Prolog

Rostock-Biestow, Juli 1982

R icksen! Ricksen!«

Juris Stimme hallte schrill durch die Kleingartenanlage Goldwiese im ländlichen Rostocker Stadtteil Biestow. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Luft flimmerte vor Hitze.

»Ricksen, wir haben Post!« Juri wedelte mit der Ansichtskarte in der einen Hand und stützte sich mit der anderen schwer auf das verrostete Gartentörchen am Eingang der Parzelle. Er war den ganzen Weg von der Südstadt nach Biestow gerannt, um sich abzureagieren. Schweiß lief ihm am Körper herab, und sein Herz raste. Ricksen und sein Zwillingsbruder Alexander hingegen aalten sich an diesem Samstagnachmittag träge auf zwei Liegen vor der Laube ihrer Eltern. Zwischen ihnen campierten etliche leere Flaschen Bier.

»Post?« Ricksen gähnte.

Juri öffnete die Gartenpforte und ließ sich neben den beiden auf den Rasen sinken. »Kay hat endlich geschrieben, schaut euch das an!« Er hielt Ricksen die Postkarte ihres Freundes hin. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und lasen die wenigen Worte, die Kay auf die Karte gekritzelt hatte.

»Es geht ihm gut«, stellte Ricksen enttäuscht fest. »Ist das alles?«

Juri stöhnte. »Mensch, schaut euch die Vorderseite an. Das sind Ansichten von Veracruz in Mexiko. Sieht das nicht fantastisch aus? Mexiko. Allein schon dieser exotische Klang! Und dazu diese Farben, Palmen und Paläste!« Juri schüttelte den Kopf. Er begriff nicht, dass sein bester Freund diesen wunderbaren Ort besuchen, zwischen den farbenprächtigen Häusern flanieren, den Strand genießen und den Duft der weiten Welt einsaugen konnte, während er selbst hier in der DDR versauerte. »Das müssen wir den Jungs zeigen, diese andere Welt!« Sein Puls beschleunigte sich wieder.

Ricksen und Alexander kamen langsam in Schwung.

»Du hast recht, sieht ziemlich gut aus.«

Ein bisschen mehr Begeisterung hätte nicht geschadet, fand Juri, aber die beiden hatten offenbar noch etwas Anlaufschwierigkeiten. Sie waren seit Monaten in der Lehre, und am Wochenende hingen sie erschöpft in den Seilen. Kay war als angehender Seemann auf seiner ersten Reise nach Lateinamerika, und endlich hatten sie ein Lebenszeichen bekommen. Und was für eins!

»Lasst uns was Spontanes machen. Wir feiern Kays Reise in die Welt! Schnappt euch das Moped, fahrt rum und trommelt alle zusammen!« Juri nahm Ricksen die Postkarte ab.

Die Zwillinge setzten sich auf. »Eine Party? Aber …«, druckste Ricksen.

»… wir haben nicht mehr genug Bier für alle«, ergänzte Alexander. Er wies auf einen einsamen Bierkasten im Schatten unter den Bäumen.

Juri dachte kurz nach. »Wenn ihr den anderen Bescheid gesagt habt, fahrt ihr weiter zur Bauernschänke. Da kriegt ihr Nachschub.«

Carlo Richard, genannt Ricksen, strahlte und hielt Juri seine offene Hand hin. Sie legten die Münzen zusammen, die sie in den Hosentaschen hatten. Viel war es nicht, aber für ein bisschen Bier würde es reichen.

»Wir brauchen ein Gefäß«, sagte Alexander. »Die schenken nur vom Fass aus.«

Daran hatte Juri nicht gedacht. Er drehte sich um. Neben der unansehnlichen Laube standen nicht nur Gartenwerkzeuge und eine Schubkarre, sondern auch zwei Eimer, die Juri ins Visier nahm. Er zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger darauf. Alexander sprang auf, schnappte sich die beiden Eimer, drehte und wendete sie. Kein Loch, kein Riss, sauber – ein perfektes Transportmittel für ihr Bier.

»Los, beeilt euch, schickt alle her, ich warte hier.« Juri hievte sich auf eine der frei gewordenen Liegen und betrachtete die Postkarte, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie versprach alles, was er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte – und mehr. Das Knattern des sich entfernenden Mopeds hörte er kaum noch.

Es dauerte nicht lange, bis die Mitglieder der Clique nach und nach eintrafen und sich neugierig auf die Postkarte stürzten, um von Kays Erlebnissen zu erfahren. Die acht Jungs, die sich seit der ersten Klasse kannten, waren unzertrennlich und vermissten den Freund sehr. Sie schwankten zwischen grenzenloser Bewunderung für den Seemann, Eifersucht auf seine Sonderstellung und Frustration über ihren eigenen grauen Lebensalltag. Doch heute würden sie die Welt der Farben, sich selbst und ihre eigenen großen Lebenspläne feiern.

