2 . Kapitel

Rostock, Juli 1980

D er Direktor leierte seine endlose Ansprache herunter, als hätte ihm niemand gesagt, dass an diesem Tag die Sommerferien begannen.

Kay saß in der letzten Reihe der Klasse und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Hörte das denn überhaupt nicht mehr auf?

»Heute entlassen wir euch als starke sozialistische Persönlichkeiten in eine Zeit nach der Schule, in der ihr einen Beruf erlernen werdet, um unseren Arbeiter- und Bauernstaat zu stärken …«

Bla, bla, bla. Kay verdrehte die Augen, als sein bester Kumpel Thoralf, genannt der Prof, sich verstohlen zu ihm umdrehte und grinste. Wann war der Direktor endlich fertig? Kay starrte auf das gerahmte Farbfoto von Erich Honecker, das über der Tafel vergilbte. Selbst Honecker wirkte genervt, und die Tafel verhöhnte ihn frisch gewischt und nass glänzend.

Von seinem Platz erhaschte Kay durch das Fenster einen Blick auf das linke hintere Ende des Sportplatzes. Leer. Alle Schüler waren in die Sommerferien entlassen, doch ausgerechnet in seiner Abschlussklasse tobte sich der Direktor aus. Kay ließ seine Augen weiterwandern. Bei Ricksen stoppte er, denn der gab heimliche Zeichen unter dem Tisch. Ah, er wollte was trinken. Klar, heute würden sie bis zum Umfallen feiern.

»Durch eure Tatkraft und eure Arbeitskraft stärkt ihr den Frieden und den Sozialismus.« Der Direktor klatschte begeistert in die Hände.

Kay starrte auf die Wandzeitung der Schüler. Der Agitator hatte sich noch einmal richtig ins Zeug gelegt, um die politische Bildung der Klasse auf Linie zu trimmen. Allerdings hatte er sich an seiner Clique die Zähne ausgebissen. Sie hatten wirklich Besseres zu tun, als an Politiker zu glauben. Sie nahmen ihr Leben selbst in die Hand.

Endlich hörte der Direktor auf zu schwafeln. Jetzt noch die Ehrung der beiden Volltrottel, und sie hatten es geschafft. Der Direktor setzte ein strahlendes Lächeln auf, und Berni und Rudolf traten vor.

»Wir begrüßen die Entscheidung der beiden Genossen, die sich für den Friedensdienst in der Nationalen Volksarmee verpflichtet haben. Wir sind stolz auf Sie!«

Berni und Rudolf waren die beiden Hirnis, die den Abschluss nur mit Mühe geschafft hatten und bei der Berufswahl nicht zimperlich sein durften.

»Durch Ihre Entscheidung legen Sie ein Bekenntnis zu unserem Friedensstaat ab. Sie verlängern den Dienst in der Nationalen Volksarmee und werden Berufssoldaten. Bravo!«

Der Prof drehte sich erneut um, zog eine Grimasse und steckte sich einen Finger in den Mund, als müsse er sich übergeben. Recht hatte er, die salbungsvollen Worte waren unerträglich. Ob der Direktor selbst daran glaubte?

»Wir beenden den Unterricht mit dem Gruß der Freien Deutschen Jugend: Freundschaft«, rief der Schulleiter.

»Freundschaft«, antwortete die Klasse im Chor. Endlich ließ der Direktor von ihnen ab und öffnete die Tür.

Frei!

Geschafft!

Das Wort lief in Endlosschleife durch Kays Kopf. Tatsächlich geschafft. Er rannte erleichtert durch den Flur und eilte die Steintreppe der Schule hinunter – in den Sommer hinein. In der einen Hand das Abschlusszeugnis und in der anderen die Schultasche. Alle schubsten und stießen sich. Sie schrien und lachten. Dem Prof saß die Nickelbrille schon ganz schief auf der Nase.

»Um vier im Lindeneck«, brüllte Ricksen und rannte bereits durch das Schultor. Niemand spurtete schneller. Selbst sein Zwillingsbruder Alexander blieb hinter ihm zurück. Er war allerdings auch zehn Minuten älter.

