Draußen erklangen männliche Stimmen und retteten mich vor einem zu emotionalen Moment. Miller und Holden waren hier, und ich war plötzlich nervös, als hätte ich gleich ein wichtiges Vorstellungsgespräch.
»Alles cool«, sagte Ronan. »Sie wussten, dass du kommen würdest.«
Ich nickte, strich den Rock glatt und sah, wie Ronan den Kompass-Anhänger unter sein T-Shirt gleiten ließ. Es versetzte mir einen Stich, aber ich ermahnte mich, dass wir abgemacht hatten, unser Verhältnis geheim zu halten.
Ronan hält sich nur an die Regeln.
Er sah meinen Gesichtsausdruck und erklärte es mir: »Er ist absolut perfekt, aber ich hab’s nicht gern, wenn sich Leute in meine Angelegenheiten einmischen.«
Oder auch nicht.
Ich drehte mich weg, bevor er sah, dass ich rot wurde.
Draußen standen Miller und Holden in der Nähe der Klappstühle und unterhielten sich. Sie sahen auf, und Holden strahlte wie ein stolzer Vater. Er kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Du musst Shiloh Barrera sein«, sagte er fröhlich. »Ronan hat mir fast gar nichts von dir erzählt.«
Ich lachte. »Das klingt nach ihm.«
Holden war absolut umwerfend aus der Nähe, aber ganz anders als Ronan. Elegant, raffiniert, mit silbern gefärbtem Haar und durchdringenden grünen Augen, in denen die Intelligenz funkelte. Ronan hatte Köpfchen; Holden sah aus, als hätte er hundert Bibliotheken durchgelesen, und roch nach teurem Cologne, Nelkenzigaretten und Wodka. So, wie ich mir den Geruch eines Pariser Kaufhauses vorstellte.
»Fühl dich wie zu Hause«, sagte er und verbeugte sich. »Und, wenn ich das hinzufügen darf, es wurde wirklich Zeit. Wenn wir jetzt noch Miss Violet herbekommen könnten …«
»Da kann ich vielleicht helfen«, sagte ich und ging zu Miller, der schon saß und seine Gitarre stimmte.
Er warf mir einen trockenen Blick zu. »Muss echt ein gutes Geburtstagsgeschenk gewesen sein.«
»Ach, sei still. Ist das okay für dich? Ich will nicht, dass du dich bedrängt fühlst.«
»Es ist okay, Shi. Ich freu mich wirklich, dass du hier bist. Mit ihm.«
Ich wurde wieder knallrot. »Ja, na ja … kommt Amber auch heute?«
»Nein«, sagte er, und seine Miene verdüsterte sich. »Und bitte erzähl ihr nichts hiervon, okay?«
»Mach ich nicht«, sagte ich langsam und runzelte die Stirn. »Ich dachte nur, wo ihr seit Monaten zusammen seid …«
»Sie war noch nie hier. Wir bringen hier nicht einfach jeden mit.«
Es haute mich um, was das bedeutete. Ronan hatte mich vor Monaten gefragt, ob ich mit herkommen wollte. Nach Homecoming.
Miller sah mich an. Ich räusperte mich. »Was ist mit Violet? Dürfte sie kommen?«
Er versteifte sich und sah aus, als würde er protestieren wollen. Dann nickte er. »Ja, sie schon«, sagte er mit belegter Stimme.
Ich ging noch ein paarmal in jener Woche mit zu der Hütte und redete mir ein, dass ich eher den Weg für Violet bereiten wollte, als so viel Zeit wie möglich mit Ronan zu verbringen. Aber vor allem war es einfach schön, da zu sein. Ich wohnte seit vierzehn Jahren in Santa Cruz und hatte den Ozean noch nie so sehr zu schätzen gewusst. Einfach dort in seiner Nähe zu sitzen und zu lauschen, wie die Wellen sich überschlugen, während ein Lagerfeuer mir das Gesicht wärmte. Ich verstand, warum die Jungs diesen Platz liebten.
Holden unterhielt uns mit verrückten, urkomischen Geschichten über seine Zeit in einem Schweizer Sanatorium. Er sagte nicht, warum er dort gewesen war, und ich würde ihn nicht ausfragen. Manchmal spielte Miller Gitarre und sang für uns. Ich ertappte ihn, wie er Ronan und mich mit einem wehmütigen Blick ansah.
Endlich erklärte Violet sich bereit mitzukommen. Miller war offiziell noch mit Amber zusammen, aber alle drei waren unglücklich, und es musste sich etwas ändern. Allein die Freundschaft zwischen Miller und Violet war es wert, gerettet zu werden, auch wenn sonst nichts dabei herauskam.
