Samstagnachmittag beförderten Miller und ich einen riesigen Ohrensessel den ganzen Weg von dem Parkplatz, der dem Strand am nächsten lag, bis zur Hütte, wuchteten ihn über Felsen und schwitzten unter der unerbittlichen Sonne.
Seine Lordschaft dirigierte uns und machte keinen Finger krumm. Sobald wir da waren, kriegte Holden den Sessel so gerade eben in die kleine Hütte, setzte sich drauf und grinste.
»Perfekt, oder?«
Nicht mal im Entferntesten. Er war viel zu groß, aber seit wir Holden letzte Woche in die Hütte mitgenommen hatten, hatte er keine Zeit verloren und sie mit Upgrades vollgestopft. Zum Beispiel einem Minikühlschrank und einem Generator, um ihn zu betreiben. Im Kühlschrank lagerten mein Bier und Holdens Wodka, aber ich wusste, dass er ihn eigentlich für die Snacks und Säfte gekauft hatte, die Miller brauchte, um seinen Blutzucker zu regulieren.
Außerdem hatte Holden eine Truhe besorgt, die groß genug war für Millers Gitarre, damit er sie nicht ständig mit sich rumschleppen musste.
Was war im Vergleich dazu schon ein Sessel?
Miller lächelte Holden dankbar an, und wahrscheinlich dachte er dasselbe. »Ist schon okay, der Sessel.« Er setzte seinen Rucksack auf, er musste zu seinem Job in der Spielhalle unten im Boardwalk. »Ich hab um zehn frei.«
»Wir holen dich ab«, sagte Holden, und ich nickte.
Die meisten Abende wanderten wir zu dritt über den Boardwalk und ernteten Blicke und Geflüster von anderen Schülern aus der Central High. Es war uns egal. Seit Chance’ Party war Holden einer von uns, und unser merkwürdiger kleiner Kreis fühlte sich komplett an.
Als wir nach der Party noch ums Feuer gesessen hatten, hatte Holden uns ein bisschen von seiner Vergangenheit erzählt. Von so einem »Wildniscamp« in Alaska, wo seine Eltern ihn hingeschickt hatten, als er fünfzehn war. Was auch immer das für ein Camp gewesen war, es hatte ihn fertiggemacht. Gründlich. Danach hatte er ein Jahr in einem schicken Schweizer Sanatorium verbracht, um sich zu erholen, aber die Auswirkungen dieses Camps blieben. Holden trug Mäntel, Schals und Pullis, egal, wie das Wetter war. Als hätte sich das, was ihm passiert war, wie ein ewiger Frost in ihn eingegraben.
Von da an sorgte ich dafür, dass das Feuer für ihn hoch genug brannte.
An diesem Nachmittag setzte er sich auf einen der drei Steine um die Feuergrube, während ich Holz sammelte.
»Was ist mit dir?«, fragte er, nachdem Miller weg war. »Arbeitest du?«
»Mal hier, mal da.«
»Ein Freelancer also?«
»Klar.«
»Und du wohnst bei deinem Onkel?«
Ich sah ihn nicht an, konzentrierte mich aufs Feuer.
»Ich frag nur«, fuhr Holden fort, »weil ich auch bei meinen Eltern gewohnt hab und jetzt bei meinem Onkel und meiner Tante. Wir sind sozusagen Zwillinge.«
Fast hätte ich gelacht. Holden war Milliardär, hatte einen IQ von fast 150 und trug Klamotten, die mehr kosteten als irgendetwas, was ich je in meinem Leben besessen hatte. Wir könnten nicht unterschiedlicher sein … aber dann fiel mir ein, wie er vor Frankie die Brust entblößt und ihn herausgefordert hatte, ihm ins Herz zu stechen.
»In Wisconsin ist was Beschissenes passiert«, sagte ich. »Ich musste da weg.«
Holden nickte, dachte nach und hob dann den immer präsenten Flachmann mit Wodka an die Lippen. Die Knöchel seiner linken Hand waren weiß bandagiert. Automatisch tastete ich nach der Wunde an meinem Arm, die Shiloh gereinigt hatte. Sie hatte es gut gemacht. Es heilte schnell. Ich hoffte, es würde eine Narbe zurückbleiben, damit ich mich erinnerte. Nicht daran, wie Frankie mich verletzt, sondern wie Shiloh mich verarztet hatte.
