1 . Kapitel

Rostock-Parkentin, Oktober 2016

D as Leben hatte es nicht immer gut mit ihnen gemeint.

So wie das Leben selten das tat, was man von ihm erwartete.

Für Kay war das ein vertrauter Gedanke. Dennoch erschrak er, in welchem Zustand einige von ihnen hier, am ländlichen Zufluchtsort eines der Freunde, aufgekreuzt waren. Ausgebeulte Jeans, verschlissene Pullover und ausgelatschte Schuhe. Was hatte er erwartet?

Er kam zu spät und sah die Gruppe unter den Birken am hinteren Rande des Hofes mit hochgezogenen Schultern wie erstarrt im Halbkreis stehen. Der Wind pfiff ihm um den Kopf und wirbelte erste goldene Blätter umher. Dramatische Wolkenbänke schoben sich über den Himmel und bildeten die Kulisse für diese ungewöhnliche Feier.

Er ging langsamer. Weil die Freunde ihm den Rücken zuwandten, sahen sie ihn nicht kommen. Wenn er sich jetzt umdrehen und zu seinem Auto zurückkehren würde, hätte ihn niemand bemerkt.

Aber er lief nicht weg. Das war nicht seine Art, doch seine Schritte wurden mit jedem Meter kürzer. Ein Mann, den Kay nicht kannte, hielt eine Rede, aber der Wind verwehte die Worte, und so ließ Kay seinen Blick über die Mitglieder der Clique wandern. Sie waren alle gekommen. Natürlich. Wenn man sie brauchte, waren sie da.

Hannes Krissler stand etwas abseits. Sinnbildlich. Er war der Einzige von ihnen, der Rostock nie dauerhaft verlassen hatte. Der Intellektuelle der Truppe, der nicht von seinen Gaben profitiert hatte. Früher hatte er unheimlich gewirkt, heute konnte sich Kay nicht mehr erklären, wo dieser Eindruck herrührte. Für einen Mann aus der Babyboomer-Generation war er extrem schlank und asketisch. Nicht der Hauch eines Bierbauchs unter dem schwarzen Rollkragenpullover. Im Moment stand er verlegen da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, als wisse er nicht, wohin mit ihnen. Vielleicht, weil er keine Zigarette in der Hand hielt.

Hannes weinte still.

Kays Blick wanderte weiter.

Einen Pastor gab es nicht.

Einige hatten ihre Frauen mitgebracht. Kay war allein gekommen und trug als Einziger einen schwarzen Anzug.

Ricksen bemerkte ihn als Erster. Tränenüberströmt deutete er mit der Bierflasche in der zitternden Hand einen Gruß an. Kay und er kannten sich seit fünfundvierzig Jahren, hatten jedoch den Draht zueinander verloren. Ricksens jahrzehntelange Alkoholexzesse und unzählige Zigaretten hatten geistig und körperlich Spuren hinterlassen. Kay wunderte sich, dass er aufrecht stand, so entkräftet wirkte er, so gebrechlich und zerknittert. Die zweistündige Fahrt von Hamburg zum Hof in Rostock-Parkentin dürfte ihm alles abverlangt haben, denn normalerweise beschränkte sich Ricksens Aktionsradius auf den Weg zwischen Wohnung und Kiosk. Wahrscheinlich hatte sein Zwillingsbruder Alexander ihn mitgenommen. Die beiden hatten schon immer aneinandergeklebt.

Kay lächelte, denn man konnte Ricksen nur lieben, und die Schnapsdrossel wäre auch gekommen, wenn er den Weg zu Fuß hätte zurücklegen müssen. Er stellte sich stumm neben ihn in den Halbkreis. Was hätte er auch sagen sollen?

Von der anderen Seite stieß ihn Oliver mit dem Ellenbogen an. »Ich dachte, du traust dich nicht«, flüsterte er.

Damit hatte Oliver nicht ganz unrecht. Kay hatte schmerzhaft lernen müssen, dass es verdammt viel Mut kostete, jemanden zu verabschieden, den man nicht ziehen lassen wollte. Damals auf dem Bahnsteig. Als er seine Eltern und seine Schwester in den Armen hielt und davon ausging, dass sie sich niemals wiedersähen. Heute wurde er verlassen. Ein geliebter Mensch ließ ihn allein zurück. Es fühlte sich irreal an. Ungläubig hatte er die Nachricht von ihrem Tod aufgenommen, und seither schwoll der Kloß in seinem Hals an.