Der Sonnenschein hinterließ wohltuende Wärme auf ihren ausgekühlten Körpern, die während der Rede hinter den dicken Mauern der Schule ausgeharrt hatten. Sommerferien und Ende der Schulzeit, das bedeutete den Aufbruch in ein neues Leben. Kay blieb stehen, breitete die Arme aus und schrie es in die Welt: »Geschafft! Raus hier!«

Er hatte sich im letzten Schuljahr angestrengt, um sich die Chance auf eine Ausbildung zum Vollmatrosen auf hoher See nicht zu verscherzen. Es hatte nicht immer rosig für ihn ausgesehen, denn Schule war nicht so sein Ding.

Der Prof grinste und schubste Kay voran. Sie waren Freunde, seit sie sich in der ersten Klasse begegnet waren. Sie wussten nicht, wie es dazu gekommen war, denn Thoralf war der brave Sohn eines Biologielehrers, trug eine Nickelbrille und war sanftmütig. Kay hingegen war ein langer Schlaks, der keinen Unfug scheute. Aber sie verstanden sich blind, und Kay und die anderen nannten ihn den Prof, denn wer wollte schon Thoralf heißen? Diesen Namen benutzten nur die Lehrer. Oder sein Vater. Der war so prinzipientreu, dass ihm der Spitzname seines Sohnes nicht über die Lippen kam. Die Mutter flüchtete sich in Knuddel . Beides war dem Prof furchtbar peinlich, aber mit dem Spitznamen, den die Clique ihm verpasst hatte, heilten seine Wunden.

Neben dem Prof war Juri Kays bester Kumpel. Juri war wie ein Bruder für ihn und er kannte ihn sogar noch länger als den Prof. Juri war darüber hinaus ihr unangefochtener Rädelsführer. Sie drei bestanden ihre Abenteuer zusammen, und es passte kein Blatt zwischen sie.

So wie bei einem Schulausflug in der fünften Klasse. Sie pilgerten mit ihrer Klassenlehrerin Frau Gräfling durch eine Grünanlage in Stralsund. Schulausflüge waren der Gipfel der Langeweile, und so hatten sie vorgesorgt. Im Park war ihr Moment gekommen, Frau Gräfling spazierte mit den Mädchen voran, und die drei ließen sich zurückfallen, bis sie am Ende der Kinderschar ankamen. Juri nickte. Jetzt. Der Prof holte zwei Schläuche WITTOL -Bohnerwachs aus seinem Rucksack und Kay die Streichhölzer. Juri riss die Ecke eines Schlauchs mit den Zähnen auf. Am nächsten Papierkorb drückte er eine ordentliche Portion in den Mülleimer, und Kay warf das Zündholz hinterher. Das Ganze brannte wie Zunder. Pfeifend und ohne sich umzudrehen, schlenderten sie weiter und beglückten jeden einzelnen Papierkorb mit ihrer Prozedur. Ein Riesenspaß. Jedenfalls bis die Mädchen sich umdrehten und Frau Gräfling alarmierten. Die sah fünf Papierbehälter in loderndem Feuerschein und kreischte, wobei hektische rote Flecke ihr Gesicht überzogen, was mindestens so vergnüglich war, wie das Feuer zu legen.

Sie ahnte, dass es die Handschrift vom Kleeblatt war, aber sie schüttelten treuherzig die Köpfe und gaben sich ahnungslos. Frau Gräfling brach den Spaziergang ab, und sie traten die Heimreise an. Schade, es warteten noch so viele Papierkörbe auf ihre Sonderbehandlung.

Das lag nun alles hinter ihnen. Keine Schulausflüge und kein langweiliger Unterricht mehr. Kay freute sich auf die Ferien und auf seine Ausbildung. Sein Herz klopfte wild, wenn er nur daran dachte. Sein Ziel lag direkt vor ihm: Er wollte Seemann werden. Es hab keine Alternative zu diesem Traum, und sollte ihn jemand hindern, die Weltmeere zu bereisen, Südamerika und andere exotische Kontinente kennenzulernen, dann wäre sein Leben sinnlos und verloren. Seefahrt! Kay fand, das hörte sich nach verdammt viel Abenteuer an. Und er hatte noch größere Pläne: Er peilte ein Nautik-Studium an! Die Erfüllung seiner Träume.