An dem Abend gingen sie – nach einem etwas holprigen Start – ein paar Schritte und wirkten weniger befangen, als sie zurückkamen. Ich hatte die Hoffnung, dass sie wieder zueinanderfinden würden.
Die Jungs verarschten sich gegenseitig, Miller spielte für uns, und es wurde spät. Auf der anderen Seite des heruntergebrannten Lagerfeuers schliefen Violet und Miller unter einer Decke ein.
Holden, der allein war, rappelte sich betrunken auf. Er legte einen Finger auf die Lippen und warnte uns, sie nicht aufzuwecken, dann taumelte er davon.
»Kommt er klar?«, flüsterte ich.
Ronan zuckte die Achseln, verzog grimmig den Mund. »Ich weiß es nicht. Er ist oft betrunken. Ich weiß nicht, was ich für ihn tun kann.«
»Du bist hier«, sagte ich. »Das weiß er. Du bist für ihn da.«
»Immer«, sagte Ronan, dann deutete er zu Miller. »Und für ihn.« Er sah mich an. Und für dich.
Er brauchte die Worte nicht zu sagen, damit ich sie hörte, und ich fühlte mich plötzlich total schlecht, weil ich mir solche Mühe gab zu beweisen, dass Ronan und ich kein Paar waren.
»Tut mir leid, das vorhin«, sagte ich. »Als ich so kurz angebunden war.«
»Welches Mal?«, fragte Ronan und lächelte in sein Bier. »Ich war schon dabei, den Überblick zu verlieren.«
Ich stupste ihn gegen den Arm. »Jedes Mal. Als du angeboten hast, mir die Wasserflasche aufzumachen. Violet hat uns angesehen, und ich hasse dieses Gefühl.«
»Welches Gefühl?«, fragte Ronan mit einem trockenen Grinsen. »Hilfe anzunehmen?«
»Ja , du Klugscheißer. Es ist so, wie du gesagt hast, ich mag’s nicht, wenn Leute sich in meine Angelegenheiten einmischen. Auch wenn es meine beste Freundin ist.«
»Es ist besser, wenn sie nichts von uns weiß«, sagte Ronan. »Sie ist mit Evelyn Gonzalez befreundet, oder?« Er trank das Bier aus. »Wenn Evelyn es herausfindet, weiß es die ganze Stadt.«
»Stimmt.« Ich betrachtete Ronans Profil. Im Licht des Feuers sahen seine Augen silbrig aus, sein Kiefer war schärfer umrissen von den Schatten, die über sein Gesicht tanzten. »Du hast es wirklich ernst gemeint, oder? Dass du mich vor Dowd beschützen willst oder vor …?«
»Ja.« Ronan wandte sich mir zu, sah mich an, seine Stimme war leise und eindringlich. »Ja, ich meine es wirklich verdammt ernst.«
Ich lehnte mich zurück. Hitze durchloderte mich, als ich das gefährliche Funkeln in seinen Augen sah. Es galt nicht mir, sondern denen, von denen er glaubte, sie könnten mir wehtun wollen. Mir wurde heiß zwischen den Beinen, ich wollte ihn, während mein Herz noch etwas völlig anderes wollte. Was es nicht sollte.
Wir sind schon so weit weg von unverbindlich, es ist nicht mal mehr witzig.
Ich sprang auf und wischte mir den Sand von der Hose. »Ich muss nach Hause. Bibi wird sich schon fragen, ob ich noch bei ihr wohne.«
Ronan nickte und packte seinen Kram zusammen.
»Was ist mit den beiden. Glaubst du, sie kommen klar?«, flüsterte ich und deutete auf Miller und Violet, die gemeinsam unter der Decke schliefen. Ihr Kopf lag unter seinem Kinn, er hatte den Arm um sie gelegt.
»Ja«, sagte Ronan. »Endlich kommen sie klar. Dank dir.«
»Ich hab ihnen nur einen Schubs gegeben.«
Ich wünschte, jemand würde das auch für mich tun.
Ein Teil von mir wollte meine Vorsichts- und Schutzmaßnahmen in den Wind schießen und zulassen, dass ich mich in Ronan verliebte. Es wäre so leicht.
Aber der andere, stärkere Teil von mir fragte sich, ob ich es überleben würde, wenn er das nicht erwiderte.
