9. Kapitel

Shiloh

Die ganze nächste Woche verkroch ich mich mit der am Freitag fälligen Geschichtsarbeit in der Schulbibliothek, statt nach Hause zu gehen, wo Ronan jeden Tag in unserem Garten arbeitete. Ich las alles über die Romanows, und Gedanken an Ronan störten jede zweite Minute meine Konzentration. Ich fragte mich – sorgte mich –, wie er mit seiner Hausarbeit vorankam, und ermahnte mich dann zum millionsten Mal, dass er meine Hilfe nicht wollte.

Ich kam voran, kam mir jedoch feige vor. Ich versteckte mich sonst nie. Ich ging alles immer ohne Umschweife an und erledigte es schnell. Immer.

So wie die Sache mit Mama? , flüsterte eine Stimme.

Das war ein völlig anderes Schmerzlevel. Es war unerträglich genug, dass sie mich hasste. Auch noch den Grund dafür zu erfahren könnte mich völlig fertigmachen. Ronan Wentz, sagte ich mir, war nur eine Ablenkung. Die beste Art, mich um ihn zu kümmern, war … es nicht zu tun.

Ronan musste denselben Gedanken gehabt haben. Ich sah ihn lediglich im Geschichtsunterricht, und er redete nicht mit mir. Verdammt, er sah mich kaum direkt an.

Gut so , dachte ich und ignorierte den Stich in meiner Brust … und die Erinnerung daran, wie wir vor dem alten Waschsalon gestanden hatten. Seine grauen Augen waren nicht hart wie Stein, sondern weich wie Rauch gewesen, als er mich angesehen hatte. Sein Blick hatte auf meinem Mund geruht. Aus dieser Nähe hatte ich den Geruch nach Lagerfeuer an ihm wahrnehmen können. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich gedacht, dass er mich küssen würde. Nicht küssen, sondern verschlingen …

Falsch. Es ist falsch, falsch und nochmals falsch , sagte ich mir, während ich Ronans Gegenwart all die Sitzreihen hinter mir noch spürte. Keine Komplikationen. Kein Drama.

Aber dieser verdammte Stich blieb die ganze Woche. Er bohrte sich immer tiefer, bis es richtig wehtat.

Donnerstagnachmittag war ich mit dem Essay fertig. Zugegebenermaßen nicht meine beste Arbeit. Hoffentlich ein gutes B. Ich fuhr gegen fünf nach Hause und parkte den Buick in der Garage. In der fast leeren Garage. Mein Arbeitstisch und alle meine Werkzeuge und Materialien waren weg. Für einen Moment war ich geschockt.

»Bibi?«, rief ich und eilte durch die Küche ins Haus. »Ich bin zu Hause.«

»Hier draußen, mein Schätzchen«, rief sie von der Terrasse. Hinter ihr stand der fertige Arbeitsschuppen.

Ich erstarrte, mein Blick auf den schlichten kleinen Schuppen geheftet. Grün mit weißen Zierleisten, einer Doppeltür und sogar einem Fenster, das Ronan mir schon auf den Entwürfen gezeigt hatte.

Bibi klatschte in die Hände. »Unglaublich, oder? Geh rein und sieh, was er gemacht hat.«

Langsam zog ich die Türen auf. Drinnen roch es sauber und neu nach gesägtem Holz und frischer Farbe. Ronan hatte meinen Tisch aus der Garage geholt und die Plastikbehälter mit den Materialien ordentlich auf einer Seite gestapelt. An zwei Wänden befanden sich Regale, und darauf lagen alle meine Werkzeuge. Ronan hatte mir unzählige Gänge von der Garage hierher erspart.

Ich strich mit der Hand über ein perfektes Regal und atmete tief ein. Unter dem neuen Holz und der Farbe konnte ich fast das Lagerfeuer riechen. Schwach und schon verblassend.

»Das hat unser Junge wirklich gut gemacht, nicht wahr?«, sagte Bibi, als ich wieder rauskam.