»Was ist das da?«, fragte ich, setzte mich und deutete auf Holdens Hand.
»Oh, das?« Er bewegte die verletzten Finger. »Oder fragst du dich, warum heute ein Wodka-Tag ist?«
»Mir kommt’s vor, als wär jeder Tag ein Wodka-Tag.« Neben der Kälte, die Holden bei fünfundzwanzig Grad Celsius schüttelte, schien er auch ein ziemlich ernstes Alkoholproblem zu haben.
»Heute war extra speziell.« Er sah mich unsicher an. »Willst du es hören?«
»Wenn du es erzählen willst.«
Er blickte zum Ozean, der gute zwanzig Meter entfernt ans Ufer donnerte. »Alkohol hält mich warm, weil Alaska mir etwas genommen hat. Es hat mir etwas genommen und mir Albträume – Erinnerungen – hinterlassen, um mich daran zu erinnern, dass ich es nie zurückbekomme.«
»Dieses Camp?«
Er nickte. »Es hat mich kaputt gemacht, und ich war schon vorher ein bisschen angeschlagen. Wir waren sieben Jungs. Man hat uns gebrochen, bis wir fast tot waren. Oder sterben wollten.«
Ich hörte zu, die Zähne fest zusammengebissen.
»Jedenfalls ist das der Grund, weshalb die meisten Tage Wodka-Tage sind. Und weshalb ich manchmal in Badezimmerspiegel schlage.« Er hüstelte. »Oder Leute auf Partys herausfordere, mich zu erstechen.«
Er sah mich wieder an, Zweifel im Blick. Dieselben Zweifel, die ich selbst gehabt hatte, als ich Miller meine Geschichte erzählt hatte. Als hätte Holden Angst, ich würde ihn aus unserer Gruppe verjagen. Ich hatte nicht die Worte, um ihm zu sagen, dass das nie passieren würde.
Aber ich könnte ihm etwas zurückgeben.
»Ich wohne nicht bei meinen Eltern, weil sie tot sind.«
Holden trank gerade aus dem Flachmann und ließ die Hand sinken. »Was ist passiert?«
Ich erzählte es ihm. Er hörte zu und rührte sich kaum, obwohl ich die Details auf ein Minimum beschränkte.
»Mir ging’s ziemlich mies«, sagte ich und betrachtete das Feuer. »Ich musste die vierte Klasse wiederholen und war zehn Jahre lang in Pflegefamilien. Irgendwann hat das Jugendamt den Bruder meines Vaters ausfindig gemacht. So bin ich hier gelandet.«
Holden schwieg eine Minute, dann sagte er: »Es tut mir so leid, was deiner Mutter passiert ist, Ronan.«
Ich nickte, und wir sagten eine Weile nicht viel, sondern sahen die Sonne in den Ozean sinken.
»Was sind wir für ein fröhliches Paar, wir zwei«, sagte Holden genau im richtigen Moment, bevor die Stille zu schwer wurde. »Erzähl mir etwas Gutes, was dir heute passiert ist, Wentz. Egal was. Bevor ich mich ins Meer stürze.«
Shiloh Barrera …
Ich warf einen Stein ins Feuer. Vergiss diesen Quatsch.
Unmöglich. Ich erinnerte mich an jedes einzelne Wort unseres Gesprächs, und es war länger als alle, die ich in den letzten paar Jahren geführt hatte. Ich erinnerte mich an jeden Blick aus ihren braunen Augen und daran, wie sie mich betrachtet hatte. Ich erinnerte mich an jedes Mal, wenn sie mich berührt hatte und wo. Ich konnte ihre sanften Finger auf meiner Haut spüren und das Brennen des Alkohols, als sie die Wunde gereinigt hatte. Wie sie selbst – gleichzeitig scharf und weich …
Sie war etwas Gutes, aber ich musste sie in Ruhe lassen, damit das so blieb.