Die Nacht war dunkel, und der Mond versteckte sich hinter silbernen Wolken, aber Ronan führte mich sicher über den Uferweg zurück, als könnte er ihn mit geschlossenen Augen finden. Wir kamen zum Parkplatz, als sich am Himmel die erste Dämmerung zeigte.
Schon bevor ich in den Buick stieg, wollte Ronan mich an sich ziehen, aber ich versteifte mich.
Er wich zurück. »Alles okay?«
»Ja. Ich bin nur müde.«
Eine schwache Ausrede. Die anderen Male war ich auch nicht müde gewesen, als wir die Morgendämmerung auf dem Rücksitz meines Autos begrüßt hatten, wo wir praktisch übereinander hergefallen waren. Die Fenster beschlugen bei unseren heißen Umarmungen, die Kleidung verrutschte, aber wir zogen uns nie aus. Ronan hielt sich zurück. Er ging es um meinetwillen langsamer an. Und wir hielten die ganze Sache schließlich unverbindlich. Freunde mit Extras. Keine großen Gesten oder Liebeserklärungen nötig. Oder gewollt.
Aber selbst ohne Sex verlor ich mit Ronan immer mehr die Kontrolle, entblößte mich jeden Tag mehr, bis ich irgendwann völlig nackt sein würde. Er würde mich ganz sehen, und dann?
Dann wird er gehen.
Ich suchte in meiner Tasche nach den Schlüsseln und schaffte es, die Tür zu öffnen. Ronan hielt sie mir auf, statt zum Beifahrersitz herumzugehen.
»Soll ich dich nicht fahren?«
»Nein«, sagte er. »Ich gehe zu Fuß.«
»Bist du sicher?«
»Bin ich.«
Ich verschränkte die Arme. »Bist du jetzt sauer, oder was? Ich bin nur müde. Das wird ja wohl noch erlaubt sein.«
Das erste Tageslicht zeigte sich gerade über den Bergen im Osten; Ronans Gesichtsausdruck war unlesbar.
»Mir ist einfach danach, ein Stück zu gehen, Shiloh«, sagte er leise, und ich fühlte mich sofort scheiße.
»Okay. Gute Nacht.«
»Jepp.«
Ich stieg ein. Ronan machte mir die Tür zu und wartete, bis ich losfuhr. Er wurde kleiner im Rückspiegel, dann bog ich um die Ecke, und er war weg.
Bibi war wach und fuhrwerkte in der Küche herum, als ich ankam.
»Sorry, Bibi. Ich bin am Strand eingeschlafen.«
Sie lächelte bei sich, als sie einen Glaskrug mit O-Saft aus dem Kühlschrank holte. »Du riechst nach Lagerfeuer. Und nach Ronan.«
»Bibi!«
»Ich sage nur, wie es ist.« Ihr Grinsen bekam etwas Durchtriebenes. »Ich war auch mal achtzehn, weißt du.«
»Oh mein Gott …«
»Und außerdem freue ich mich. Ich finde ihn wunderbar für dich.«
»Sag so was nicht. Es ist nichts Ernstes.«
Sie schürzte die Lippen und goss mir ein Glas O-Saft ein. »Das sagst du schon die ganze Zeit. Und trotzdem warst du fast jede Nacht diese Woche mit ihm zusammen. Und es ist spät geworden.«
»Da sind nicht nur wir. Wir treffen uns mit Freunden«, sagte ich. »Violet war auch da. Ich hab sie dazu gebracht mitzukommen, damit sie sich mit Miller verträgt.«
»Gut gemacht! Ein kleiner Amor, was? Wenn du jetzt noch Pfeil und Bogen auf dich selbst richten könntest …«
Sie gab mir einen Klaps auf den Hintern und kicherte.
»Du hast viel zu gute Laune für diese Uhrzeit. Ist gestern irgendwelche Post für mich gekommen?«, fragte ich, froh, das Thema wechseln zu können.
»Noch nicht, Schatz.«
»Verdammt.«
Ich hatte einen Antrag auf eine Gewerbezulassung und eine Verkaufslizenz gestellt und wartete auf Antwort von der Stadt. Wenn ich beides bekäme, wäre ich meinem eigenen Laden einen Schritt näher.
»Es wäre schön, die Genehmigungen zu kriegen, bevor jemand anders den alten Waschsalon mietet.«
»Er stand jetzt so lange leer, er muss für dich bestimmt sein«, sagte Bibi. »Aber der alte Laden ist furchtbar heruntergekommen. Wäre es nicht schön, wenn dir jemand hilft, ihn zu verschönern?«
Ich spannte mich an und atmete dann aus. »Ich brauche weder Ronans noch sonst irgendwelche Hilfe. Ich schaff das allein. Ich bin schon so weit gekommen.« Ich lächelte, um den Worten die Spitze zu nehmen. »Und ich geh jetzt duschen.«
»Shiloh …«
Es klopfte an der Tür.