Unser Junge.

Tränen traten mir in die Augen.

»Shiloh?«

»Es ist albern«, sagte ich und blinzelte. Ich weinte nicht . »Ich werde völlig grundlos emotional.«

»Nicht völlig grundlos«, sagte Bibi sanft.

Ich sank auf den Stuhl neben ihr. »Der Schuppen ist wirklich perfekt und wird alles so viel leichter machen. Wahrscheinlich bin ich deshalb …«

»Ganz bestimmt«, sagte Bibi und tätschelte mir die Hand.

»Danke, Bibi.« Ich umarmte sie. »Ich bin dir so dankbar.«

»Gern geschehen, Liebes. Ich weiß, du wirst wunderschöne Dinge darin erschaffen. Werden wir Ronan jetzt noch sehen, nachdem der Schuppen fertig ist?«, fragte sie, leicht wie eine Feder.

»Nein«, sagte ich. »Warum sollten wir?«

»Ach, Kind.« Sie legte kurz die Hand auf meine Schulter, dann stand sie auf und ging hinein.

Ich umfasste meine Ellbogen, und mir war, als hätte sie mich gerade eines Verbrechens für schuldig befunden, das ich nicht begangen hatte. Ronan hatte es klargemacht – neulich Abend und durch sein eisiges Schweigen in der Schule –, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Auch wenn mich das irgendwo tief in meinem Inneren traf, wo ich nicht hinsehen wollte, konnte ich nichts dagegen tun.

Ich betrachtete den Schuppen und konnte immer noch nicht glauben, dass er wirklich mir gehörte. Ich würde so viel besser und härter darin arbeiten können – das war alles, was zählte.

»Ich kann genauso gut gleich anfangen.«

Ich ging an die Arbeit und legte mir alles zurecht. Das dauerte nicht lange – Ronan hatte die Sachen verstaut, als wüsste er genau, wie ich es bräuchte, um so effizient wie möglich zu sein. Ich arbeitete schnell in der sauberen frischen Luft und im Sonnenlicht statt in der dunklen, dreckigen Garage.

Als ich für den Tag Schluss machte, waren alle Spuren von Ronan ausgelöscht.

»Dann mal her damit«, sagte Mr Baskin am nächsten Tag in Geschichte. »Geben Sie Ihre Hausarbeiten nach vorn durch.«

Violet und ich tauschten Blicke. »Ich habe kein gutes Gefühl«, murmelte sie. »Diese Arbeit ist unter extrem harten Umständen entstanden.«

Ich lächelte sie sanft an. Die ganze Schule tuschelte, weil Violet auf dem Homecoming-Ball von River Whitmore versetzt worden war. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, hatte sie auch noch Miller und Amber Blake bei einer nicht sehr jugendfreien Beschäftigung entdeckt.

Und ich war nicht für sie da gewesen.

Stattdessen hatte ich meine Zeit mit Ronan verschwendet und Rippchen geholt, und meine absurde Fantasie hatte mir vorgegaukelt, dass er mich fast geküsst hätte.

»Das wird schon«, sagte ich zu Violet. »Du schreibst so eine Hausarbeit doch im Schlaf.«

Ihr Lächeln schwand. »Wenn ich nur schlafen könnte.«

Der Typ hinter mir tippte mir auf die Schulter und übergab mir den Stapel unserer Reihe. Ich legte meine Arbeit – in einer sauberen Mappe abgeheftet – zu den anderen, die genauso aussahen, und bemerkte, dass eine Arbeit nur zusammengetackert war, mit leicht ausgerissenen Seitenrändern, als wären die Blätter aus einem Collegeblock herausgerissen worden.

Ronan …

Ich gab den Stapel weiter nach vorn und biss mir auf die Lippe. Baskin hatte explizit gesagt, dass die Arbeiten getippt sein sollten. Hoffentlich würde es ihm nicht sofort auffallen. Vielleicht würde er Ronan nur ein paar Punkte abziehen. Und vielleicht war es gar nicht seine …

Mr Baskin blätterte durch den Stapel und runzelte die Stirn über der dicken Brille. Er hob die handgeschriebene Arbeit hoch und kniff die Augen zusammen.