»Ich bin nicht suspendiert worden.«
»Hey, großartig! Zwei Tage hintereinander.«
Holden hob seine unverletzte Hand für ein High Five. Ich hasste High Fives. Ich klatschte ihn hart ab, und er zischte vor Schmerz und lachte. »Langsam, Tiger.«
»Du bist dran. Etwas Gutes.«
»Hm, ich weiß nicht, ob es gut ist oder eher zum Scheitern verdammt und hoffnungslos , aber …« Er seufzte dramatisch. »Da ist ein Typ.«
»Okay.«
»Ich kann nicht sagen, wer, also frag nicht.«
»Wollte ich gar nicht.«
»Natürlich nicht. Eine deiner liebenswertesten Eigenschaften. Jedenfalls, da ist ein Typ, und ich will nicht, dass da ein Typ ist. Nicht einer, den ich …«
»Ficken will?«
»Das sowieso.«
»Mögen könnte?«
»Genau. Ich kann niemanden mögen. Schlecht für mich, schlimmer für die anderen.« Er schüttelte den Kopf und beobachtete das Feuer, das gegen den aufkommenden Wind kämpfte. »Es ist dumm. Und zu früh. Ich bin nicht hergekommen, damit jeder wache Gedanke von jemandem gekidnappt wird, den ich erst ein paar Tage kenne.« Er lachte, als er meine großen Augen sah. »Nein, es ist nicht Miller. Und es tut mir leid, dir das Herz zu brechen, aber du bist es auch nicht.«
»Wo ist dann das Problem?«
»Das Problem ist, dass der fragliche Typ nicht mein Typ ist, um es milde auszudrücken. Ein ganz normaler guter Junge. Warm, klebrig, alle lieben ihn. Er ist das menschliche Äquivalent eines Käsetoasts.«
»Und?«
»Und? Es ergibt keinen Sinn. Und doch kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken und mich schuldig zu fühlen, weil … ich vielleicht was zu ihm gesagt habe, was ich nicht hätte sagen sollen.«
»Ich bin schockiert«, sagte ich in mein Bier. Holden war ein Klugscheißer mit null Filter.
»Ach, halt den Mund«, sagte er. »Aber, ja. Ich habe was in ihm aufgewühlt, wozu ich nicht das Recht hatte. Ich hab ihm sogar meine Nummer gegeben, falls er reden will. Mit mir ! Als könnte ich tatsächlich jemandem helfen .« Er lachte schnaubend. »Es ist unmöglich.«
»Warum?«
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob er und ich auf derselben Wellenlänge sind, wenn du verstehst, was ich meine. Ich muss aufhören, mich einzumischen. Ihn in Ruhe lassen.«
Ich verdrehte die Augen und schleuderte einen Stein ins Feuer.
Geht das wieder los.
Meine beiden Freunde waren absolut entschlossen, unglücklich zu sein, statt für das einzutreten, was sie wollten.
Holden deutete meine Miene richtig. »Du bist anderer Meinung?«
»Wenn du ihn magst …«
»Lass uns nicht so weit gehen.«
»… dann sag es ihm.«
»Das wird eher schwierig werden, da er explizit darum gebeten hat, dass ich nie wieder das Wort an ihn richte. Und selbst wenn er durch ein Wunder wirklich schwul sein sollte, kann bei einer Geschichte mit mir nichts Gutes herauskommen. Abgesehen von Sex. Bedeutungslosen Sex kann ich gut.« Er kniff die Augen zusammen. »Das soll jetzt kein Angebot sein.«
Ich lachte schnaubend. Wir schwiegen kurz, und Holden erschauderte leicht, als er einen Schluck aus dem Flachmann trank. Ich sprühte mehr Feuerzeugbenzin in die Glut, bis sie zu einer Wand aus Licht und Hitze aufflammte.
