5. Kapitel

Shiloh

Das Wochenende verging ohne ein Wort von Violet. Meine Textnachrichten wurden nicht beantwortet. Anrufe gingen auf die Mailbox. In der Geschichtsstunde am Montag war sie zu spät. Violet war nie zu spät. Angst und ein schlechtes Gewissen, weil auf der Party etwas Schlimmes passiert sein könnte, quälten mich.

Baskin kontrollierte die Anwesenheit.

»Watson?«

»Hier.«

»Wentz?«

»Hier.«

Ich erstarrte, als hinter mir die eine Silbe erklang, ausgesprochen von dieser tiefen ungeschliffenen Stimme. Irgendwie hatte ich ihn nicht reinkommen sehen. Ein Schauder tänzelte mir über die Wirbelsäule.

Sei nicht albern.

Und doch konnte ich mich nicht davon abhalten, über die Schulter hinter mich zu gucken, so wie Molly Ringwald, die sich in Das darf man nur als Erwachsener heimlich nach Jake Ryan umsieht.

Ronan saß hingefläzt auf dem Eckplatz in der letzten Reihe. Die Arme verschränkt, die grauen Augen ausdruckslos und misstrauisch angesichts all der Aufmerksamkeit. Ich war nicht die Einzige, die sich umgedreht hatte und ihn anstarrte.

Ronans Blick begegnete meinem. Als ich vorsichtig winkte, sah er weg.

Okay. Gutes Gespräch.

Baskin war fertig, als Violet in den Klassenraum stürzte. Erleichtert atmete ich auf. Sie sah wie immer aus, höchstens ein bisschen müde.

»McNamara …«, intonierte Baskin.

»Tut mir leid!« Sie entdeckte Ronan, als sie ihre Tasche über die Stuhllehne hängte. »Es gibt ihn wirklich«, flüsterte sie mir zu.

Das kannst du laut sagen.

»Und Bibi hat ihn angeheuert, damit er meinen Arbeitsschuppen baut«, flüsterte ich zurück. »Was du wüsstest, wenn du am Wochenende eine meiner Nachrichten beantwortet hättest.«

»Ja, tut mir leid. Ich war … echt müde, musste mich von der Party erholen. Aber wirklich? Er arbeitet bei euch?«

»Vergiss ihn«, sagte ich und wünschte, das wäre so einfach. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«

»Mir geht’s gut, versprochen«, sagte Violet. Sie schielte zu Baskin, der noch an seinem Pult Notizen ordnete und dabei leise vor sich hinmurmelte. »Aber die Party ist total aus dem Ruder gelaufen. Holden, der Neue, hat eine ziemliche Szene hingelegt. Er hat auf dem Esstisch der Blaylocks eine Flasche zerbrochen und hat dann darauf getanzt.«

»Ich mag ihn jetzt schon.«

»Chance ist da anderer Meinung.« Violet kicherte. »Und du wirst es nicht glauben, aber Miller hat zum ersten Mal … vor dem ganzen Haus voller Leute gespielt. Er hat unser Lied gesungen. ›Yellow‹.« Ihre dunkelblauen Augen trübten sich kurz, und ich wusste sofort, wovon sie sich erholen musste. »Evelyn hat gesagt, dass es noch verrückter wurde, nachdem ich gegangen war. Ein Messerkampf oder so.«

»Ein Messerkampf?«

»Zwischen Frankie, Holden und eurem neuen Handwerker.«

Ich musste mich wirklich bemühen, mich nicht noch einmal nach Ronan umzudrehen. Obwohl er mehrere Reihen entfernt saß, hätte ich schwören können, ihn zu spüren – diese starke und solide Präsenz hinter mir.

Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf fragte sich, ob er verletzt war.

Oh, hör auf. Wenn überhaupt, solltest du dir um Frankie Sorgen machen.