Bibi blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Küchenuhr. »Wer könnte das sein? Um diese Zeit?«
Sie blieb beim Esstisch stehen und sah mir hinterher, als ich ging, um das herauszufinden.
Ich öffnete meiner Mutter die Tür.
Mir stockte der Atem, und mir wurde ganz flau. Ich hielt mich am Türrahmen fest und traute meinen Augen nicht.
»Was … was tust du hier?«
»Ich hab gestern einen späten Flug genommen«, sagte Mama, ihr Blick schoss überallhin und landete schließlich auf mir. Sie sah mich an. Sie atmete ruhig ein und straffte sich. »Ich muss mit dir reden, Shiloh.«
»Du bist den ganzen Weg gekommen, um mit mir zu reden? Es ist sieben Uhr morgens …«
»Du bist jetzt achtzehn, und ich denke, es ist Zeit«, sagte sie und verdrehte den Riemen ihrer Handtasche in den Händen. »Achtzehn Jahre habe ich gewartet, und plötzlich halte ich es keine Minute länger aus.«
Ich trat zur Seite, aber sie blieb in der Tür stehen. Sie trug Jeans und einen roten Pulli unter dem Mantel. Ein gelbes Haarband hielt ihre Locken zurück.
Blau, Rot und Gelb. Die Primärfarben , dachte ich und fragte mich, ob ich gerade den Verstand verlor.
»Hallo, Marie«, sagte Bibi argwöhnisch.
»Hallo, Bibi. Wie fühlst du dich?«
»Das kommt darauf an«, erwiderte meine Urgroßmutter mit Nachdruck. Sie ging zur Couch und setzte sich mit einem schweren Seufzer.
Ich konnte den Blick nicht von Mama abwenden, hatte Angst, sie würde verschwinden, wenn ich blinzelte. »Was … was ist los?«, fragte ich. »Geht es Bertie gut? Onkel Rudy?«
»Es geht ihnen gut. Ich hab doch gesagt, dass wir reden müssen.« Mama klammerte sich an ihre Tasche wie an einen Schutzschild. Irgendwie sah sie jünger aus als im Sommer. Zerbrechlicher. Vielleicht, weil sie nicht auf ihrem Territorium war, sondern meinem. »Jetzt, da ich hier bin … weiß ich nicht, ob es die richtige Entscheidung war.«
»Marie«, sagte Bibi warnend und schüttelte den Kopf.
»Doch!«, rief ich. »Ich bin froh, dass du hier bist.« Ich zog sie ins Haus und machte die Tür hinter ihr zu. »Ich will mit dir reden. Ich will immer mit dir reden.«
Mama trat widerstrebend ein, sie und Bibi sahen sich auf eine Weise an, die ich nicht verstand.
»Willst du Saft? Oder Kaffee …?«
Ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme, aber Mama war hier . Sie hätte nicht sechs Stunden Flug auf sich genommen, wenn man das Gespräch auch am Telefon führen könnte. Es war so weit. Sie war hier, um mir zu sagen, wer mein Vater war und was zwischen ihnen vorgefallen war. Alles.
»Nein, danke. Können wir vielleicht unter vier Augen reden?«
»Natürlich. Auf der Terrasse …?«
Mama ging sofort nach hinten raus. Bibi nahm meine Hand. »Shiloh, warte …«
»Es ist okay. Ich will es hören. Mehr als alles andere.«
Auch wenn es mir eine Heidenangst macht.
Ihr Griff wurde fester. »Hör mir zu, Shiloh. Du weißt, wer du bist. Egal, was sie sagt, egal, was sie dir erzählt, es kann nichts daran ändern.«
»Aber genau darum geht es doch«, flüsterte ich. »Ich weiß eben nicht , wer ich bin. Sie wird es mir sagen. Endlich.«
Bibi schloss kurz die Augen, dann ließ sie meine Hand los. »Wahrscheinlich musste dieser Tag irgendwann kommen.«
Sie war so sicher, dass etwas Schreckliches passieren würde, dass sich der Knoten in meinem Magen noch enger zusammenzog, aber ich eilte zu meiner Mutter auf die Terrasse. Wegen der Rasensprenger waren die schmiedeeisernen Stühle und der Tisch noch nass, Tropfen lagen darauf wie Glasperlen.