»So ist es immer«, murmelte Oliver wissend. Er hatte seine Eltern vor vielen Jahren beerdigt. »Wusstest du, dass er verbotenerweise die Urne auf den Hof gebracht hat?« Er verzog das Gesicht. »Typisch.«

Oliver, dem Ängstlichen unter ihnen, war es offensichtlich nicht geheuer, dass sie, statt auf einem Friedhof, auf diesem entlegenen Hof in Mecklenburg-Vorpommern standen und auf ihre eigene Art trauerten. Dieses Refugium, das sie sich Ende der 90 er-Jahre günstig gekauft und sehr geliebt hatte.

Die Rede endete, und drei Frauen traten vor, um weiße Callas in das Gras neben die Urne zu legen. Kay rauschte das Blut in den Ohren. Mist, an ihre Lieblingsblumen hatte er nicht gedacht. Für sie wäre das nicht weiter schlimm gewesen, sie hätte gelacht, aber er hätte ihr gerne eine letzte Calla geschenkt. Er konnte nicht mehr klar denken, seit die Nachricht ihres Todes ihrer aller Leben verändert hatte.

»Ich fasse es einfach nicht, dass wir nie wieder zusammen feiern«, sprach Oliver weiter, als hätte er nichts bemerkt. »Ohne sie.«

Kay nickte. Der Kloß im Hals verhinderte das Sprechen.

Ohne … Ihm fiel auf, wie unansehnlich dieses Wort war. Ohne. Für immer ohne.

Aus heiterem Himmel stolperte Ricksen nach vorn, sank vor dem Holzkreuz auf die Knie und klagte lautstark, ohne dass Kay mehr als einzelne Worte verstand. Ricksen schwankte bedenklich, und Kay hoffte, dass er die Urne nicht umstieß. Das weinrote Gefäß aus Stahl stand schutzlos im hohen Gras vor dem kleinen Holzkreuz unmittelbar neben einer Birke. Sie hatten es mit ein paar krummen Winkelzügen geschafft, sie dem Bestattungsinstitut abzunehmen, um sie auf dem Hof für immer in die Erde zu lassen. Was selbstredend verboten war, aber noch lange kein Hinderungsgrund für die Truppe.

»Oh Gott, was tut er da?« Oliver stöhnte auf. »Er macht alles kaputt. Ich kann gar nicht hinsehen.« Er wandte sich demonstrativ ab. »Ich brauch ein Bier. Du auch?«

Kay nickte und sah sich um. Wo war Alexander? Die Zwillinge passten doch sonst gegenseitig aufeinander auf, aber Alexander stand weiter links unter den Bäumen und hielt eine weinende Frau im Arm. Er hatte keine Augen für seinen Bruder. Sollte Kay eingreifen? Ricksen würde nicht auf ihn hören und war vermutlich zu betrunken, um zu kapieren, dass seine Trauer zu ausdrucksstark war und aus dem Ruder zu laufen drohte. Andererseits stand nirgendwo geschrieben, wie man richtig trauerte, und wer war er, dass er seinem Kumpel vorschrieb, wie er seine Gefühle auszudrücken hatte?

In diesem Moment erklang laute Musik, und die Entscheidung erübrigte sich, denn Ricksen rappelte sich auf. Jemand hatte eine Musikanlage mit Boxen mitten ins Gras gestellt und den Ton aufgedreht. Es kam Bewegung in den Kreis, sie schüttelten ihre Erstarrung ab und ließen sich mit der Melodie treiben. Musik hatte in ihren Leben schon immer eine unentbehrliche Rolle gespielt und überwand alle Lücken, die zwischen ihnen klafften.

Die heutige Leere jedoch würde kein noch so sensibles Musikstück füllen. Der Verlust war real und unermesslich. Der Tod. Ein Leben lang hatten sie mit ihm gelebt, mit ihm gerechnet. Doch trotz Kays Aufmerksamkeit war es dem Tod gelungen, an einer unerwarteten Stelle zuzuschlagen.

Wenn er geahnt hätte, dass er so früh Abschied nehmen müsste … gewusst hätte, dass es das letzte Mal gewesen war … hätte er … ja, was eigentlich? Sich mehr gekümmert? Sich öfter blicken lassen? Mehr geredet? Hätte er ihr Auf Wiedersehen gesagt? Hätte er ihr sein Herz mitgegeben? Damit sie nicht allein war? Da, wo sie jetzt war.

Nicht geweinte Tränen brannten in seinen Augen.

Kay sah auf, um ein Augenpaar zu suchen, das ihn hätte trösten können. Er fand es nicht.

Nur die Birken schwankten im Wind.