»Ronan Wentz.« Er sah über die Brille hinweg, bis er ihn in meiner Reihe ganz hinten entdeckte. »Ich hatte mehr als einmal gesagt, dass die Arbeit getippt sein sollte.«

Mir wurde heiß vor Wut, dass er Ronan vor allen anderen so bloßstellte. Die ganze Klasse drehte sich nach ihm um. Ich blickte nach vorn, damit es nicht noch peinlicher für ihn war.

»Mr Wentz? Haben Sie etwas dazu zu sagen?«

»Ich habe keinen Computer«, sagte Ronan mit leiser Stimme, und in dem Augenblick hasste ich Baskin.

»Dafür gibt es die Schulbibliothek«, sagte Baskin. »Es gibt keine Entschuldigung dafür, die Arbeit nicht wie gefordert abgegeben zu haben.« Er ging durch den Gang an mir vorbei zu Ronan und legte ihm die Arbeit auf den Tisch. »Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, das zu berichtigen. Tippen Sie Ihren Text ab, und geben Sie ihn mir wieder. Ich ziehe Ihnen pro Tag eine halbe Note ab.«

»Heute ist Freitag«, sagte Ronan.

»Dann ist es hoffentlich eine sehr gute Arbeit.«

Baskin fuhr mit dem Unterricht fort, aber ich konnte mich kaum konzentrieren. Als es klingelte, strömten alle nach draußen und zerstreuten sich. Ich blieb an der Tür stehen.

»Gehst du nach Hause?«, fragte Violet.

»Äh, noch nicht. Telefonieren wir am Wochenende?«

»Klar.«

Ich griff mir in die Braids und zog daran. Meine beste Freundin ging allein weg, weil ich auf einen Typen wartete. Ich wollte mich gerade besinnen und Violet hinterherrennen, als Ronan mit finsterer Miene aus dem Klassenraum kam. Baskin hatte ihn wahrscheinlich aufgehalten und noch mehr runtergeputzt.

Ronan sah mich nicht an, sondern ging mit gesenktem Kopf rasch den Weg hinunter.

»Hey«, rief ich und holte ihn ein. Ich musste praktisch joggen, um nicht zurückzufallen.

Ronan grunzte einen Gruß.

»Es war echt scheiße, was Baskin gemacht hat.«

»Er hat recht. Die Arbeit sollte getippt sein.«

»Aber er musste es dir nicht vor der ganzen Klasse sagen. Lass uns in die Bibliothek gehen. Jetzt.«

»Wozu?«

»Wir tippen deine Arbeit ab und legen sie Baskin ins Fach, bevor er geht.«

»Das wird nicht funktionieren.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht so schnell tippen kann.« Er blickte über das Schulgelände, überallhin, außer zu mir. »Es ist verdammt peinlich, aber … ich hatte nie einen Laptop oder einen Computer. Ich war nie lange genug an einem Ort, um es zu lernen.«

Das waren seine Worte, aber ich hörte heraus, dass er seine ganze Zeit und Energie dafür gebraucht hatte, zehn Jahre in Pflegefamilien zu überleben. Der Schmerz in meiner Brust wurde stärker.

»Ich tippe sie für dich ab.«

»Warum?«, fragte er schroff, mit Misstrauen im Tonfall.

Weil ich will.

Und weil Ronan jemandem versprochen hatte, dieses Schuljahr zu schaffen. Aber ich wusste, dass er keine der beiden Antworten akzeptieren würde. Er würde es für Mitleid halten, und er war für heute schon genug in Verlegenheit gebracht worden.