»Ist es das, was sie dir in Alaska genommen haben?«
Holden drehte sich ruckartig zu mir um. »Was …?«
»Du hast gesagt, es könnte nichts Gutes dabei rauskommen, wenn du mit diesem Typen zusammen wärst«, sagte ich. »Haben sie dir das eingeredet? Dass du angeblich zu nichts gut bist?«
»Ja«, sagte er langsam. »Aber es hat schon früher mit meinen Eltern angefangen. Und es ist komplizierter …«
»Es ist nichts als Bullshit«, stieß ich hervor. »Wer auch immer dich dazu gebracht hat, das zu denken, egal, wann es angefangen hat, es ist Bullshit.«
Ich trank das Bier aus und holte noch zwei aus der Hütte. Ich stand über Holden und bot ihm eins an. Er sah mich mit Dankbarkeit im Blick an und nahm eins. Der Flachmann wanderte in seine Manteltasche.
Wir tranken unser Bier, während die Sonne tiefer sank, dann drehte Holden sich zu mir um, seine Stimme gedämpfter, als ich sie je gehört hatte.
»Wie war das? Zu sehen … was du gesehen hast?«
Mein ganzer Körper versteifte sich sofort. »Was glaubst du, wie das war, verdammt?«
»Ich hab keine Ahnung«, sagte Holden. »Ich kann’s mir absolut nicht vorstellen. Sosehr ich die Viren in Menschengestalt, die meine Eltern sind, verabscheue … so etwas zu erleben …« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich will ich eigentlich fragen, ob du okay bist.« Ich sah ihn wütend an, und er hob die Hände. »Reiß mir nicht den Kopf ab. Es ist eine berechtigte Frage.«
Ich funkelte ihn weiter an, aber die defensive Wut verrauchte, als ich begriff, dass mich außer meiner Sozialarbeiterin nie jemand nach meinen Eltern gefragt hatte. Sie hatte mir gesagt, dass das kaum jemand tun würde – aus Angst, es würde mich an den Tod meiner Mutter erinnern, wenn sie davon anfingen. Als würde ich den vergessen, wenn ihn niemand erwähnte. Als würde ich nicht jeden Tag den ganzen Tag damit herumlaufen.
Oder es jede Nacht in meinen Albträumen erneut erleben.
Fast hätte ich Holden gesagt, er solle die Klappe halten, aber mich hatte auch noch nie jemand gefragt, ob ich okay sei.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, zum Feuer gewandt. »Ich tue mein Bestes, denke ich. Und ich will nicht drüber reden.«
Holden lächelte – ein seltenes weiches Lächeln ohne scharfe Kanten. »Meinetwegen. Lass uns über etwas weniger Schmerzliches und Traumatisches reden.«
»Zum Beispiel?
»Mädchen. Offensichtlich nicht mein Lieblingsthema, aber ich habe dir den deprimierenden Stand meines Liebeslebens gebeichtet. Falls du wünschst, dir auch etwas von der Seele zu reden, bin ich ganz Ohr.«
Shilohs perfektes Gesicht mit der glatten Haut und den vollen Lippen stieg vor meinem geistigen Auge auf. Ich dachte an die Intelligenz in ihrem Blick, wenn sie sich auf egal welche Aufgabe konzentrierte. Zum Beispiel einen Verbrecher wie mich zu verarzten. Denn das besagte der Klatsch in der Schule: Miller war der Außenseiter, Holden war der Vampir und ich ein Ex-Häftling, der so tat, als wäre er ein Highschool-Schüler.
Irgendwie hatten sie recht. Der Makel der Tat meines Vaters haftete an mir. Allein schon in Bibis Haus zu stehen oder mit Shiloh auf der Terrasse zu sitzen fühlte sich falsch an. Gut, aber falsch. Als wäre ich in ihr perfektes Leben eingebrochen und hätte blutige Fingerabdrücke darauf hinterlassen. Aber wenn ich versuchte, mich zusammenzureißen und einfach in Ruhe meine Arbeit zu machen, brachte Shiloh mich zum Reden. Ich wollte mich nicht von der Stelle rühren, solange sie mir gegenübersaß.
Holden wartete auf eine Antwort.
Da ist ein Mädchen, und ich will nicht, dass da ein Mädchen ist.