Er wusste, dass die anderen aus der Clique ihrer Ausbildung nicht so optimistisch entgegenblickten, und versuchte, seine Euphorie nicht zu deutlich zu zeigen. Freiheit! Er war der Einzige von ihnen, der zu diesem Zeitpunkt eine vage Idee davon hatte, was das bedeutete. In wenigen Wochen begann seine Ausbildung an der Betriebsschule und auf dem Ausbildungsschiff. Das Schiff, die Georg Büchner, lag gegenüber dem Rostocker Überseehafen. Dort würde er das Rüstzeug erlernen, um die Welt zu bereisen. Das erste Jahr war zwar wieder Unterricht, aber mit Schule nicht zu vergleichen. Diesmal lernte er die wichtigen Dinge des Lebens: Wetterkunde, Schiffsmaschinen- und Ladungskunde und Verkehrsgeografie. Noch wusste er nicht genau, was sich dahinter verbarg, aber die Wörter klangen so schön wie ein Schiffshorn im Nebel.

Juris Stoß in die Seite brachte ihn schmerzhaft in die Gegenwart zurück.

»Komm aus der Hüfte, sonst sind wir die Letzten«, motzte er.

Kay beschleunigte seine Schritte, doch schon an der nächsten Ecke spekulierte er weiter. Er würde sich verdammt anstrengen müssen, damit er die Ausbildung erfolgreich absolvierte und anschließend zur See fahren durfte. Für die Aussicht, als Matrose zu reisen und die DDR zeitweise hinter sich zu lassen, beneideten ihn seine Freunde und Feinde glühend. Er war für die Clique der Vorposten in die Welt, er war der Exot, der an der Freiheit schnupperte, und er gab zu, ihm gefiel diese Sonderrolle.

Er erinnerte sich an den Moment, als die VEB Deutfracht/Seereederei seine Bewerbung für die Ausbildung zum Vollmatrosen annahm. Er hatte sein Glück kaum fassen können. Sein Ziel war zum Greifen nah, und bis zum Schluss hatte er gefürchtet, dass die Stasi ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde. Sein Plan war, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Der fuhr seit den 60 er-Jahren zur See und hatte ihm jahrelang wilde Geschichten über ferne Länder erzählt, die Kay anzweifelte. Sein Vater hatte ihm deshalb das Versprechen abgenommen, selbst Seemann zu werden und seine Schilderungen zu überprüfen. Darauf hatte Kay nur zu gerne eingeschlagen.

Fast wäre er gescheitert. Zwar klappte es einigermaßen mit den Unterrichtsfächern der Schule, die Noten in Betragen und Ordnung ließen leider umso mehr Interpretationsspielraum. Er war so beschäftigt damit, sich auszuprobieren, dass er die Zukunft als verplant betrachtete. Er würde zur See fahren. Fakt. Seine Bewerbung hatte er in der achten Klasse abgegeben. Das war zwei Jahre her, und in der Zwischenzeit hatte er geklaut, gezündelt, gestritten, gerauft. Erst als ihn seine Deutschlehrerin zu sich rief und ihm sagte, die Stasi habe sich ausführlich nach ihm erkundigt, dämmerte ihm die Tragweite seiner Naivität. »Streng dich an!«, mahnte sie. »Nicht alle Lehrer mögen dich! Du bist zu undiszipliniert.«

War es das, was sein Vater ihm als umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen angekündigt hatte? »Junge, der Staat wird deine Loyalität unter die Lupe nehmen, nicht jeder darf zur See fahren!«

Warum eigentlich nicht?

Er hakte bei den Nachbarn nach, und siehe da, die Stasi hatte tatsächlich geklingelt und gefragt, wie Kay sich in der Hausgemeinschaft führe. War er für Dummheiten verantwortlich? Über welche Themen sprach er? Hatte er eine politische Meinung, und wenn ja, welche?

Ungeheuerlich! Die Stasi verstand nicht, dass sein Wunsch, zur See zu fahren, hervorragend geeignet war, seine Neugier auf das Leben zu befriedigen. Seine politische Meinung tat doch dabei nichts zur Sache.

Juri sprach ihm Mut zu. »Die finden nichts, bleib ruhig. Du bist ein Guter!«

Er riss sich zusammen, schleimte sich bei den Lehrern ein und schaffte in der zehnten Klasse eine glatte Zwei in Betragen. Rekordverdächtig. Der erste Schritt in die große, weite Welt war geschafft.