»Klingt, als hätte ich einiges verpasst.«

»Kann man wohl sagen. River hat mich gefragt, ob ich mit ihm zum Homecoming-Ball gehe.«

Ich runzelte die Stirn angesichts Violets unsicherer Miene. »Das ist was Gutes, oder? Teil deines großen Plans?«

Sie lächelte schwach. »Ja, genau. Mein großer Plan.«

Baskin stellte sich vor die Klasse. Ich blickte nach vorn und dachte an meinen großen Plan, in dem außer mir niemand vorkam.

»Ihre erste große Hausaufgabe in diesem Jahr ist eine Arbeit über die Russische Revolution«, sagte Baskin. »Den Schwerpunkt überlasse ich Ihnen, aber die Arbeit muss mindestens zehn Seiten lang sein. Einzeilig getippt.«

Die Klasse stöhnte.

»Und ich warne Sie. Die Arbeit wird fünfzig Prozent der Note des ersten Halbjahrs ausmachen.« Er sah uns über seine Brille hinweg an. »Sie sollte also gut sein.«

Nach der Stunde gingen wir schnell hinaus. Ich musste weg von Ronan Wentz und all den ungebetenen Gedanken, die mit ihm zusammenhingen, und Violet musste zu den Whitmores, wo sie als freiwillige Patientenbegleiterin arbeitete. Sie nahm an einem Programm der Uni Santa Cruz teil und war Rivers Mom zugeteilt worden, der sie drei Nachmittage die Woche half.

»Nancy hat Leberkrebs«, sagte Violet, als wir zum Schülerparkplatz gingen. »Es sieht nicht gut aus.«

»Oh, Gott, das tut mir leid«, sagte ich. »Das klingt, als wär’s viel auf einmal. Kriegst du das hin?«

»Ich muss. Ich schaffe es nie, Ärztin zu werden, wenn ich die schwierigen Sachen nicht aushalte.« Sie umarmte mich. »Ruf mich heute Abend an, und wir reden. Du kannst mir alles über Ronan erzählen. Ich hab ihn mit Miller rumhängen sehen. Ich denk mal, sie sind jetzt Freunde. Und auch Holden. Evelyn nennt sie die Lost Boys.«

»Evelyn braucht ein Hobby.«

»Ich bin einfach froh, dass Miller jemanden hat. Oder mehrere Jemande … Freunde.«

»Diese sogenannten Lost Boys können dich nicht ersetzen, Violet. Eure Freundschaft ist etwas Besonderes, und Miller weiß das.«

Sie lächelte schwach und nicht wirklich überzeugt. Fast hätte ich ihr gesagt, dass sie die Freundschaft mit Miller mit einem einzigen Wort in mehr verwandeln könnte, aber es ging mich nichts an. Abgesehen davon, dass ich absolut nicht dafür qualifiziert war, Beziehungstipps zu geben.

Dafür muss man schon selbst an sie glauben.

Wir trennten uns. Sie ging zu ihrem weißen SUV, Baujahr irgendwann in diesem Jahrzehnt, und ich zu Bibis Buick, Baujahr … wesentlich früher.

Auf der Heimfahrt drehte ich laut »Let Me Blow Ya Mind« auf. Als Kinder waren Violet und ich total durchgedreht zu dem Stück. Sie hatte immer gesagt, sie sei die Gwen Stefani zu meiner Eve.

Ich kann sie auch durch niemanden ersetzen.

Aber vielleicht ersetzte sie mich durch Evelyn Gonzalez. Ich schwor mir, Violet anzurufen und ihr alles über Ronan und den Schuppen im Garten zu erzählen. Vielleicht würde ich ihr sogar sagen, dass ich ein bisschen an ihn gedacht hatte am Wochenende.

Ein bisschen.

Anscheinend stellte das Universum mich auf die Probe. Eine große dunkelhaarige Gestalt in Jeans, Stiefeln und einem schlichten weißen T-Shirt tauchte rechts von der Straße auf. Die Jeansjacke mit dem Fellkragen hing ihm an einem Finger über der Schulter.