»Nee«, sagte ich und kippte das Bier runter. »Es gibt keine.«
Um zehn holten wir Miller an der Spielhalle ab. Er beendete seine Schicht, und wir wanderten über den Boardwalk, kauften uns Pizzastücke und machten ein paar Budenspiele. Danach ging ich nach Hause.
Ich ging überallhin zu Fuß. Zum Glück lagen die Schule, die Hütte, Shilohs Haus und meine Wohnung nicht so weit auseinander, dass ich ein Auto gebraucht hätte. Obwohl es echt ’ne große Hilfe gewesen wär.
Ich ging die Außentreppe zu meiner Wohnung hoch und holte die Schlüssel aus der Tasche. Aber die Tür öffnete sich schon bei der leichtesten Berührung, gab den Blick frei auf einen schmalen Streifen tiefschwarzer Dunkelheit.
»Nelson?«, fragte ich und holte langsam den Taser raus, den ich Frankie geklaut hatte. »Bist du das?«
Mit der anderen Hand tastete ich an der Wand nach dem Lichtschalter, als ich es spürte. Ihn. Jemand wartete …
Mit einem Mal erwachte die Dunkelheit zum Leben, atmete, bewegte sich. Blind stürmte ich vor, und etwas schlug mir schwer aufs Handgelenk. Der Taser schlitterte über den Linoleumboden in den Küchenbereich. Riesige Hände packten mich an Hals und Schultern, dann rammte mir jemand ein Knie in den Magen, und der Schmerz explodierte. Ein weiterer Schlag kam aus der Dunkelheit, meine Lippe platzte auf, dann stieß mich jemand zu Boden.
Ich war noch nicht wieder zu Atem gekommen, als das Licht anging.
Über mir stand drohend ein großer Typ, mit dem Rücken zu der eingetretenen Tür. Er war mittleren Alters, trug Trainingshosen, ein T-Shirt, das sich über seiner massigen Gestalt dehnte, und eine blaue Windjacke. Sein rötliches Haar war schon schütter auf dem Kopf, und aus dem geröteten Gesicht stachen hellblaue Augen hervor.
Ich rappelte mich auf, Schmerz und Schock von Wut überlagert.
»Willst du das noch mal versuchen?«, knurrte ich. »Mit Licht an?«
»Ich würd’s an deiner Stelle lassen«, sagte der Typ, als ich einen Schritt auf ihn zuging. Er zog die Windjacke zur Seite und enthüllte eine Pistole, die er in einem Holster trug. Sein Lächeln ließ mich erschaudern. Er lächelte genauso krank wie mein Vater, wenn er verkündete, dass meine Mutter »Ärger« kriegen würde.
»Ronan Wentz, ja?«, sagte der Typ. »Ich heiß Mitch. Aber du kannst mich Officer Dowd nennen.«
Mitch Dowd. Er sah absolut locker aus und klang auch so, aber ich spürte auch, wie seine Anspannung wuchs, während er wartete, dass ich einen Zug machte.
»Ich hätte dich verhaften lassen können, weil du meinem Sohn die Nase gebrochen hast, aber ich kümmere mich gern persönlich um solche Sachen.«
»Fick dich.« Ich spuckte Blut auf meinen Teppich, auf dem er stand. »Und ihn auch.«
Mitch lachte leise, aber sein Blick wurde ausdruckslos. »Ich hab deine Akte gelesen, Wentz. Du bist ein Krimineller. So verkommen wie dein Vater.« Sein Blick fiel auf den Taser, der auf dem Küchenboden lag. »Und ein Dieb noch dazu. Ich glaub, das ist Polizeieigentum, Junge.«
Gott, er klang sogar wie mein Dad.
»Ich will, dass du den holst und ihn mir gibst. Langsam . Ganz langsam.«
Er legte eine Hand auf den Griff seiner Pistole, die andere hielt er auf. Ich holte den Taser aus dem Küchenbereich und ging zu ihm, sah ihm dabei ununterbrochen in die Augen. Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt und bereit. Aber neben dem Adrenalin raste noch etwas anderes wie elektrischer Strom durch meine Nervenbahnen.
Angst.