Sie waren auseinandergedriftet. Enttäuschungen hatten zu Zwistigkeiten geführt. Und doch waren alle gekommen. Sie waren Freunde. Für immer verbunden – ein Leben lang. Sie hielten zusammen, wenn sie einander brauchten, selbst wenn sie sich lange nicht gesehen hatten. Auch wenn jeder für diese Freundschaft seinen Preis gezahlt hatte. Wir hätten es wissen können, wenn wir genauer hingehört hätten, dachte Kay. Wenn sie damals gewusst hätten, dass der Verrat in ihren Reihen saß, mit ihnen feierte, tanzte und trank, dann wäre es vielleicht anders gekommen.

Jemand schlug gegen seinen Arm. Hannes drückte ihm eine neue Bierflasche in die Hand und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.

Noch ein Mitglied der alten Clique. Acht Rostocker Jungs, die sich in der ersten Klasse kennengelernt und ihre Jugend zusammen verbracht hatten. Eine Gruppe wilder Jungen, aus denen Männer geworden und die Freunde geblieben waren.

Hannes deutete mit dem Kinn zum Himmel, und Kay bemerkte eine dünne Rauchfahne. Plötzlich rückte sich in seinem Kopf zurecht, was er registriert, aber angesichts der vielen Eindrücke nicht eingeordnet hatte. Der Waldboden duftete nicht nur nach Lehm, totem Laub und Pilzen, sondern aus dem schmiedeeisernen Backofen, der in einer durch Eichen geschützten Ecke stand, stieg Rauch auf. In dem Ungetüm schmorte einer ihrer legendären Braten.

Leichenschmaus.

Der monströse Ofen war für Kay der Inbegriff von Wärme und Geborgenheit und Mittelpunkt ihrer Art von Lagerfeuer.

Wildschwein, Lachs, Gummistiefel, Pfefferminztee … Erinnerungsfetzen überfluteten Kay. Vor vielen Jahren hatte ein Kumpel aus Bad Doberan die Tür zum Hofgebäude mit einem solchen Schwung aufgerissen, dass sie gegen die Wand knallte. Es dröhnte ihm noch heute in den Ohren.

»Erinnerst du dich?«, fragte Hannes.

Er nickte. Hannes war genauso dabei gewesen wie die anderen.

* * *

Sie hatten gefeiert. Bis zum Morgengrauen hatten sie am Lagerfeuer getrunken und die politische Lage des Landes diskutiert. Auch damals hatte eine dünne Rauchfahne über dem Hof gelegen, aber es waren die Reste des Feuers gewesen, auf das strömender Regen prasselte. Das Haus lag still da, alle schliefen ihren Rausch aus. Kay war aufgestanden, weil er sich so elend fühlte, dass er sich einen Pfefferminztee gekocht hatte. Die Tür flog krachend auf und eine massige Gestalt füllte den Türrahmen. Kays Blick war getrübt, daher dauerte es, bis er ihn erkannte. Ein Freund aus Bad Doberan in gelben Gummistiefeln und gelber Regenjacke. Sein ungehaltener Ton schraubte sich unbarmherzig in Kays schmerzenden Kopf.

»Was ist hier los? Wo sind die anderen? Abladen ist angesagt!«, schrie er.

Kay hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und hatte sich vorgenommen, in den nächsten Stunden keine unnötigen Reserven mit Sprechen zu vergeuden. Das Gebrüll hämmerte in seinem geschundenen Schädel. Bitte, flehte er innerlich, sei still. Er kniff die Augen zusammen.

»Ich brauche alle Hände. Das Ding wiegt über hundert Kilo. Los, los, weck die anderen.« Er klatschte seine in Arbeitshandschuhen verpackten Pranken zusammen. »Der Backofen muss vom Hänger.«

Das Grauen ließ Kay frösteln. Noch vor zehn Minuten hatte er sich die Seele aus dem Leib gekotzt, anschließend seinen Kreislauf so weit stabilisiert, dass er sich mit wackeligen Beinen in die Küche geschleppt hatte, und jetzt dieser Schreihals. Nein, das klappte nicht, niemals.

»Ich hab Migräne, schrei nicht so«, flehte er. »Ich fühle mich beschissen.«

Das Ende vom Lied war immer das gleiche: Sie standen parat und überschritten Grenzen. Der Doberaner tobte durch die Zimmer und niemand widersetzte sich seiner Naturgewalt. Sie schlichen nach draußen zum Hänger. In Unterhosen, schwankend, unfähig zu sprechen, grün im Gesicht, aber mit Arbeitshandschuhen und in Gummistiefeln. Sie wuchteten das Monstrum vom Hänger, schleppten es hinter den Schuppen in den Schatten zweier uralter Eichen. Inbegriff der gelebten Solidarität. Illegal in der Lehrlingswerkstatt gefertigt, im strömenden Regen geliefert, selbstlos geschenkt, mit den letzten Kräften getragen, um dort auf die Freunde zu warten. Wenn der weiße Rauch aufstieg, waren alle da.