»Wir können in mein Zimmer gehen«, schlug ich vor.
»Wir müssen uns nicht hinsetzen«, sagte Mama. Und sie sah wirklich aus, als würde sie gleich wieder wegrennen. »Wie geht es Bibi? Ist ihr wieder schwindelig geworden?«
»Nein. Es geht ihr großartig.«
»Sie wird alt, und ich weiß, dass sie schlecht sieht.«
Ich richtete mich auf. »Hast du Angst, dass du mich wieder zurücknehmen musst?«
Mama zuckte zusammen bei der Frage, dann sah sie zu dem Schuppen hinter mir. »Der ist neu.«
»Ronan hat ihn gebaut«, platzte ich heraus.
»Wer ist Ronan?«
»Er ist …« Ich begriff, dass ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, und das tat weh. Noch dazu lag mir ein riesiger Felsblock auf der Brust, weil meine Mutter hier war – eine Fremde in meinem eigenen Garten.
»Er ist hübsch«, sagte sie.
»Er ist für meine Arbeit«, sagte ich. »Ich arbeite nämlich, Mama. Ich mache Schmuck, bis mir die Augen brennen und die Finger wehtun. Da ist fast nichts außer der Arbeit.«
»Damit du dein Geschäft eröffnen kannst.«
»Ja, deshalb. Aber auch …« Ich schluckte einen dicken Klumpen Stolz hinunter. »Um mich vor dir zu beweisen. Damit du stolz auf mich bist. Obwohl mir das unmöglich zu sein scheint.«
Sie sah mich aus dunklen Augen an und schwieg lange.
»Mama …?«
»Kennst du den Ursprung deines Namens, Shiloh?«
Ich runzelte die Stirn. »Bibi hat gesagt, er bedeutet ›friedlich‹.«
»Es ist typisch Bibi, so etwas zu sagen.«
»Was soll das heißen?«
Sie ignorierte meinen scharfen, abwehrenden Tonfall oder hörte ihn nicht. Sie ging über die Terrasse, berührte die zarten rosa und lila Fuchsien, die aus einem Topf in der Ecke der Pergola hingen.
»Unsere Vorfahren haben im Bürgerkrieg gekämpft. In der First Louisiana Native Guard. Wusstest du das?«
»Ja«, sagte ich langsam. »Onkel Rudy hat eine gerahmte Zeichnung von General Andre Cailloux in seinem Arbeitszimmer.«
Mama nickte. »Mein Vater – dein Großvater – hat mir die Geschichten erzählt, die ihm sein Großvater erzählt hat. Er sagte, die Schlacht von Shiloh war eine der blutigsten in dem ganzen Krieg.«
»War unsere Familie dabei?«
»Nein. In dieser Schlacht haben keine Schwarzen Soldaten gekämpft, aber der Name ist bei mir hängen geblieben. Weil die Entscheidung, ob ich dich behalten soll oder nicht, wie eine Schlacht für mich war.«
Im Garten herrschte plötzlich Stille.
»Und?«, fragte ich kurz angebunden. »Hast du gewonnen, Mama? Oder hast du verloren?«
Sie schwieg, aber es lag alles in diesem Schweigen. In ihren Augen, die mich nicht ansehen konnten. Der Boden wankte unter meinen Füßen, als wäre ich auf einem sinkenden Schiff. Ich packte die Rückenlehne eines Stuhls, um nicht umzukippen.
»Ach, Shiloh. Ich war neunzehn. Ich war verliebt.« Sie schnaubte leise. »Als hätte ich gewusst, was das bedeutet. Ich hatte eine vielversprechende Zukunft vor mir und habe sie aufgegeben. Für ihn. Der größte Fehler meines Lebens.«
Und ich dachte, ich war der größte Fehler deines Lebens.
Fast hätte ich es ausgesprochen, aber sie war so nah dran, mir endlich die Wahrheit zu verraten. Ich hielt den Atem an, das Herz klopfte mir in der Brust. Mamas Augen schimmerten, ihre Lippen öffneten sich, sie holte Luft … und dann trat sie vom Abgrund zurück und unterdrückte alles wieder.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte sie, und ihre Stimme war wieder fest. Kalt. »Ich bin noch nicht bereit. Bibi weiß das. Deshalb bin ich hier nicht willkommen.« Sie lächelte reumütig. »Sie kennt mich besser, als ich mich selbst kenne.«
»Was? Nein! Bitte, Mama.« Ich beugte mich über den Stuhl und packte ihn so fest, dass das kalte Metall sich schmerzhaft in meine Finger grub. »Rede mit mir. Wer ist er? Wer ist mein Vater? Sag es mir …«
Aber es war zu spät. Es stand nur der Terrassentisch zwischen uns, aber sie hätte genauso gut wieder zurück am anderen Ende des Landes sein können. Am anderen Ende der Welt.