Der Prof und Juri waren in ihre Straße abgebogen. Eine Querstraße vor dem großen Findling. Kay wohnte eine Straße dahinter. Graue Plattenbauten aus den 60 er-Jahren in Rostocks Südstadt prägten das Viertel. Zu seinem Block gehörten vier Aufgänge, in jedem Hauseingang zwölf Wohnungen mit mindestens fünfzehn Kindern pro Aufgang. Das Viertel brummte, und auf den Wiesen spielten sie Fußball. Leider waren die Blumenbeete wüst heruntergetreten, denn irgendjemand suchte immer seinen Ball. Aber Fußball spielende Kinder waren glückliche Kinder, und deshalb gab es wenig Schelte von den Erwachsenen.

In jede Himmelsrichtung lagen eine Kaufhalle mit Nahrungsmitteln, ein Blumenladen, der Schuster und die Post – fertig war das Wohngebiet. Klar, es gab Spielplätze und sogar einen Rodelberg, aber keine Geschäfte, keine Klubs, keine Kneipen, kein Kino. Das war ihre Welt, und die engte sie ein. Die einzige Kneipe, der sogenannte Fritz, hielt tagsüber als Schulspeisungskantine her. Abends übernahmen die Biertrinker den Laden, und manchmal fanden sich Reste von Tomatensoße oder eine einsame Nudel auf den Tischen. Nein, hier ließ sich die Welt nicht erobern. Die Freunde schwärmten aus, und das Lindeneck im gepflegten Viertel Bei der Tweel mauserte sich fortan zu ihrem ständigen Treffpunkt, Zufluchtsort und Wohnzimmer. Einer war immer da, oder man setzte sich hin und wartete. Meist blieb man nicht lange allein.

Sascha, der Sohn des Wirts, entwickelte sich zum treuen Freund. Obwohl – oder gerade weil er zwei Jahre älter war als der Rest der Clique.

Kay kramte den Wohnungsschlüssel aus der Tasche und schloss die Wohnungstür auf. Schnell ein spätes Mittagessen, um die Grundlage für die Feier zu schaffen. Er wollte feiern, keine Fragen seiner Mutter beantworten und erst recht nicht seine acht Jahre jüngere Schwester Cora zu ihren Freundinnen bringen. Die Schultasche knallte er in die Ecke, das Zeugnis auf den Tisch in der Küche.

»Ich bin gleich wieder weg«, rief er seiner Mutter zu, die den Küchentisch für ihn deckte.

Er stoppte ab, denn mitten auf dem Tisch lag eine Postkarte, die ihm sofort ins Auge stach. So einen azurblauen See, mit farbenfrohen Häusern drum herum und hohen Bergen im Hintergrund, hatte er noch nie gesehen. Er griff nach der Karte und drehte sie um. Sie war an seine Mutter gerichtet. Wolf, ein weitläufiger West-Verwandter, war im Urlaub und sandte ihr Grüße.

»Italien«, schwärmte sie. »Der Gardasee. Da wäre ich gerne.«

Kay trug die Karte in sein Zimmer, schnupperte an ihr und meinte, Freiheit und Sonnencreme daran zu riechen. Er stieg auf das Hochbett, das sein Vater ihnen gebaut hatte. Er oben, Cora unten. Die Eltern schliefen im Wohnzimmer. Die Wohnung war verdammt eng. Aber hier oben kam niemand hoch, und er hatte sich seine eigene kleine Welt erschaffen. Die große Welt, denn an der Wand und an einem Teil der Decke klebten Postkarten dicht an dicht. Er sammelte die Grußkarten seit Jahren, und jeder, der ihn kannte, wies die West-Verwandtschaft an, ihm unbekannterweise zu schreiben. Er erhielt Postkarten aus der ganzen Welt und hatte im Geiste ebendiese vielfach bereist. Nur Asien und Australien waren graue Flecken auf seiner imaginären Weltkarte, aber das würde schon noch kommen. Er freute sich darauf, jeden dieser traumhaften Orte eines Tages mit eigenen Sinnen zu erleben. Als Seefahrer müsste das doch möglich sein, oder?

Er riss sich das durchgeschwitzte T-Shirt vom Leib und griff eines, das auf dem Bett lag. Nicht das frischeste, aber es würde genügen. Für ihre obligatorische Uniform aus Jeans, T-Shirt, Jeansjacke und weißen Turnschuhen war es heute viel zu heiß.