* * *

Genauso war es heute. Die Truppe kam zusammen, um gemeinsam Abschied zu nehmen und zu essen. Kay war sicher, keiner der Nachbarn ahnte, dass sie einer Urne voll Asche den letzten Respekt erwiesen, um sie in der Nacht im Erdreich zu vergraben. Sie hielten sich mal wieder nicht an die Regeln. Kein Grab, kein Pastor, kein Händeschütteln, keine Beileidsbekundungen. Nichts, was das Herz noch schwerer werden ließ, als es ohnehin schon war. Sie hätte das nicht gewollt. Sie hätte sich gewünscht, dass jemand die Musik aufdrehte und sie lachten und tanzten, egal, wie ihnen zumute war.

Hannes schob Kay vorwärts an eine der langen Biertischgarnituren. Die standen im Windschatten des früheren Stalls. Die Gebäudeteile des Hofes verfielen langsam, doch das hatte ihr nichts ausgemacht. Für sie war es nur wichtig gewesen, sich hier von der Arbeit in Hamburg zu erholen. Sie setzten sich und drehten wortlos die Bierflaschen in den Händen.

Die Traurigkeit strömte durch Kays Körper und hinterließ ein schweres, dumpfes und kraftvolles Echo. Da war mehr als der Sound der Musik, die Resonanz in seinem Herzen, etwas nahm ihm die Luft. Kay sah zu Hannes. Spürte er es auch? Hannes erwiderte seinen Blick nicht. Er starrte auf die Tischplatte.

Kays Arme überzog eine Gänsehaut. Er schwitzte – in der Kälte der Dämmerung. Er sah sich um, vom Ofen zum Tisch mit dem Geschirr und den Salaten, den Männern, die Holz sammelten für das Lagerfeuer. Er spürte etwas … aber da war nichts. Nur die Gruppe mit den Frauen, die am Rand standen.

Da sah er ihn. Sein Atem stockte. Das war unmöglich!

Der Mann bewegte sich langsam auf die Frauen zu. Er schlich sich förmlich an. So unerwünscht wie ein blinder Passagier.

Kay blinzelte. Starrte den Mann an. Noch hatte ihn niemand bemerkt.

Niemals käme er zu ihrer Beerdigung. Er würde es nicht wagen.

Kay hatte ihn seit damals nicht wiedergesehen.

Der Verräter! Er war zu ihrer Beerdigung gekommen.

Hannes sah ihn fragend unter zusammengezogenen Augenbrauen an. Er hatte Kays Veränderung bemerkt. Oder seinen stoßweisen Atem gehört?

Er war hier! Und das war unvorstellbar!

Wut kroch in Kay hoch. Hass. Entsetzen.

Er ballte die Fäuste. Hatte der Kerl denn nichts begriffen?

Er sprang auf, wollte Hannes zeigen, was er entdeckt hatte, als ein neues Lied aus den Lautsprechern dröhnte.

Genesis. The Carpet Crawlers.

Das war doch kein Lied für eine Beerdigung. Ausgerechnet in diesem Moment, in dem alles wieder von vorn begann.

There’s no hiding in my memory. There’s no room to avoid.

In meiner Erinnerung gibt es kein Entkommen. Keinen Ort, um auszuweichen.

Vielleicht kein Lied für eine Trauerfeier, aber das ultimative Lied für sie alle.

Acht Freunde, die Jahrzehnte durch dick und dünn gegangen waren. Bis das Leben sie überholt hatte. Schneller sein Programm abspulte, als sie laufen konnten. Erbarmungslos zuschlug und sich einen nach dem anderen holte.

Kay ließ sich auf die Bank zurückfallen. Seine Beine trugen ihn nicht länger. Er war fassungslos. Mit seinem Auftauchen kamen alle Gefühle wieder hoch. Es gab keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. There’s no hiding in my memory.

Und er sah den Moment vor sich, als das wahre Leben in Gang kam. Als er damals im Sommer 1980 mit seinen beiden besten Kumpels, Juri und dem Prof, ein letztes Mal die Schultreppe hinunterlief und hoffte, sie wären frei. Sie waren so gutgläubig gewesen, dass sie nicht bemerkt hatten, dass ihnen das Leben bereits entglitt.

Jemand sang den Text lautstark mit. Hannes stimmte mit ein.

Alle sangen mit. Sie kannten den Text auswendig.

The Carpet Crawlers – das perfekte Lied für ihre Trauer.

Kein Glockengeläut.

Bloß Rockmusik.