»Du hast keinen Vater, Shiloh«, sagte sie steif. »Ich habe die Schlacht verloren, aber du bist verletzt worden, und das tut mir leid. Es tut mir so leid.« Sie ging um den Tisch herum und berührte meine Wange. Ihre Finger waren kalt auf meiner Haut. »Du trägst an nichts die Schuld. Vergiss das nicht. An nichts. Ich wünschte nur, ich wäre stärker. Für dich. Ich habe es versucht, aber …«
Sie ließ die Hand sinken und wandte sich zur Tür.
»Du gehst?« Ich starrte sie an, mein Atem ging schwer. »Du bist gerade erst gekommen. Du hast mir überhaupt nichts gesagt. Nur kryptischen … Blödsinn .«
Sie tat so, als hätte sie mich nicht gehört. An der Terrassentür drehte sie sich um. »Ich bin nicht Mutter genug, um dir Ratschläge zu geben. Ich habe mir das nicht verdient, aber ich tue es trotzdem. Sei vorsichtig, Shiloh. Sei sehr vorsichtig. Aus Liebe macht man Dummheiten.«
»So wie mich«, sagte ich, und meine Stimme wankte. »Ich bin die Dummheit, die du gemacht hast.«
Sie antwortete nicht, sondern ging ins Haus und ließ mich allein auf der Terrasse stehen.
Der Garten verschwamm vor meinen Augen, als wäre ich unter Wasser. Langsam ging ich hinein. Bibi saß auf der Couch und kraulte eine der Katzen. Mama war schon nicht mehr da.
»Was war das gerade?«, fragte ich.
»Ach, Liebes. Komm, setz dich zu mir.«
Ich sank neben Bibi auf die Couch und starrte zur Tür.
»Was hat sie dir erzählt, Shiloh? Hat sie …?«
»Mir die Wahrheit gesagt? Nein.« Steif drehte ich den Kopf. »Du musst es mir sagen, Bibi. Sag mir alles, was du weißt.«
»Ich kann nicht …«
»Weißt du, wer mein Vater ist? Weißt du, was zwischen ihm und Mama vorgefallen ist?« Ich spürte die Tränen kommen. »Ich bin die Schlacht, die sie verloren hat, Bibi. Um mir das zu sagen, ist sie hergekommen.«
Bibi schloss die Augen. »Gott, Liebes, es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
»Ihr auch. Allen tut es leid, und niemand sagt mir was.«
»Es steht mir nicht zu«, sagte sie. »Deine Mutter muss entscheiden, ob sie dir ihr Herz öffnet. Aber ich bin böse auf sie. Einfach so hier aufzutauchen, obwohl sie nicht bereit ist und dir Dinge sagt, die dir nur wehtun und dich verwirren.« Sie schüttelte grimmig den Kopf. »So töricht.«
»Ich hasse es, mich so zu fühlen«, sagte ich leise. »Ihr, aber auch dir gegenüber.«
»Ich weiß, aber es lässt sich nicht ändern. Ich habe etwas versprochen. Und es ist wichtig, sein Wort zu halten.«
»Auch wenn es mich verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf. Die warmherzige Person, die mich Tausende Male getröstet hatte, wirkte jetzt unbeweglich und steif. Ihr Tonfall war fest. »Das tut mir leid, Shiloh. Aber ich habe auch mir selbst etwas versprochen: immer zu tun, was für dich das Beste ist. Damit du glücklich sein kannst.«
Ich begriff, was sie meinte, und die Furcht setzte sich in meinem Magen fest. Mir die Wahrheit zu sagen ist schlimmer, als mich im Dunkeln zu lassen.
Ich stand auf. »Ich hab nicht viel Schlaf gekriegt letzte Nacht. Ich leg mich hin. Brauchst du was?«
»Nein, Schatz, aber warte …«
Ich tat etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte: Ich ignorierte sie und ging in mein Zimmer. Mein Herz, das schon angeknackst war, brach noch weiter durch unseren Streit. Ich rollte mich auf dem Bett zusammen und ging an dem Tag nicht zur Schule. Und auch am nächsten nicht.
Und nicht am übernächsten.
Mein Telefon meldete ständig ankommende Nachrichten, bis ich es stumm schaltete, ohne sie anzusehen.