Er sah ganz anders aus als mein Dad, und doch war die Ähnlichkeit unheimlich, katapultierte mich in eine andere Zeit. Plötzlich war ich kurzatmig, mein Mund wie ausgetrocknet. Ich übergab ihm den Taser, und sobald der seine linke Hand berührte, verschwamm das Blau seiner Jacke, da er mir blitzschnell die Rechte aufs Auge rammte – ein Schlag, den ich hätte kommen sehen müssen.
Mir dröhnte der Kopf, aber ich quittierte den Schlag mit einem Grunzen und beantwortete ihn mit einem rechten Haken, der ihn am Mund traf. Einen anderen hätte das glatt umgehauen, aber Mitch Dowd zuckte kaum zusammen. Ich kassierte einen Schlag in die Niere, noch einen in den Magen, dann schleuderte er mich quer durchs Zimmer. Ich krachte mit der Schulter voran auf den billigen Couchtisch, der unter mir zersplitterte wie Brennholz.
Mit einem zufriedenen Lächeln fuhr Mitch sich mit dem Daumen über die Lippe und wischte das Blut weg.
»Das war eine Warnung, Wentz«, sagte er und ging zur Tür. »Mehr als eine kriegst du nicht.«
Dann war er weg, und ich blieb eine Minute auf dem kaputten Tisch liegen, benommen vor Schmerz und blutigen Erinnerungen.
Langsam kriegte ich wieder einen klaren Kopf und rappelte mich gerade hoch, als Maryann Greer, die Mieterin von unten, den Kopf durch die Tür steckte.
»Ronan …? Oh mein Gott …«
Ich winkte ab, aber es war zu spät. Sie eilte zu mir und führte mich sanft und ruhig zum Küchentisch.
»Was um alles in der Welt ist passiert? Ich hab den Krach gehört und einen Mann weggehen sehen. Einen ziemlichen Schrank.«
»Es ist nichts«, sagte ich, ließ mich auf den Stuhl sinken und hielt mir die Hand vor das Auge, das schon anfing zuzuschwellen. »Sie sollten gehen.«
Wenn er zurückkommt …
»Gehen?« Maryann stand vor mir und sah mich aus blauen Augen an. Sie trug Jeans, ein altes Sweatshirt, das dunkelblonde Haar war achtlos zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Wohl kaum. Ich rufe die Polizei an.«
»Der war von der Polizei.«
Sanft zog sie die Hand von meinem Auge weg. »Um Himmels willen, was ist hier passiert ? Und sag nicht nichts.«
»Es ist vorbei. Er ist gekommen, um eine Rechnung zu begleichen. Das ist alles.«
»Du hast offene Rechnungen mit den Cops?« Maryann wühlte in meinem Gefrierschrank, fand nichts, versuchte es im Kühlschrank. »Du hast kein Eis. Und auch kaum etwas zu essen.«
»Mir geht’s gut.«
»Blödsinn. Bleib da sitzen«, sagte sie und ging aus der Tür. »Rühr dich nicht vom Fleck.«
»Maryann …«
Aber sie war schon weg.
Wut flammte in mir auf, wollte weiterkämpfen, aber eine Welle der Scham spülte sie hinweg. Eine einzige Leuchtstoffröhre erhellte meine Wohnung. Mein Couchtisch war nur noch Kleinholz. Auf dem Teppich war ein Blutfleck.
Sorry, Mom. Ich geb mir Mühe.
Maryann kam mit einer Tüte Tiefkühlerbsen zurück. Statt sie mir zu geben, stellte sie sich neben mich und drückte mir die Tüte aufs Auge, mit der anderen Hand hielt sie sanft meinen Nacken. Für eine Weile saß ich einfach da mit Maryann und ihren Erbsen, und ihre Sorge umwehte mich warm und mütterlich. Sie roch nach Spüli mit Zitronenduft.
Ich schloss die Augen und ließ es noch eine Minute lang zu, dann versteifte ich mich und schob sie weg.
»Ich schaff das schon, danke.« Ich nahm den Beutel und hielt ihn mir ans Auge. »Sie können gehen.«
Maryann schürzte die Lippen, dann setzte sie sich auf den Stuhl mir gegenüber und stützte die Arme auf eine Weise auf den Tisch, die deutlich sagte Ich gehe nirgendwohin .