Verflixt.

Ronan Wentz ging lässig, aber nicht langsam. Stetig. Augen geradeaus. Ich bekam den merkwürdigen Eindruck, als wäre er ein Tramper auf einer endlosen Reise, der wartete, dass jemand ihn mitnahm, aber eigentlich nicht glaubte, dass das passieren würde.

Dann begriff ich, dass er wahrscheinlich auf dem Weg zu uns war.

Verflixt noch mal.

»Die schwierigen Sachen«, murmelte ich und fuhr ein paar Meter vor Ronan rechts ran. Ich drehte die Musik leiser und kurbelte das Fenster auf der Beifahrerseite runter. »Hey. Brauchst du ’ne Mitfahrgelegenheit?«

Ronan blieb stehen, starrte mich an. Sein Gesichtsausdruck wurde irgendwie merkwürdig, und er runzelte die Stirn. »Nein, brauch ich nicht.«

»Ja, aber soll ich dich mitnehmen?«

Er blickte nachdenklich auf die Straße vor sich.

»Du willst doch zu uns?«

Er nickte.

»Wie sieht das bitte aus, wenn ich nach Hause komme, du zwanzig Minuten später zu Fuß ankommst und ich dich bei dieser Hitze nicht mitgenommen hab? Bibi wird mich für ein Riesenarschloch halten.«

Ronan zögerte noch eine Sekunde, dann stieg er ein. Sofort war alles erfüllt von ihm, dem Geruch nach seiner einfachen Seife und, schwächer, dem Rauch von Lagerfeuer. Diese ganze Männlichkeit überwältigte mich, und ich packte das Steuerrad fester.

Ich bereue diese Entscheidung zutiefst.

»Danke«, sagte Ronan.

»Es ist mehr ein Gefallen, den ich mir selbst tue. Mir ist es lieber, wenn meine Urgroßmutter mich nicht für ein Arschloch hält.«

Er lächelte nicht. Er sah mich gar nicht an.

»Kann ich das Fenster aufmachen?«, fragte er nach einer Minute.

»Gern.«

Er kurbelte – in dem Wagen war nichts automatisch – und grinste leicht.

»Ist irgendwas?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Schöner Wagen«, sagte Ronan knochentrocken. »Baujahr 82?«

»84, wenn du es unbedingt wissen willst, und er fährt noch.«

»Zu Fuß wär ich wahrscheinlich schneller gewesen.«

Ein schockiertes Lachen entfuhr mir. Man hätte es für unmöglich gehalten, dass Ronan Wentz Sinn für Humor hatte, aber so sah es aus.

»Hast du gerade mein Auto gedisst?«

»Ja.«

Ich warf ihm einen strengen Blick zu und versuchte, nicht zu lachen. »Du wirst dich bei Bibi beschweren müssen. Der schöne Wagen ist nämlich eigentlich ihrer, auch wenn sie ihn nicht mehr fahren darf.«

»Weil er ins Museum gehört?«

»Sehr witzig. Du hättest ja nicht einsteigen müssen, wenn mein fahrbarer Untersatz deine Autogefühle verletzt.«

»Doch, musste ich. Damit Bibi nicht denkt, dass du ein Arschloch bist.«

»Du bist also nur aus Mitleid eingestiegen.«

»Es ist nichts Bemitleidenswertes an dir.«

Ronan versteifte sich, als wäre ihm das, ohne nachzudenken, rausgerutscht. Plötzlich war da eine Anspannung und vertrieb die Leichtigkeit, obwohl sich gegen meinen Willen Wärme in meiner Brust ausbreitete.

Schnell blickte ich wieder auf die Straße, dabei fiel mir eine rotbraune Linie aus getrocknetem Blut auf Ronans linkem Unterarm auf. Der Schnitt war fast fünfzehn Zentimeter lang und geformt wie ein Haken. Zwei Pflaster waren ungeschickt drübergeklebt, wie Brücken über einen dünnen roten Fluss.