Am dritten Tag, an dem ich in Jogginghose und einem alten T-Shirt auf der Couch lag und mit Bibi ihre Serien guckte, stellte sie sich irgendwann vor mich hin und stemmte die Hände in die Hüften.
»Wie lange willst du noch hier herumliegen? Du verpasst viel in der Schule.«
»Ich nehme mir ein paar Tage Zeit für mich.«
»Das sieht dir nicht ähnlich, Shiloh.«
Ach nein? Wer sagt das? Ich weiß nicht, wer ich bin.
Sie seufzte, als ich schwieg, und setzte sich neben mich, legte die Hand sanft auf meine Schulter.
Ich konnte ihr nicht übel nehmen, dass sie hielt, was auch immer sie meiner Mama versprochen hatte, aber diese drei schmerzhaften Tage waren nötig gewesen, um uns wieder dorthin zu bringen, wo wir gewesen waren – und auch der Schock über den plötzlichen Besuch meiner Mutter hatte so lange gebraucht, um abzuklingen.
Der Kater danach dauerte allerdings an.
Ein Schmerz hatte sich in meiner Brust oder meinem Herzen festgesetzt … oder tiefer als das. Er war wie ein Messerstich in meiner verdammten Seele. Ich dachte an Ronans Mutter. Es war schrecklich, dass er sie verloren hatte, aber vielleicht war das besser als eine Mutter, die lebte und herumlief und für die ihr eigenes Kind eine verlorene Schlacht war.
Die Sonne nahm die goldene Farbe des Abends an, als mein Telefon auf dem Couchtisch vibrierte. Ein Anruf.
»Wirst du da rangehen?«, fragte Bibi.
»Nein.«
Im Fernsehen rügte Richterin Judy einen Mann, weil er sich nicht an die grundlegenden Fakten seines eigenen Falls erinnerte.
»Es ist Ronan, oder?«, fragte Bibi. »Er macht sich wahrscheinlich schreckliche Sorgen.«
»Er will nicht, dass jemand weiß, dass wir zusammen sind.«
»Das klingt nicht nach ihm.«
»Er hat seine Gründe. Und es ist nichts Ernstes . Weil ich auch meine Gründe habe.«
Das Telefon summte erneut.
»Shiloh.« Bibi machte keine Witze.
Ich seufzte und nahm das Telefon in die Hand. Zwei verpasste Anrufe und ein halbes Dutzend Nachrichten.
Bist du okay?
Shiloh?
WTF ?
»Es ist Ronan.« Ich schloss lange die Augen, dann legte ich das Telefon wieder weg.
»Rede mit mir, Schatz«, sagte Bibi jetzt etwas sanfter. »Komm schon. Es war falsch, was deine Mutter getan hat, aber ich bekomme langsam Angst.«
»Tut mir leid«, sagte ich und setzte mich auf. Meine Braids waren aufgeraut, mein Sweatshirt fleckig. »Ich hasse mich, wenn ich so bin. Mama hasst mich. Ende.«
»Das tut sie nicht, Schatz. Und ich finde es schrecklich, dass sie dir dieses Gefühl vermittelt. Dass du denkst, man könne nur allein stark sein.«
»Aber es stimmt. Ich kann mein Herz nicht öffnen und gleichzeitig stark sein. Ich kann nicht … verliebt sein und gleichzeitig die Kontrolle behalten.« Ich deutete auf das Nest aus zerdrückten Kissen auf der Couch. »Sieh mich doch an. Mama war zehn Minuten hier, und es hat mich für drei Tage fertiggemacht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss allein bleiben. Ich habe eine Aufgabe.«
»Du entscheidest dich für das Alleinsein, weil es sicherer ist. Weil deine Mutter dir so furchtbar wehtut, und das tut mir leid, Shiloh. Es tut mir leid, dass du das Bedürfnis hast, dich zu schützen. Aber Ronan … Er ist ein guter Mann, nicht wahr?«
Ich nickte, verdrehte die Hände im Schoß. »Aber wie lange wird es dauern, bis er …?«
»Bis er was, Liebes?«
»Bis er sieht, was Mama sieht? Wie lange wird es dauern, bis er beschließt, dass er mich auch nicht will?«
»Oh, mein Liebes …« Bibi zog mich an sich.
Gott, ich kam mir so lächerlich vor. So schwach. Als hätte mir jemand die Brust aufgerissen und das Herz freigelegt. Das Herz, das für meine Mutter blutete und für Ronan schlug. Mir wollten die Tränen kommen, aber ich unterdrückte sie und schüttelte den Kopf.