»Du bist noch jung«, sagte sie. »Du gehst in die Highschool, oder?«
»Wenn ich es schaffe.«
»Wer kümmert sich um dich? Dein Onkel jedenfalls nicht«, sagte sie düster. »Er kümmert sich einen Sch…« Sie klappte den Mund zu und sah kurz beunruhigt aus. »Ich wollte nicht respektlos sein.«
»Ist schon okay. Er ist ein Arsch.«
»Was kann ich tun?«, fragte sie. »Denn das hier«, sie deutete auf den zerbrochenen Tisch, »ist nicht okay.«
Ich wusste, dass Maryann Greer sich in einer Buchhaltungsfirma abrackerte und einen Onlinekurs machte, um einen Abschluss zu machen. Um einen besseren Job zu kriegen und ihren Mädchen ein besseres Leben bieten zu können. Die Müdigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben und ließ sie älter aussehen, als sie war.
»Ich brauche nichts.«
Ich nehme von Ihnen nichts an.
»Ich bin nicht dieser Meinung. Ronan, ich …«
»Mami?«
Lillian und Camille, die sechsjährigen Zwillinge, steckten verschlafen und neugierig die Köpfe in die Wohnung.
»Ich hab gesagt, ihr sollt im Bett bleiben«, sagte Maryann.
»Wir konnten nicht schlafen«, sagte eine.
»Ja, es war so laut hier«, sagte die andere.
Sie hatten Maryanns blondes Haar und ihre blauen Augen. Beide trugen Nachthemden mit Schmetterlingen und einem Buchstaben drauf, C und L. Sie sahen erst mich an und dann mit großen Augen den zerbrochenen Tisch.
»Sie sollten das nicht sehen«, sagte ich leise zu Maryann.
»Ja, das stimmt. Aber über diese Sache reden wir noch«, sagte sie und stand auf. »Mädchen …«
Zu spät. Die Zwillinge waren schon in die Wohnung gerannt und umringten mich. Ihre Energie erfüllte meine kleine dunkle Wohnung und machte sie heller.
»Bist du okay?«
»Warum hast du Erbsen im Gesicht? Ist dein Auge ganz dick dadrunter?«
Eine linste unter den Ärmel meines T-Shirts. »Du hast eine Eule auf der Schulter! Und ’ne voll eklige Schramme, iih …«
»Hast du dich geprügelt? Ist das deswegen?«
»Ronan hat … gewrestlet«, sagte Maryann.
Sofort leuchteten die Gesichter der Mädchen auf, und sie tauschten aufgeregte Blicke.
»Echt?«
»Das glaub ich nicht!«
Maryann beugte sich zu mir. »Sie lieben WWE Frauenwrestling. Spiel einfach mit.«
»Ja, doch, ich hab gewrestlet«, sagte ich. »Hab für ein Match trainiert.«
»Das ist so cool!«
»Hast du einen Piledriver gemacht? Das find ich am besten.«
»Ich find’s gut, wenn sie von den Seilen in den Ring geschleudert werden.« Lillian sah sich mit einem Stirnrunzeln um. »Ich seh gar keine Seile …«
Maryann hob die Hände. »Okay. Cami. Lily. Wir lassen Ronan jetzt mal in Ruhe. Zurück ins Bett.«
Sie ließen enttäuscht die Schultern hängen. Und ich auch. Ein bisschen.
Die Tüte mit den Keksen, die ich vorgestern von Bibi mitgenommen hatte, lag noch unberührt auf der Arbeitsplatte. »Mögt ihr Schokoladenkekse?«
Wieder erhellten sich ihre kleinen Gesichter, während Maryann mir einen Auf-keinen-Fall -Blick zuwarf.
Ich tat so, als hätte ich es nicht gesehen.
