Hast du gehört? Violet ist im Krankenhaus.
Ich erstarrte, und das Telefon fiel mir fast aus der Hand. Es war kurz nach zehn Uhr abends. Bibi und ich hatten einen Film gesehen, als ich die Textnachricht von Annika Shaw bekam, einem Mädchen aus dem Fußballteam, mit dem ich in der Mittelstufe besser befreundet gewesen war.
Meine Finger zitterten, als ich die Antwort tippte.
Was ist passiert???
Kopfverletzung beim Training. Sie ist im Krankenhaus. Bewusstlos.
»Oh Scheiße.«
Bibi drehte den Kopf. »Shiloh?«
»Violet ist im Krankenhaus.«
»Ach du jemine. Geht es ihr gut?«
»Ich weiß es nicht.«
Meine Finger flogen. Wie schlimm ist es?
Ich wartete auf eine Antwort, und plötzlich brannten Tränen in meinen Augenwinkeln, weil ich Angst um meine beste Freundin hatte. Wütend blinzelte ich sie weg. Man sollte jemanden nicht erst verlieren müssen, um zu merken, wie sehr man ihn liebte.
Oh Gott, Miller …
Da war immer noch keine Antwort von Annika, und ich erinnerte mich daran, warum wir keine engen Freundinnen mehr waren.
Man konnte sich noch nie auf sie verlassen.
Panisch rief ich im Krankenhaus an. Die Zentrale stellte mich zum Schwesternzimmer auf Violets Station durch – wo man mir sagte, dass man mir nichts sagen durfte.
»Ich fahr hin«, sagte ich zu Bibi und holte die Autoschlüssel aus der Küche. Ich zog die Strickjacke über, die an einem Haken neben der Tür hing, dann textete ich Miller.
Ich hab’s gerade gehört. Violet ist in der Uniklinik. Kopfverletzung. Sie wollen mir nicht mehr sagen.
Er antwortete fast sofort. Bin auf dem Weg .
»Grüß Violet«, rief Bibi. »Aber fahr vorsichtig, Shiloh.«
»Mach ich. Versprochen. Ich ruf dich an, sobald ich etwas weiß.«
Auf dem Weg ins Krankenhaus musste ich mich an das Versprechen an Bibi erinnern und mich wirklich zurückhalten, um nicht zu sehr aufs Gas zu gehen.
An der Rezeption im Krankenhaus sagte man mir, dass Violet im fünften Stock in der neurologischen Abteilung lag, Zimmer 504. Miller war schon da und saß in seinem üblichen Outfit – Jeans, T-Shirt, kariertes Flanellhemd und Beanie – vor der verschlossenen Tür an der Wand. Der Gitarrenkoffer lag auf seinem Schoß.
Weil er gleich losgerannt ist.
»Hey«, sagte ich und eilte zu ihm. Er sah auf, sein Gesicht eine Maske der Anspannung und Sorge.
»Shi …«
Ich setzte mich neben ihn auf den Fußboden und umarmte ihn. »Was ist passiert?«
»Es geht ihr gut. Glaub ich. Ihre Eltern mögen mich nicht besonders. Sie wollen mich nicht zu ihr lassen.«
»Scheiß auf sie. Violet mag dich. Das ist alles, was zählt.«
»Ja, stimmt wohl. Aber Scheiße, Shi. Sie haben gesagt, dass sie bewusstlos war. Sie behalten sie über Nacht hier.«
»Bestimmt nur zur Sicherheit.«
Eine Schwester kam vorbei und sah uns verwirrt an.
»Ich hab heute Morgen mit Amber gesprochen«, sagte ich. »Sie hat gesagt, dass du dich von ihr getrennt hast.«
Er nickte unglücklich. »Letzte Woche, an dem Morgen, nachdem Violet bei der Hütte war. Amber hat mich gebeten, ihr etwas Zeit zu geben, bevor ich es Violet sage. Und das hab ich getan. Ich hab viel zu lange gewartet. Vier Jahre und ein paar Tage zu lang.«
»Jetzt bist du hier.«
»Und wenn ich zu spät bin, Shi?«, sagte Miller mit rauer Stimme. »Was, wenn sich ihr Zustand verschlimmert? Oder wenn …?«
»Du darfst so nicht denken«, sagte ich, auch wenn meine eigene Fantasie in dieselbe erschreckende Richtung raste. »Solche Gedanken machen dich nur verrückt.«
Er nickte widerstrebend, und ich legte das Kinn auf die angezogenen Knie. Wir schwiegen kurz, dann schüttelte Miller den Kopf und redete fast mit sich selbst.