»Als Dank für den Schuppen. Er ist mehr als perfekt.«

»Bibi hat mir gedankt. Ich hab Geld dafür bekommen.«

»Das war von ihr. Jetzt bedanke ich mich.« Ich zupfte am Ärmel seiner Jeansjacke. »Wir haben nicht viel Zeit. Wenn wir Baskin in seinem arschgesichtigen Spiel schlagen wollen, müssen wir uns beeilen.«

Ronan zögerte noch einen Moment, dann nickte er. »Stimmt wahrscheinlich.«

»Übertreib’s mal nicht mit der Begeisterung«, sagte ich grinsend. »Das wird klappen.«

Wir liefen in die Bibliothek, und ich setzte mich vor einen der Computer, während Ronan steif hinter mir stand und die Arme verschränkte.

»Die Arbeit«, sagte ich und streckte die Hand aus wie eine Chirurgin, die um ein Skalpell bittet.

Ronan holte die Arbeit aus seinem Rucksack. »Scheiß drauf«, murmelte er, dann gab er sie mir.

Das Erste, was mich schockte, war die Länge. Mehr als die zehn Seiten, die Baskin gefordert hatte.

Und schlimmer noch, sie war richtig gut.

Verdammt. Ronan sieht nicht nur aus, wie er aussieht, er ist auch noch wahnsinnig klug. Ich werde auf die Probe gestellt. Das Universum stellt mich auf die Probe.

Während ich tippte, trat Ronans Intelligenz immer klarer hervor, wenn auch auf sehr zurückhaltende Art. Einfache, aber starke Sätze. Dann sein Mitgefühl für die fast vierzehnhundert Menschen, die dank schlechter Planung bei der Massenpanik gestorben waren. Es war nicht nur eine Hausarbeit über ein tragisches Ereignis, sondern ein überzeugendes Argument, dass die Herrschaft von Nikolaus II. von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

»Wie bist du so schnell geworden?«, fragte Ronan nach ein paar Minuten.

»Übung«, sagte ich, den Blick auf dem Papier, während meine Finger flogen. »Ich mag’s nicht, wenn mich etwas bremst.«

Er machte ein Geräusch, das fast ein Lachen sein konnte. »Sieht so aus.«

Die nächsten zehn Minuten tippte ich, so schnell ich konnte. Mir war bewusst, dass die Zeit lief und Ronan hinter mir stand und sich darauf verließ, dass ich helfen konnte, seine Note zu retten.

»Was steht da?«, fragte ich und hielt das Papier hoch, wo ein Tintenfleck ein Wort verschmiert hatte.

»Gedenkend«, sagte er. Er rieb sich verlegen den Nacken. »Shiloh … Du musst das nicht tun. Es ist es nicht wert.«

»Doch, ist es«, sagte ich. »Du solltest an deiner Rechtschreibung arbeiten, und deine Kommasetzung ist eine Katastrophe, aber die Arbeit an sich ist wirklich richtig gut. Und wenn Baskin das nicht sieht, ist er ein Arschloch.«

»Aber …«

»Psst. Ich arbeite.«

Ronan lachte leise schnaubend, und zwanzig Minuten später war ich fertig. Ich ging auf Drucken, und wir rannten aus der Bibliothek ins Verwaltungsgebäude.

Drinnen saßen Büroangestellte an ihren Schreibtischen oder redeten in kleinen Gruppen. Wir liefen zu Ms Oliveri, der Empfangssekretärin.

»Ist Mr Baskin noch hier?«

»Ich fürchte, nein. Er ist für heute gegangen.«

»Scheiße.«

Ms Oliveri zog eine Augenbraue hoch.

»Komm schon, Shiloh«, sagte Ronan. »Lass uns gehen.«

»Gib nie auf. Gib dich nie geschlagen.« Ich sah Ms Oliveri an. »Wann ist er gegangen?«

»Vor Kurzem. Ein paar Minuten …«

»Parkplatz«, sagte ich und schnappte mir Ronans Hand. Sie war groß und stark und schwielig von der Arbeit … zum Beispiel an meinem Schuppen. Ich zog ihn aus dem Verwaltungsgebäude und hielt noch seine Hand, als wir zum Lehrerparkplatz kamen.