»Eine alte Dame hat die gemacht«, sagte ich und hielt mir weiter die Erbsen aufs Auge, während ich die Kekstüte holte. »Sie ist eine Großmutter, also müssen sie gut sein.«
Ich gab die Tüte Cami, die einen Keks rausnahm, ihn ihrer Zwillingsschwester gab und sich dann selbst einen nahm. »Die sehen so lecker aus! Dürfen wir, Mami?«
Maryann verschränkte die Arme und sah mich mit einem betrübten Kopfschütteln an.
»Die sind von einem meiner Jobs«, sagte ich. »Guten Menschen.«
Seufzend gab sie nach. »Okay, aber nur einen.«
»Yay!«
»Was sagt man?«
Die kleinen Mädchen flogen auf mich zu und legten die Arme um meine geprellten Rippen, was ich allerdings kaum merkte. Ich hielt die Hände hoch, weil ich nicht wagte, sie zu berühren, bis sie mich losließen.
»Danke, Mr Ronan!«
»Vielen Dank!«
»Okay, okay.« Maryann scheuchte sie zur Tür und warf mir über die Schulter einen ratlosen Blick zu. »Geht wieder runter, Mädchen. Ich komm in einer Minute nach.«
Sie sah zu, wie sie die Treppe runter und wieder in ihre Wohnung gingen, dann drehte sie sich zu mir um.
»Sie mögen dich«, sagte sie.
»Muss das Wrestling sein.«
»Oder die Kekse«, sagte sie mit einem trockenen Lächeln. »Geht’s dir bestimmt gut?«
»Ja. Es ist vorbei, wirklich«, sagte ich, obwohl ich mich fragte, was passieren würde, wenn Frankie beschloss, mich zu testen und sich wieder mit Miller anlegte. Oder mit Holden.
Ich würde ihn verprügeln, wenn er einen von ihnen anrührt.
Aber ich hatte Mitch Dowd schon einmal hierhergebracht, viel zu nah an Maryann und ihre Mädchen.
Fuck.
Maryann deutete meinen finsteren Gesichtsausdruck richtig. »Leg die Erbsen in den Gefrierschrank, und schlaf ein bisschen. Pack sie morgen wieder drauf. Hast du was gegen die Schmerzen?«
»Ich hab alles.«
Sie nickte langsam, dann ging sie widerstrebend zur Tür, als wollte sie mich nicht allein lassen. »Gute Nacht, Ronan.«
»Jepp.«
Sie zog die Tür hinter sich zu, aber die ging wieder auf. Das Schloss war kaputt. Dowd musste es irgendwie aufgebrochen haben. Ich warf die Erbsen in meinen Gefrierschrank und zog einen der billigen Küchenstühle zur Tür, um ihn unter die Klinke zu klemmen. Nachdem Lily und Cami weg waren, war die Stille in der Wohnung undurchdringlich und schwer.
Ich ging ins Bad und sah mir den Schaden an. Die Lippe war aufgeplatzt, nicht allzu schlimm, aber das rechte Auge sah krass aus. Geschwollen und blau bis runter auf den Wangenknochen und mit einer kleinen Wunde, wo er mich mit seinem Ring erwischt haben musste.
Ich hob das T-Shirt hoch und schnappte nach Luft. Mein Oberkörper war übersät mit blauen Flecken. Die rechte Schulter, mit der ich auf den Tisch geknallt war, versteifte sich, und auch unter dem Uhu-Tattoo bildeten sich blaue Flecken. Der Vogel starrte mich im Spiegel an, als wollte er sagen: Was hast du erwartet?
So konnte ich nicht zur Schule und auch auf keinen Fall zu den Barreras, auch wenn Shiloh den Schuppen brauchte. Wenn das Auge nächsten Montag nicht besser war, würde ich abwarten und dann doppelt so hart und schnell arbeiten, damit er fertig würde.
Und dann hältst du dich von dort fern und störst nicht länger ihr Leben.
Es war noch früh, noch nicht mal ein Uhr, aber es tat zu sehr weh, und ich war zu steif und hatte zu große Schmerzen, um noch rumzulaufen, und wäre ohnehin niemandem eine Hilfe. Ich legte mich hin und wusste, dass die Albträume schlimmer werden würden, von echtem Schmerz gefärbt.
Und ich hatte recht.