»Nie wieder. Wenn sie okay ist, lasse ich es nie wieder zu spät werden. Ronan hatte recht.«
Ich versteifte mich, mein ganzer Körper war angespannt. »Womit hatte er recht?«
»Er hat gesagt, zu spät ist der Tod. Ich glaube, er meinte seine Mom.«
»Ja? Ich weiß nur, dass sie gestorben ist, als er klein war. Seine Eltern sind beide gestorben, aber er redet nur von ihr.«
Miller nickte grimmig. »Weil sein Dad sie umgebracht hat.«
Ich starrte ihn an, das Blut wich mir aus dem Gesicht. »Was? Er hat sie … Oh mein Gott.« Ich schlug mir die Hand vor den Mund, und das Herz schlug mir bis zum Hals, und es tat mir so leid für Ronan. »Wie?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, er hat es gesehen.«
»Hat er«, sagte ich und erinnerte mich. »Er hat erzählt, dass er dort war. Er hat gesagt, er konnte sie nicht retten. Oh mein Gott …«
Millers Kopf fuhr hoch, er sah meine entsetzte Miene. »Scheiße, ich hätte es dir vielleicht nicht erzählen sollen. Er ist ein guter Mensch.«
»Natürlich ist er das. Warum sagst du das?«
»Weil er mein Freund ist und ich nicht will, dass du schlecht über ihn denkst. Er ist viel glücklicher, seit du da bist.«
»Wirklich?«
»Ronans Version von glücklich. Aber ja.«
Ich ließ den Kopf gegen die Wand sinken. »Er hat es mir nie erzählt.«
»Es verunsichert ihn, was passiert ist«, sagte Miller und strich mit den Fingern über die Kante seines Gitarrenkoffers. »Ich glaube, er denkt, er sei irgendwie beschädigt. Als hätte es ihn auch vergiftet, was sein Dad getan hat.«
Ich nickte. »Er meinte, es hat ihn kaputt gemacht, was in Wisconsin passiert ist, und er will nicht, dass ich mit den Auswirkungen klarkommen muss.«
Mir brach das Herz weiter bei dem Gedanken, dass Ronan das alles allein aushalten musste. Und auch noch dachte, es könnte mich irgendwie verletzen.
Weil er mich beschützen will. Immer. Sogar vor sich selbst.
»Oh Gott …« Ich fuhr mir mit der Hand über die Braids und zog dran, damit ich nicht anfing zu heulen.
»Du warst nicht mehr bei der Hütte«, sagte Miller leise.
»Ich weiß. Mir ging’s nicht so gut.«
»Aber jetzt geht’s dir besser?« Er sah mich an wie jemand, der Menschen ins Herz sehen konnte und dann Songs über das schrieb, was er sah.
»Nicht wirklich«, gab ich zu und dachte an den Besuch meiner Mom. »Aber ich arbeite dran.«
Er lächelte schwach. »Mehr können wir nicht tun, oder?«
Ich nickte und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Die Zeit verstrich nur schleppend. Mein Hintern wurde taub auf dem kalten Linoleumboden. Endlich ging die Tür neben uns auf, und Vince und Lynn McNamara kamen heraus.
Ich hatte sie schon als Kind gekannt, in besseren Zeiten, als sie glücklich und verliebt gewesen waren. Jetzt sahen sie müde aus in ihren zerknitterten Büroklamotten, wie Anwälte, die auf gegnerischen Seiten kämpften.
Vince lächelte schwach, als wir aufstanden. »Hey, Miller. Shiloh. Es ist toll, dass ihr hier seid.«
»Aber es ist spät«, sagte Lynn. »Violet braucht Ruhe.«
»Geht es ihr gut?«, fragte ich. »Was ist passiert?«
»Sie ist beim Fußballtraining mit einer anderen Spielerin zusammengestoßen und hat eine Gehirnerschütterung«, sagte Vince. »Aber sie sagen, sie kommt wieder in Ordnung. Sie behalten sie nur eine Nacht zur Beobachtung hier.«
Ich atmete erleichtert auf und ließ die Schultern hängen. Miller stand stocksteif da.