Er ist verletzt …

Ich schüttelte mich innerlich angesichts meines Mitgefühls. Es war wahrscheinlich nur meine Typ-A-Persönlichkeit, die wollte, dass ich mich um ihn kümmerte.

Um die Wunde. Mich um die Wunde kümmerte. Nicht um ihn.

»Ich hab gehört, die Party am Samstag ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen«, sagte ich.

»Könnte man sagen.«

Ich deutete mit dem Kinn auf den Schnitt. »Ist das ein Souvenir von dem Abend?«

»Es ist nichts.«

»Sieht nicht nach nichts aus. Es rötet sich um …«

»Es ist nichts «, sagte er. »Vergiss es.«

Ich hätte eigentlich erwartet, dass ich mich aufregen würde, aber unter seinem barschen Tonfall lauerte die Aura der Einsamkeit, die ich beim ersten Mal an ihm bemerkt hatte. Als wäre es ungewohnt für ihn, dass er Leuten nicht egal war.

Ich ließ es auf sich beruhen und fuhr auf unsere Einfahrt. Wir gingen durch die Garage in die Küche, Ronan hinter mir.

»Bibi, wir sind zu Hause. Ich meine … ich bin zu Hause. Mit Ronan.«

Oh Gott, Mädchen …

Keine Antwort. Ich ging leise durch den Flur und sah, dass Bibis Zimmertür zu war, was hieß, dass sie sich hingelegt hatte. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, war Ronan schon hinten im Garten und harkte den Bereich glatt, in dem er Unkraut und Gestrüpp ausgerissen hatte.

Ich musste mich selbst an die Arbeit machen und mich auf das Wesentliche konzentrieren – das Geschäft, das ich irgendwann aufmachen würde. Aber Ronan wirbelte bei seiner Arbeit Dreck und Staub auf, und ich konnte nicht aufhören, an den Schnitt in seinem Arm zu denken, das verschmierte getrocknete Blut und die traurigen kleinen Pflaster.

»Dieser Riesenidiot hat die Wunde nicht mal richtig gereinigt«, murmelte ich.

Ohne mich von meinen alten Schutzmechanismen davon abbringen zu lassen, holte ich Alkohol, Watte, Verbandsmaterial und eine antibiotische Salbe aus meinem Badezimmer. Im Garten legte ich alles auf den Terrassentisch.

Ronan hielt inne und sah mich stirnrunzelnd an. »Wofür ist das?«

»Die Wunde wird sich infizieren.«

»Du musst das nicht tun, Shiloh«, sagte er leise.

»Ich muss nicht, aber warum sollte ich es lassen?«

Darauf schien ihm nichts mehr einzufallen. Er stellte die Harke weg und setzte sich widerstrebend und steif hin. Ich setzte mich neben ihn und zog vorsichtig die winzigen Pflaster ab.

»Wie ist das passiert?«

»War ziemlich was los auf der Party.«

»Gelinde gesagt.« Ich rutschte mit dem Stuhl dichter heran und tränkte einen Wattebausch mit Alkohol. »Violet hat gesagt, du bist in eine Messerstecherei geraten.«

»Kein Messer. Frankie Dowd hat mich mit einer zerbrochenen Flasche angegriffen.«

»Wie hat es angefangen?« Ich warf ihm ein schiefes Grinsen zu. »Hast du sein Auto beleidigt?«

Er lächelte fast. Aber eben auch nur fast. »Er war scheiße zu Miller. Schon wieder.«

Ich legte eine Hand auf Ronans Unterarm, tupfte vorsichtig die Wunde ab und versuchte, die Muskeln zu ignorieren, die sich unter der Haut bewegten.