Sie hockten sich auf den Rasen, jeder griff nach einer Flasche Bier, und sofort redeten sie wild durcheinander, welche Pläne sie hätten, wenn sie jemals in den Westen kämen. Die Hitze und der Alkohol stiegen ihnen zu Kopf. Juri zog sein T-Shirt aus und wickelte es sich als Sonnenschutz um den Kopf. Die anderen taten es ihm nach. Wie immer.

Als sich das Knattern des Mopeds näherte, liefen sie den Zwillingen entgegen, um ihnen die beiden Eimer mit dem Bier abzunehmen. Die Gläser dafür hatten sie schon aus der Laube geholt.

Das Moped kam ruckelnd vor dem Gartentor zum Stehen.

Hatten sie eben noch gelacht und gejohlt, breitete sich nun Stille aus.

Ricksen warf vom Rücksitz der Simson S 50 einen leeren Eimer ins Gras und stellte den zweiten, halb vollen Eimer neben sich ab.

»Der Blödmann ist viel zu dicht am Laternenpfahl vorbeigefahren.«

Er bekam kaum Luft vor Empörung und wedelte wild mit den Armen. Dabei kippte er fast vom Sitz und fing sich, indem er mit einem Ausfallschritt in dem Biereimer landete. Obwohl Ricksen seinen Fuß rasch wieder herauszog, stöhnten die Jungs auf. Die Zwillinge sorgten mal wieder für Sternstunden. Ich wäre besser selbst gefahren, dachte Juri.

»Viel zu dicht am Laternenpfahl … es ist alles verschüttet. Wir sind voll dagegengeschrammt!«, beschwerte sich Ricksen atemlos und gab seinem Bruder einen Klaps auf den Kopf. Alexander grinste breit und murmelte etwas von besonderer Eile.

Die Ersten fingen an zu lachen, und am Ende war es wie immer – niemand konnte den beiden Chaoten böse sein, und natürlich tranken sie das sandalengewürzte Bier aus dem Eimer. Auch mangels Alternative, denn die Kiste mit dem Flaschenbier leerte sich zügig.

»Hast du eigentlich deinen Schuh wiedergefunden?«, wandte sich Juri an Oliver, der sich auf dem Rasen rekelte. Die Party am letzten Wochenende war gegen Morgen ausgeufert und hatte auf dem Heimweg einige Verluste mit sich gebracht.

»Keine Ahnung, wer sich an meinem Turnschuh vergriffen hat«, maulte Oliver. »Das ist doch nicht normal, einem Mann den Schuh vom Fuß zu klauen.«

Alle lachten und erzählten sich feixend, wie Oliver mit nur einem Schuh nach Hause gelaufen war.

»Meine Mutter fand das gar nicht komisch. Sie hat voll das Theater gemacht, weil sie so bald keine anständigen Turnschuhe mehr reinbekommt.«

Olivers Eltern betrieben einen kleinen Kiosk, und Olivers Mutter erhielt immer mal wieder heiß begehrte Bückware, die sie unter dem Ladentisch verkaufte. Es gab einige Männer, die ungeniert mit der deutlich älteren Frau flirteten, um an diese begehrten Artikel zu kommen. Olivers Mutter merkte nicht, dass sie veralbert wurde, sondern kicherte wie ein junges Mädchen, richtete ihr frisch toupiertes Haar und hielt sich für unwiderstehlich. Alle kannten den Grund für die Schmeicheleien, nur Oliver und seine Eltern schienen das zu ignorieren.

»Hat ihr wieder jemand schöne Augen gemacht?« Juri baute sich vor Oliver auf und deutete mit süffisantem Lächeln eine Verneigung an.

Prustendes Gelächter.

»Lasst ihn in Ruhe«, versuchte Ricksen, einen strengen Ton anzuschlagen, lachte aber genauso wie alle anderen.

»Gib mir noch ein Bier«, sagte Oliver und grinste versöhnt, als Juri ihm die letzte Flasche aus der Kiste reichte.

»Kommt!«, rief Juri, hielt die Postkarte hoch über seinen Kopf und nahm seine Bierflasche. »Mir nach!«

Ricksen legte ihm eine Hand auf die Schulter, Alexander wiederum seinem Bruder und die anderen jeweils auf die Schultern des Vordermannes. Im Gleichschritt zogen die Freunde wie bei einer Polonaise durch die Kleingartenanlage, johlten und ließen die verdutzten Nachbarn wissen, dass dieser Sommer einfach großartig war.

So wie ihre Freundschaft. Für immer verbunden – ein Leben lang.