»Ich gehe nicht weg«, sagte er, seine Stimme war hart. »Ich will sie sehen.«
Lynn seufzte. »Es ist spät …«
»Es kann doch nicht schaden«, sagte Vince. »Ein paar Minuten. Sie sind den ganzen Weg hergekommen.«
Seine Frau durchbohrte ihn mit Blicken. »Es ist nicht einmal Besuchszeit. Sie können wiederkommen …«
»Ich gehe nicht weg«, sagte Miller wieder. »Mir ist egal, wie spät es ist. Ich bleib die ganze Nacht, wenn es sein muss, aber ich werde sie sehen.«
Der beschützende Ton in seiner Stimme erinnerte mich daran, wie Ronan mit mir redete.
Und Miller liebt Violet.
Ein merkwürdiges Gefühl durchflutete mich, irgendwo zwischen Euphorie und Übelkeit. Ich holte mein Telefon aus der Tasche, damit ich etwas zu tun hatte, und rief Bibi an, um ihr zu sagen, dass es Violet gut ging.
»Ich bin so froh, Schatz. Aber es wird spät. Mir wäre es lieber, wenn du nach Hause kommen würdest.«
Ich betrachtete die Besuchsumstände: Lynn McNamara würde nicht nachgeben, Miller allerdings auch nicht. Violet war in guten Händen, und ich war plötzlich erschöpft. Völlig fertig.
»Ich fahre gleich los. Hab dich lieb, Bibi.« Ich legte auf und wandte mich Miller zu. »Bibi will, dass ich nach Hause kommen. Bist du okay?«
»Mir ging es nie besser«, sagte er. »Zum ersten Mal seit langer Zeit.«
Ich lächelte. »Ich komm morgen früh wieder. Sag Violet, sie soll schnell gesund werden, sonst trete ich ihr in den Hintern.«
Die Besuchszeit fing morgens um 11 Uhr an. Ich klopfte an Violets Tür und steckte den Kopf rein. Mir ging das Herz auf, als ich sie wach sah, ein seltsames, aber schönes Lächeln im Gesicht.
»Kann ich reinkommen?«
Ihr ruhiger, heiterer Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein breites Grinsen, als sie mich sah. »Shi!«
Ich lachte, da sie so begeistert reagierte. »Was geben die dir hier?«
»Miller ist da. Er ist sich gerade einen Kaffee holen gegangen.«
»Ah. Das erklärt alles.« Ich beugte mich über das Bett und umarmte sie so fest, wie ich wagte. »Dir geht es gut?«
»Mir geht es gut. Besser als seit langer Zeit.«
»Miller hat gestern fast dasselbe gesagt«, sagte ich und ließ mich auf den Stuhl neben ihr fallen.
Violet strahlte, ihre Wangen waren rosa. »Wirklich?«
»Ihr zwei habt also alles geklärt?«
»Endlich. Es ist komisch. Mit meinen Eltern und meinem College-Fonds geht alles den Bach runter, aber ich hab das Gefühl, dass ich genau da bin, wo ich hingehöre. Bei Miller. Und ich bin so glücklich.«
Ich spürte einen Hauch von Neid.
»Ich freue mich, Vi. Wirklich. Und ich sag nicht mal, ich hab’s dir ja gesagt, auch wenn ich eigentlich schon seit vier Jahren darauf warte.«
Violet lachte, sie strahlte sogar in diesem Krankenhausbett. »Es war ein langer Weg. Du wirst es nicht glauben, aber direkt bevor ich den Schlag auf den Kopf gekriegt hab, hat River Whitmore mich gefragt, ob ich mit ihm zur Prom gehe.« Sie wappnete sich für meine Reaktion. »Und ich hab Ja gesagt.«
Ich schlug mir gegen die Stirn. »Oh Mann …«
»Ich weiß!«, sagte sie und lachte immer noch. »Nur als Freunde. Aber ich wusste nicht, wie es mit Miller weitergehen würde, und war es so leid, keine Kontrolle über meine Gefühle zu haben.«
»Das kann ich verstehen«, sagte ich und lächelte schmal. »Weiß Miller es schon?«
»Ja, tut er. Wir haben uns alles gesagt, und es ist, als könnte ich endlich wieder atmen.«
Der Neid rumpelte jetzt lauter in meinem Bauch. Violet ist so viel mutiger als ich …
Meine Freundin grinste wissend. »Und? Warst du oft an der Hütte in letzter Zeit?«
»Wie bitte?«