»Ich hoffe, du hast ihn nicht umgebracht«, sagte ich, und er zuckte zusammen. Wahrscheinlich, weil der Alkohol brannte.

»Nein«, sagte er mit leiser Stimme. »Holden hat ihn abgelenkt.«

»Holden, der Milliardär?«

»Holden, der durchgeknallte Irre«, sagte er, aber die Zuneigung in seiner Stimme war offensichtlich.

»Die Lost Boys«, sagte ich und wischte das getrocknete Blut weg. »So nennt euch Evelyn Gonzalez.«

Ronan sagte nichts dazu, aber mir schien, als hätte er nicht viel gegen den Namen einzuwenden. Er war einen Moment still, dann sagte er: »Ich hab da nach dir gesucht.«

Meine Hände auf seinem Arm zuckten zusammen, und ich wurde wirklich und tatsächlich rot.

Er hat nach mir gesucht?

»Ich … ich bin nicht hingegangen. Ich kann nichts trinken, und das ist so ziemlich der Sinn von so einer Party.«

»Warum kannst du nichts trinken?«

»Ich hab so eine merkwürdige Allergie gegen Alkohol«, sagte ich. »Schon ein einziger Schluck Bier macht mich total betrunken, und ich krieg sofort einen Kater.«

»Das ist krass.«

»Solche Partys sind eh nicht so meins.«

Aber er hat nach mir gesucht …

Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die Arbeit, nicht auf diese Worte oder den Klang seiner Stimme, als er sie ausgesprochen hatte.

»Meins auch nicht. Ich war wegen Miller da.«

Ich hatte die Wunde gesäubert und nahm jetzt die antibiotische Salbe. Ronan sah zu, wie ich das fettige Zeug auf seine Wunde schmierte, obwohl er dazu auch selbst absolut in der Lage gewesen wäre. Was wir beide wussten.

»Ich denke langsam, ich hätte wegen Violet hingehen sollen.«

»Ja?«

»Sie ist meine beste Freundin, seit wir Kinder waren. Aber ich weiß nicht. Sie scheint auch ganz gut mit Evelyn klarzukommen.«

»Sie und Miller …«

»Es ist kompliziert.« Ich riss die Verpackung der Mullkompresse auf und zog Ronans Arm etwas näher zu mir heran. »Aber wir sollten nicht hinter ihrem Rücken über sie reden. Sie müssen das selbst kapieren.«

»Er liebt sie«, sagte Ronan.

Mein Kopf fuhr hoch, als ich die Sanftmut in seiner rauen Stimme hörte. Er sah mich aus grauen Augen an und zuckte mit den Achseln. »Tut er.«

Ich wandte den Blick ab und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. »Ich weiß. Und sie liebt ihn auch. Aber sie hat ihre Gründe, alles so bewahren zu wollen, wie es ist. Um sich zu schützen. Ich kann das verstehen.«

»Warum?«

Ich hob eine Augenbraue. »Bist du immer so direkt?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich steh nicht auf Bullshit.«

»Ich ehrlich gesagt auch nicht.«

»Also?«

»Ich kann Violets Zurückhaltung verstehen, weil ich mich genauso wenig auf jemanden oder etwas einlassen will, der oder das mich von meinen Zielen ablenkt«, sagte ich. – Eine Unabhängigkeitserklärung, die in Ronans Gegenwart ausgesprochen werden musste.

»Dein Ziel ist der Schmuck«, sagte er.

Ich nickte. »Ich werde ein eigenes Geschäft eröffnen. Was nicht leicht ist für eine Frau und noch weniger für eine Woman of Color. Also arbeite ich wirklich hart, nicht nur, um es für mich zu schaffen, sondern auch, um allen anderen zu beweisen, dass ich es kann.«

Mamas Gesicht stieg in einer Rauchwolke vor mir auf, und ich wedelte es weg.