»Ist schon okay«, sagte ich und löste mich sanft aus Bibis Umarmung. »Morgen geh ich zur Schule. Und ich kriege meinen Laden. Das ist mein einziges Ziel. Darauf sollte ich meine ganze Energie konzentrieren. Nicht auf ein dämliches Jungsdrama, auf das ich mich sowieso niemals einlassen wollte. Ich hatte nämlich recht. Es ist nichts als eine Ablenkung.«
Eine wundervolle, intensive, sexy Ablenkung, die zu wollen ich nicht aufhören kann.
»Nein, Shiloh.« Bibis Stimme war wieder fest. »Marie und dass sie hergekommen ist, war die Ablenkung. Lass dich von ihren Worten nicht vergiften. Lass dich von ihr nicht gegen Ronan einnehmen und nicht gegen dich selbst.«
Für Bibi brachte ich ein Lächeln zustande. »Ich versuche es«, sagte ich, aber es war irgendwie zu spät. Mamas Ablehnung hatte sich in mich eingegraben und so tiefe Wurzeln geschlagen, dass ich nicht wusste, wie ich sie je wieder ausreißen sollte.
Wir aßen schweigend zu Abend, und Bibi ging kurz darauf ins Bett. Ich blieb im Dunkeln auf der Couch sitzen, das einzige Licht das Flackern des Fernsehers. Die Simpsons waren zu grell in Gelb, Blau und Rot.
Ich musste eingedöst sein, denn ich schrak zusammen, als es laut an der Tür klopfte. Ich ging zur Tür, machte Licht an und blickte durch den Spion in die dunkle Nacht. Ronan, völlig durchnässt vom Regen, ging wütend vor der Haustür auf und ab.
Ich riss die Tür auf. Ein Lichtquadrat fiel auf ihn und erhellte sein hartes, wütendes Gesicht. Das dunkle Haar klebte ihm an Stirn und Wangen.
»Was willst du hier?«
»Bist du okay?«, fragte er.
»Natürlich. Was …?«
»Gut.« Er spuckte das Wort fast aus, dann wandte er sich zum Gehen. Er ging zwei Schritte, dann wirbelte er herum und schüttelte sich das nasse Haar aus den Augen. »Ich meine … was soll der Scheiß, Shiloh?«
Ich wich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin ein paar Tage zu Hause geblieben.«
»Du kannst nicht einmal eine beschissene Nachricht beantworten?«
»Mein Telefon war aus. Ich brauchte ein bisschen Ruhe. Und du tauchst einfach hier auf und … Was machst du hier?«
»Nichts. Ich wollte sichergehen, dass du okay bist.«
Ich umfasste meinen Oberkörper, erschrocken, wie sehr ich ihn umarmen wollte. Die Angst legte mir hässliche Worte in den Mund, um ihn wegzustoßen.
»Warum? Was ist das für ein zwanghafter Scheiß? Warum sollte ich nicht okay sein? Was zum Teufel, glaubst du, sollte mir passieren?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er frustriert. »Ich … Ach Scheiße, vergiss es einfach.«
»Wir sind nicht zusammen. Du willst nicht mit mir gesehen werden.«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, aber …«
»Und ich hab gesagt, ich hab dir nichts zu geben. Wir haben … Regeln aufgestellt. Du kannst nicht einfach herkommen und sie brechen.«
»Und du kannst nicht einfach so verschwinden!« , schrie er, und ich zuckte zusammen. Seine grauen Augen glänzten silbern in Regen und Mondlicht. Wie Stahl. »Sag meinetwegen, dass ich mich verpissen soll, aber verschwinde nicht einfach.«
Der Schmerz hinter seiner Wut war greifbar, traf mich ins Herz, das nach dem Besuch meiner Mutter schon angeschlagen war und blutete.
Schweigend standen wir da. Der Regen, der auf das Pflaster pladderte, war das einzige Geräusch.
Ronan fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar. Seine wilde Miene wurde sanfter, er sah mich an. »Shiloh …«
Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht nachgeben. Auf keinen Fall konnte ich jetzt schwach werden. Ich hatte keine Ahnung, was dann passieren würde.
Er nickte resigniert, drehte sich um und ging. Die Worte, um ihn zurückzurufen, blieben mir im Hals stecken. Mamas Warnung war wie ein Flüstern in meinem Ohr.
Ich sah ihn weggehen, bis die Dunkelheit ihn verschluckte, dann ging ich wieder rein und machte die Tür zu.