In der Küche füllte seine Mutter die Schnippelbohnen auf den Teller und lehnte sich dann an den Herd, um sein Abschlusszeugnis zu studieren. Sie begriff erst jetzt, wo sie es schwarz auf weiß las, dass ihr Sohn die zehnte Klasse geschafft hatte. Er gab zu, nachdem sie die Handgranate am Lehrerzimmer angebracht hatten, sah es eine Weile so aus, als würde aus dem Abschluss nichts. Auch wenn die Handgranate nur eine rostige Fundmunition war und nicht mehr scharf und gefährlich, hatte sie doch einen Riesenwirbel verursacht. An eine andere Schule versetzten sie am Ende nur den ein Jahr älteren Ulli, einen Mitläufer. Er sonnte sich in dem Ruhm, die Clique nicht verraten zu haben. Das rechneten sie ihm zwar hoch an, aber zu ihnen gehörte er trotzdem nicht. Sie waren eben kein pflegeleichter Haufen.

Kay drängte seine Mutter zur Eile und stürzte sich hungrig auf eine Frikadelle direkt aus der Pfanne. Etwas Kaltes wäre ihm lieber gewesen, aber egal. Er wollte ins Lindeneck und die Jungs treffen: Juri, den Prof, Oliver, die Zwillinge, Hannes, Sascha und er – eine eingeschworene Gemeinschaft.

Er hatte großen Hunger. Leider hatte er immer Hunger. Er spießte die Bohnen eilig mit der Gabel auf, schlang die zerpflückte Frikadelle hinunter und sprang auf, sowie er fertig war. Die Proteste seiner Mutter ignorierte er, als er von seinem Zimmer aus hinüber auf den anderen Wohnblock starrte. Von dort aus dem Fenster sah er nicht nur die Wäschestangen auf dem Rasenstück zwischen den Wohnblöcken, sondern direkt gegenüber in Hannes’ Zimmer, was praktisch war, denn sie trafen ihre Verabredungen per Handzeichen. Ein Telefon hatte natürlich niemand von ihnen, das war den Privilegierten, Parteifunktionären und der Stasi vorbehalten. In ihrem Neubaugebiet gab es nicht einmal eine Telefonzelle, aber die Not machte erfinderisch. Geheime Zeichen in den Fenstern transportierten die wichtigsten Informationen, oder sie klingelten auf Verdacht an der Tür.

Mitunter war es auch nervig, vis-à-vis von Hannes zu wohnen. Denn wenn Hannes früh aufstehen musste und sah, dass bei Kay noch die Vorhänge geschlossen waren, drückte er schon mal lang anhaltend die Türklingel, damit Kay ja nicht weiterschlief. Hannes war ein fauler Mistkerl. Ständig hatte er irgendwelche Einwände, um sich nicht bewegen zu müssen. Es war ihm zu heiß oder zu kalt, er hatte Hunger oder Durst, und wenn seine Faulheit eine sportliche Disziplin wäre, käme Hannes nicht über den vierten Platz hinaus – nur damit er nicht aufs Treppchen steigen müsste. Aber er war klug und groß und verschaffte sich auch ohne Worte Respekt. Ließ er sich dazu herab, zu argumentieren, stieg sein Ansehen noch weiter.

Heute jedoch war Hannes’ Zimmer leer. War er schon im Lindeneck?

»Wird spät«, rief er vom Flur aus in die Küche.

»Willst du schon wieder los?« Seine Mutter seufzte ergeben. »Trink nicht so viel.«

In weniger als dreißig Sekunden war er aus der Tür, sprintete die Treppe hinunter. Die Hitze war unerträglich, und die Frikadelle lag ihm nun schwer im Magen. Wobei ihm alles schwer im Magen lag, weswegen er auch so spindeldürr war. Er hatte schon seit frühester Kindheit Probleme mit dem Essen – er vertrug es nicht. Er verdaute das Essen offenbar nur rudimentär, und heftiges Sodbrennen quälte ihn Tag und Nacht. Daher ließ er immer häufiger Mahlzeiten aus, um sich besser zu fühlen, jedenfalls, wenn man von dem ständigen Hunger absah.

Er bog in Juris Straße ein. Der Prof stand lässig an die Hauswand gelehnt und strahlte ihn an. In diesem Moment kam auch Juri aus dem Haus gerannt. Sie waren auf dem Weg in ihre Zukunft, es war Sommer, die Sonne brannte, und niemand hielt sie auf. Und genau dieses Lachen lag auf Juris Gesicht, der mit seinen langen blonden Haaren definitiv ein Frauenschwarm war.

Egal, jetzt zählte nur, wer zuerst am Lindeneck war.