»Wie auch immer«, sagte ich und klebte die Mullkompresse auf Ronans Arm fest. »Es tut mir leid wegen Miller, aber ich kann Violet absolut verstehen.« Ich sah auf, und Ronan blickte mich mit einer unlesbaren Miene an. »Du nicht?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Dann bist du ein Romantiker?«

»Nein«, stellte er ausdruckslos fest. »Ich seh ihn nur nicht gern leiden.«

»Ah, also ein großer Softie.«

»Das bin ich auch nicht.«

Ich legte das medizinische Klebeband weg und sah ihm in die Augen. »Was bist du dann?«

Ich musste es wissen. Meine pragmatische Seite musste wissen, was zur Hölle Ronan Wentz hatte, was mich so durcheinanderbrachte. Sex-Appeal war die einfache Antwort, aber es war mehr als das. Er war radioaktiv, seine Gegenwart richtete meine Atome neu aus und verwandelte mich in jemanden, den ich nicht wiedererkannte. Jemanden, der sich in Verlegenheit bringen ließ, unsicher wurde, der rot wurde, um Himmels willen …

»Ich bin nichts«, sagte er.

»Niemand ist nichts.«

»Ich war acht, als meine Eltern gestorben sind. Ich wurde zehn Jahre lang von einer Pflegefamilie in die nächste abgeschoben, bevor mein Onkel aufgetaucht ist. Musste in der Zeit mit ziemlich viel Scheiße klarkommen.«

»Zehn Jahre in Pflegefamilien?«

Er nickte.

»Gott, das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich. Er versteifte sich, und ich konnte sehen, dass er es sich auch nicht vorstellen wollte. »Aber ich weiß, was du meinst. Ein bisschen. Meine Mutter …« Ich winkte ab. »Ach, egal.«

Er sagte kein Wort, sah mich jedoch an, und die Botschaft in seinen Augen war klar. Du kannst es mir sagen.

»Ich wollte einfach sagen, dass Violets Eltern früher beste Freunde waren und ihre Ehe jetzt in die Brüche geht. Sie hat nie eine gesunde Beziehung gesehen. Und Miller auch nicht. Und ich auch nicht.«

»Geht mir auch so«, sagte Ronan.

»Also bist du nicht nichts«, sagte ich. »Wir sind alle nur … ich weiß nicht, Geflüchtete aus kaputten Ehen.«

»Kaputt«, sagte er und verzog leicht den Mund. »Ja, das kann man wohl sagen.«

Ich hob den Blick und sah ihn an. Mit Ronan zu reden war, wie an einem Faden zu ziehen – wenn man zu sehr zog, riss er ab. Wider besseres Wissen wollte ich mehr von ihm. Ich wollte wissen, ob wenigstens einmal etwas gut gewesen war.

»Hast du deine Eltern je glücklich gesehen?«, fragte ich sanft. »Bevor sie gestorben sind?«

Sein Arm versteifte sich unter meinen Händen, und seine grauen Augen wurden wieder hart und stumpf.

»Nein. Nie.«

»Sorry. Es geht mich nichts an.« Ich sah seinen frisch versorgten Arm an. »Und ich bin fertig.«

Aber er bewegte sich nicht und ich mich auch nicht. Wir blickten beide auf meine Hände, die ihn noch berührten. Ohne nachzudenken, drehte ich seinen Arm um, zu dem Tattoo einer Hand, die die andere mit einem Dolch durchstach.

»Hands remember« , sagte ich. »Was bedeutet es, dass Hände sich erinnern?«

»Es fehlt die Hälfte«, sagte er. »Hands remember what the mind forgets . Es bedeutet, dass wir vergessen wollen, wenn etwas passiert. Weitergehen. Aber wir können nicht. Es gräbt sich in unsere scheiß Zellen ein. In unser Blut.«

Ich hielt noch immer seinen Arm. »Wenn was passiert?«

Was ist mit deinen Eltern passiert, Ronan?