»Du hast mich gehört. Vielleicht liegt es daran, dass ich wahnsinnig glücklich bin und will, dass du dasselbe fühlst, aber … du und Ronan?«
»Ähhh …«
Sie senkte den Blick und zupfte an der Decke. »Ich weiß, du redest nicht gern über so was. In den ganzen Jahren, seit ich dich kenne, hast du nie einen Jungen erwähnt.«
»Ich hab dir vieles nicht erzählt, Vi. Und es tut mir leid.«
»Es muss dir nicht leid tun. Ich denk einfach, dass du eher introvertiert bist. Das respektiere ich. Aber manchmal frage ich mich, ob … dir etwas Schlimmes passiert ist. Mit einem Jungen.«
»Überhaupt nicht. Gott, Vi. Es tut mir leid, dass du das gedacht hast. Ich war eine schreckliche Freundin.«
»Nein …«
»Doch . Du sagst immer, ich würde wissen, wer ich bin und was ich will. Dass ich ganz bin. Aber in Wirklichkeit ist es das genaue Gegenteil.«
»Erzähl es mir.«
Jetzt war ich dran, mit der Decke rumzuspielen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Weil ich nicht weiß, was ich fühle. Oder überhaupt, wie man fühlt.«
»Bei Ronan?« Ihre Stimme wurde sanft. »Liebst du ihn?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, aber eine kleine Stimme flüsterte, dass ich Ronan Wentz lieben könnte, wenn ich so mutig wäre wie sie.
»Ich … ich weiß es nicht.«
Violet lächelte sanft. »Leute im Krankenhaus darf man nicht anlügen. Das ist Vorschrift.«
Ich versuchte zurückzulächeln und schaffte es nicht. »Mein Problem hat lange vor Ronan angefangen. Mit meiner Mom.« Ich holte Luft. »Ich fahre jeden Sommer nach New Orleans. All diese Besuche, von denen ich nie etwas erzähle. Ich mache die nur, um sie zu sehen. Aber sie hasst mich, Vi. Ich arbeite so hart, um etwas aus mir zu machen, als müsste ich ihr meinen Wert beweisen. Aber ich kann machen, was ich will. Sie bereut es, mich bekommen zu haben.«
Ich bin die Schlacht, die sie verloren hat.
Gott, die Wahrheit war wie ein Messer, das mich durchbohrte. Wie eine Wunde, die nicht verheilen wollte, und solange sie das nicht tat, hatte ich keine Ahnung, wie ich für irgendjemanden gut sein konnte.
»Oh, Shi.«
»Ich hab die ganze Zeit so getan, als wäre ich stark, und gehofft, ich bin das auch, wenn ich es nur gut genug vortäuschte. Damit es aussieht, als kriegte ich alles geregelt. Aber ich bin nur eine Betrügerin. Und als Ronan auftauchte …«
»Hast du Angst gehabt.«
Mein automatischer Reflex war, es zu leugnen. Stattdessen nickte ich. Das Bild von Ronan vor meiner Tür im Regen war wieder da, und meine Brust zog sich zusammen, als wollte sie genug Tränen für ein ganzes Leben aus mir herauspressen.
»Mama hat mir beigebracht, dass es besser ist, allein zu sein, als verlassen zu werden«, sagte ich, meine Stimme kaum mehr ein Flüstern. »Es ist besser, selbst diejenige zu sein, die die Tür zumacht. Nicht zu riskieren, dass einem wehgetan wird. Weil mir sowieso schon wehgetan wird. Jeden Tag.«
Violet nahm meine Hand und hielt sie einfach fest. Sie sagte nichts und war nur da.
Ich holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Das ist dumm. Ich sollte dich trösten.«
»Das tust du«, sagte Violet. »Ich hab dich lieb, Shi. Du bist meine beste Freundin, aber ich hab mich dir nie näher gefühlt als in diesem Augenblick.«
»Ich wünschte, ich hätte es dir früher schon erzählt.«
»Wir haben die Zeit von jetzt an.« Violet lächelte. »Es ist nicht zu spät.«
Ich drückte ihre Hand. »Ich bin so dankbar, dass es das nicht ist.«
Denn zu spät ist der Tod.
Violet wurde ein paar Stunden später entlassen. Ihre Eltern kamen, um sie von mir und Miller loszueisen und nach Hause zu bringen.
Ich umarmte sie zum Abschied und ging direkt zur Hütte.