»Oh, sorry.« Ich ließ ihn schnell los und gab ihm stattdessen die Arbeit. Wir sahen uns auf dem Parkplatz um. »Da.«

Baskin schloss gerade seinen braunen Hyundai auf und balancierte die Schlüssel, eine Aktenmappe und eine Thermoskanne mit Kaffee.

»Mr Baskin! Warten Sie!«

Er sah uns kommen, schürzte die Lippen unter seinem Schnurrbart. Ronan hielt Baskin die Arbeit hin, der nahm sie mit zusammengekniffenen Augen und beäugte Ronans abgetragene Jacke und die Tätowierung, die halb unter dem Ärmel zu sehen war. Er überflog die Seiten; je mehr er las, desto weicher wurden die strengen Linien in seinem Gesicht. Er sah auf, unfähig zu verbergen, wie beeindruckt er war. Dann war sein verurteilendes Stirnrunzeln zurück.

»Wie sehr haben Sie Mr Wentz geholfen?«

»Gar nicht. Ich hab nur alles abgetippt. Ein paar Rechtschreibfehler korrigiert. Das ist alles.«

»Ich habe das geschrieben«, sagte Ronan.

Baskin kniff wieder die Augen zusammen. »Plagiat ist ein sehr ernstes Vergehen, Mr Wentz …«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Er hat nicht …«

»Ich habe das geschrieben«, wiederholte Ronan.

Baskin schürzte die Lippen. »Es gibt Methoden, um herauszufinden, ob das stimmt.« Er klemmte sich die Arbeit unter den Arm. »Ich sehe Sie beide am Montag, oder ist noch etwas?«

»Nein, sonst nichts«, sagte ich kurz angebunden.

Baskin warf uns einen letzten zweifelnden Blick zu. Wir traten zurück, und er fuhr los.

»Was für ein Arschloch«, stieß ich hervor, als er weg war. »Deine Arbeit ist hervorragend. Sie ist klug und stark und … tiefgründig. Sie ist zu hundert Prozent du

Ich spürte Ronans Blick auf mir und kapierte, was ich gesagt hatte. Meine Wangen brannten. »Ich meine … na ja, wir haben es jedenfalls geschafft.«

»Du hast es geschafft«, sagte Ronan. Er sah mich an wie neulich Abend, und der Parkplatz – der komplette Planet – kam mir plötzlich völlig leer vor. Da waren nur er und ich …

»Ich hab gar nichts gemacht«, sagte ich.

»Du hast wahrscheinlich meine Note gerettet. Das ist sehr viel.«

Die Worte hingen in der Luft. Ich, die ich alles haargenau plante und vorbereitete, hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde. Ich war benommen und gleichzeitig in Hochstimmung. Und dieses Gefühl ging überhaupt nicht. Ich ließ mich zu sehr ein. Mir war viel zu wichtig, ob dieser Typ in Geschichte bestand oder nicht.

Viel zu wichtig. Punkt.

»Ich muss los«, stieß ich hervor. »Hab echt viel Arbeit.«

Ronan versteifte sich. »Ja, ich auch.«

Wir drehten uns um und gingen getrennte Wege, wechselten von allein zu zweit zu einfach nur allein.

Montagnachmittag fehlte Violet in Geschichte. Sie hatte mir getextet, dass sie lange aufgeblieben war, um für den SAT und den AP-Test zu lernen. Aber ich wusste, dass es ihr wehtat, in die Schule gehen zu müssen und Miller und Amber Blake Händchen halten zu sehen.

Es ist wie ein Stich ins Herz , sagte ihre Nachricht.

Ich wünschte, ich könnte ihr irgendetwas sagen, damit sie sich besser fühlte, aber mein Herz war völlig durcheinander, und mit Violet über meine Gefühle zu reden kam mir albern vor, verglichen mit dem, was sie durchmachte.