Wir sahen uns in die Augen, und ich verlor mich ein paar Sekunden in der Tiefe seines Blicks, der nicht mehr hart und stumpf war, wohl aber getrübt von Erinnerungen. Erinnerungen von der Art, die zustechen wie ein Dolch.

Ronans großer Körper schien in meine Berührung zu sinken, ohne sich zu bewegen. Sein Blick wurde klarer und konzentrierte sich auf mich, wanderte über mein Gesicht, mein Kinn, meinen Mund …

Dann blinzelte er wie ein Mann, der aus einer Trance erwacht. Der Faden riss. Er zog seinen Arm weg und stand auf. »Egal.«

Ich blieb leicht erschrocken sitzen, als er die Harke nahm und sie über den schon geharkten Boden zog.

»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte er nach einer Minute, mit dem Rücken zu mir.

»Warum nicht?«, sagte ich und versuchte, beiläufig zu klingen, während ich das Verbandszeug zusammensammelte.

»Ich kann nichts machen, bevor das Material nicht da ist.«

»Wie lange wird es dauern, wenn du es hast?«

»Ein paar Tage.«

Ein paar Tage, dann ist er fertig.

»Die Sachen sollen morgen früh geliefert werden.«

»Dann komm ich morgen wieder.«

»Klar«, sagte ich ebenso steif. »Wie auch immer.«

Drinnen krachte es. Ronan wirbelte herum, und wir sahen uns mit aufgerissenen Augen an. Er warf die Harke hin, und mir fielen die Sachen aus der Hand, als wir ins Haus rannten.

»Bibi?«, rief ich, und das Herz klopfte mir bis zum Hals.

»Hier, Liebes. Ich bin so verflixt tollpatschig.«

Bibi klammerte sich an der Küchenarbeitsplatte fest. Zu ihren Füßen lagen die Scherben der Keramikteekanne.

Ich eilte zu ihr. »Bist du okay? Was ist passiert?«

»Mir geht es gut«, sagte sie und lächelte schwach. »Es ist nichts, mir ist nur ein bisschen schwindelig geworden.«

»Komm, setz dich.« Sanft legte ich den Arm um sie und warf Ronan einen panischen Blick zu. Sein Mund war eine grimmige, besorgte Linie.

»Es ist nichts, wirklich«, sagte Bibi, als ich sie zur Couch führte. »In meinem Alter wird alles schlechter, mein Schatz. Meine Augen sind nicht mehr, was sie mal waren. Ich hab die Entfernung zur Arbeitsplatte falsch eingeschätzt, und die Kanne ist runtergefallen.« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Schande. Ich hab diese Teekanne geliebt.«

»Du hast gesagt, dir war schwindelig.«

»Ich bin achtzig! Das kann schon mal vorkommen.«

Ich tauschte noch einen Blick mit Ronan.

»Wo ist der Besen?«, fragte er, und seine verlässliche Gegenwart half, mich zu beruhigen.

»Hinter der Küchentür.«

Bibi runzelte die Stirn. »Ronan ist hier? Oh jemine, ich fürchte, jetzt ist es mir noch peinlicher. Ich habe Sie gar nicht gesehen, mein Lieber.«

»Kein Problem«, sagte Ronan und ging den Besen holen.

Bibi lehnte sich an mich. »Er ist ein guter Junge, nicht wahr?«

Er ist stur und nervig …

»Ja«, sagte ich. »Er ist ein Guter.«

Er kam ein paar Minuten später zurück. »Alles erledigt. Brauchen Sie noch etwas?«

»Überhaupt nichts.«

»Dann gehe ich. Ich hab schon zu Shiloh gesagt, dass ich nicht arbeiten kann, solange das Material nicht da ist.«

»Verständlich«, sagte Bibi. »Aber ich habe noch ein Blech Kekse gebacken, und diesmal bestehe ich darauf, dass Sie welche mitnehmen.«

»Ms Barrera …«

»Ich bestehe darauf

Ich sah Ronan mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sie besteht darauf.«

Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, und ich grinste. Die Anspannung zwischen uns wich.

