedächtig, »falls es dich beruhigt: Ich glaube, keiner weiß, wer er genau ist. Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, das herauszufinden.«

Penny hob den Kopf. »Das beruhigt mich wirklich. Zumindest fühle ich mich nicht mehr ganz so allein, denke ich.«

»Du bist nicht allein.« Mika drückte ihre Hand.

Sie verfielen in kameradschaftliches Schweigen, bis Penny plötzlich aufsprang. »Ich kann nicht glauben, dass unsere Zeit hier schon fast vorbei ist.«

»Ich auch nicht.« Mika stand nun ebenfalls auf. Die Tage waren wie im Flug vergangen. Morgen würden Penny und Thomas wieder abreisen. Mika versuchte sich auszumalen, wie es danach weitergehen würde: Penny würde sie wohl noch ein paarmal anrufen, würde versuchen, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Doch dann würden diese Anrufe immer weniger werden. Und das Geisterschiff, das Mikas Leben im Moment darstellte, würde in den Hafen einlaufen. Dann würde sie in ihr echtes Leben zurückkehren. Aber wer war Mika in diesem echten Leben? Und wer war sie hier, bei Penny? Ohne Penny? »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit«, sagte sie. Einfache Worte, die ein wahres Gefühlswirrwarr in ihr auslösten. Erleichterung, weil diese Scharade bald ein Ende haben würde, gleichzeitig aber auch Trauer, weil sie Penny erneut würde gehen lassen müssen. Eines wusste sie jedenfalls genau: Die Mika in ihrem echten Leben war sehr, sehr traurig.

»Komisch, dass du das sagst«, erwiderte Penny gelassen. »Denn zufälligerweise bietet die University of Portland ein ganz tolles Sommercamp für Läufer an.« Sie schwieg kurz, blickte angestrengt auf ihre Füße. »Und ich habe mich gestern Abend dort beworben.«

»Wirklich?« Mika versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihr vorging. Wie überrascht sie war. Verängstigt. Begeistert.

»Ja, mir gefällt es hier in Portland.« Unsicher sah Penny sie an. »Und ich habe dich schrecklich gern. Irgendwie passt das alles hier.«

»Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ob du wiederkommen möchtest.« Mikas Gedanken überschlugen sich. Sie wollte, dass Penny für immer blieb. Damit würde ihr Traum wahr. Halt sie fest. Lass sie nie wieder gehen. Aber was war mit ihrem Lügenkonstrukt? Der erfundenen Galerie? Ihrem angeblichen Freund? Vielleicht war es ja möglich, das alles aufrechtzuerhalten. Penny würde vor allem mit ihrem Lauftraining beschäftigt sein. Sie würden sich vielleicht abends mal treffen oder an den Wochenenden. Wenn Penny ihre Großeltern kennenlernen wollte, würde Mika einfach behaupten, sie wären wieder auf einer Kreuzfahrt oder würden Verwandte in Japan besuchen. Das machen sie jeden Sommer, hörte sie sich schon sagen. Sie buchen die Tickets immer schon sehr früh, die können sie nicht umtauschen. Und was ihre Beziehung zu Penny anging … die würde sie hegen und pflegen und gedeihen lassen. Sie würde sich auf das konzentrieren, was echt war: Gedanken und Gefühle mit ihrer Tochter teilen, sie unterstützen, ihr zuhören, sie lieben. »Was sagt dein Dad dazu?«

Penny holte tief Luft. »Der hat es eigentlich ganz cool aufgenommen. Na ja, oder zumindest tut er so. Als ich ihm gesagt habe, dass das Camp sechs Wochen dauert und die Teilnehmer in den Wohnheimen auf dem Campus untergebracht sind, hat er erst einmal dichtgemacht. Aber dann hat er sich sichtlich zusammengerissen und entspannt.« Wieder zögerte sie kurz. »Dann wäre das für dich also okay, wenn ich wiederkomme? Würdest du mich hier haben wollen?«

Zweifellos war ein Wort in Pennys Frage besonders aufgeladen: wollen. »Natürlich will ich, dass du wiederkommst«, sagte Mika ganz automatisch. Ihre Seele erhob sich über jeden rationalen Gedanken.

»Darf ich etwas sagen?«, fragte Penny mit dünner Stimme. Mika nickte. Seit wann glaubten Mädchen, sie müssten um Erlaubnis fragen, bevor sie sich äußerten? »Ich bin so glücklich darüber, dass ich hier bei dir sein kann. Und ich war schon sehr lange nicht mehr glücklich.«

Wohlige Wärme breitete sich in Mikas Brust aus. »Ich bin auch sehr glücklich.«