Baskin gab uns die Arbeiten über die Russische Revolution zurück. Bei mir stand ein A minus in roter Tinte auf dem Deckblatt.

»Insgesamt bin ich sehr beeindruckt«, sagte Baskin fast widerstrebend. »Ein paar von Ihnen haben sich wirklich interessante Schwerpunkte ausgesucht.« Er schien Ronan anzusehen, als er das sagte.

Ich wollte unbedingt wissen, was für eine Note Ronan bekommen hatte. Nicht, dass es mich so sehr kümmerte, sagte ich mir. Ich wollte nur sichergehen, dass meine Mühe nicht umsonst gewesen war.

Nach der Stunde wartete ich draußen. »Und?«

»B minus«, sagte Ronan.

»Was? Das kann nicht sein. Deine Arbeit war besser als meine.«

»Ich hab bestanden. Dank dir.«

»Quatsch, ich hab schon gesagt, dass ich gar nichts gemacht hab.«

»Doch, hast du. Ich weiß es zu schätzen. Wirklich.« Er sah mich aus grauen Augen an. »Danke.«

Ich wollte einen Witz machen – meine übliche Verteidigung. Stattdessen sagte ich sanft: »Gern geschehen.«

Ronan sah sich um und rieb sich den Nacken, als wäre er nervös. Es sah untypisch aus … und süß.

»Also, ich hab nachgedacht. Es gibt da diesen Ort …«

Ich rührte mich nicht vom Fleck, mein Puls zählte die Sekunden bis zu seinen nächsten Worten.

»Am Strand. Liegt ein bisschen abseits, wo die Klippen bis ans Meer reichen. Miller, Holden und ich sind da oft nach der Schule und am Wochenende. Machen ein Lagerfeuer, reden und trinken Bier.«

»Okay …«

»Also, vielleicht … wenn du Lust hast zu kommen und mit uns abzuhängen, dann könntest du. Wenn du Lust hast.«

»Ich soll …?« Mein Magen und mein Herz fühlten sich an, als gehörten sie einer anderen Person. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch, und mein Puls raste, wie es mir noch nie bei einem Typen passiert war. Ich musste mich bemühen, um meinen Tonfall beiläufig zu halten. »Du lädst mich ins geheime Versteck der berüchtigten Lost Boys ein?«

»Sozusagen.« Er sah zu Boden, dann wieder zu mir. »Also … hast du Lust?«

JA.

Der Gedanke war so laut, er muss ihn gehört haben. Aber er wurde übertönt von den Alarmglocken in meinem Kopf, die losschrillten und sagten, dass ich ihm ohnehin schon zu nahe gekommen war. Und wie sehr das Violet verletzen würde.

»Miller wär auch da?«

»Klar.«

»Dann geht das nicht. Violet ist meine beste Freundin.«

Ronan runzelte die Stirn. »Na und?«

»Sie und Miller reden kaum noch miteinander.« Ich schüttelte den Kopf, die Enttäuschung traf mich hart. »Das Mädchen, mit dem er auf dem Homecoming-Ball was angefangen hat, ist auch eine Freundin von mir. Es ist alles ein Riesenchaos, und ich … ich kann nicht da hinkommen. Ich kann das Violet nicht antun.«

»Versteh ich.« Er rieb sich das Kinn, kratzte mit den Stiefeln über dem Boden. »Vielleicht ist es eh besser so … Okay. Man sieht sich.«

»Oh, wow … okay«, sagte ich, als er ohne ein weiteres Wort davonging. »Das war’s dann wohl.« Das plötzliche Ende unserer merkwürdigen Bekanntschaft oder Freundschaft oder was immer das zwischen uns war.

Nichts. Da ist nichts zwischen uns.

Ich sah, wie Ronan zwischen den anderen Schülern verschwand.

»Ohne ihn bin ich sowieso besser dran«, sagte ich laut und ignorierte den Stich in meinem Herzen, der mir sagte, dass das eine Lüge war.