»Neben dem Toaster liegen Papiertüten«, rief Bibi, als er wieder in die Küche ging. »Machen Sie eine voll. Oder zwei. Sie sind groß. Sie brauchen Ihre Kraft.«

»Bibi«, flüsterte ich mit geröteten Wangen.

»Es stimmt doch.«

Ronan kam mit einer Tüte zurück, in der nicht sehr viele Kekse sein konnten. »Danke für die Kekse. Kommen Sie auch zurecht?«

»Meinen Sie mich?«, fragte Bibi. »Meine Güte, was für ein Schatz, es geht mir gut.«

Ronan sah zu mir, dieselbe Frage in den Augen.

Ich nickte. »Danke.«

»Auf Wiedersehen, mein Lieber.«

Ronan gab ein Geräusch von sich, das ein Auf Wiedersehen sein konnte, dann drehte er sich um und ging.

»Er hat nicht viele Kekse genommen, oder?«, fragte Bibi seufzend, als die Haustür sich schloss. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne diesen Typ.«

»Diesen Typ?«

Bitte erzähl mir von diesem Typ. Sag mir, was ich von Ronan Wentz halten soll.

»Der Typ, der gibt, aber ungern etwas annimmt.«

»Klingt richtig.« Ich nahm Bibis Hand. »Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«

»Mir geht es gut, meine Kleine.« Sie tätschelte mir die Wange. »In der Tat habe ich einen Mordshunger. Wie wär’s, wenn wir Pizza bestellen?«

»Klingt gut. Und vielleicht einen Film gucken?«

»Was ist mit deiner Arbeit?«

»Ich nehme mir den Abend frei.«

Ich hatte ein paar Etsy-Bestellungen, aber ich würde Bibi auf keinen Fall heute allein lassen. Keine Sekunde.

»Oh, oh«, sagte Bibi. »Mir sollte öfter mal schwindelig werden.«

»Nein, sollte es nicht«, sagte ich, und mir schauderte. »Ich verbiete es dir.«

»Ich werde langsam alt, Shiloh. Ich will keine Last für dich sein, aber …«

»Das bist du nicht«, sagte ich leidenschaftlich. »Das wirst du niemals sein. Du hast mich aufgenommen, Bibi. Wenn hier jemand eine Last ist, dann ich.«

»Denk das niemals, Shiloh. Wirklich nicht. Ich würde es hundertmal wieder tun.« Ihr Tonfall wurde sanft. »Aber wir können nicht bestimmen, wie viel Zeit wir haben, Liebes. Wir können nur das Beste aus der Zeit machen, die uns gegeben wird. Und ich halte jede Minute mit dir in Ehren.«

Heiße Tränen stiegen mir in die Augen, und ich blinzelte sie weg. »Ich auch, Bibi. Jede Minute.«

Bibi tätschelte mir die Wange, dann lächelte sie strahlend. »Und wie wär’s jetzt mit Madea

»Schon wieder?« Ich lachte schniefend. »Welchen?«

»Den ersten natürlich.«

»Den hast du schon hundertmal gesehen.«

»Dann muss er ja richtig gut sein.«

»Dagegen lässt sich nichts sagen.«

Als würde ich ihr je etwas abschlagen.

Ich bestellte Pizza und machte es mir neben Bibi auf der Couch gemütlich. Mein Blick wanderte vom Film zu der Tür, durch die Ronan gegangen war und seine ruhige Kraft mitgenommen hatte. Bibi lachte über Tyler Perrys Späße, und ich versuchte, nicht an die Zeit zu denken, wenn ihr Lachen für immer verstummt wäre. Der Schmerz würde mich in tausend Teile zerbrechen.

Und ich hätte niemanden mehr, der mich wieder zusammensetzen könnte, außer mir selbst.