Rostock, Juli 1980
H annes sah zum hundertsten Mal auf die Wanduhr über dem Gläserregal. Sie warteten schon eine Ewigkeit, als Kay, Juri und der Prof endlich die dunkle Kneipe betraten. Hannes verstand nicht, was bei den dreien so lange gedauert hatte. Wahrscheinlich hatten die Hirnis noch bei Mama gegessen, statt zu verstehen, dass sie Wichtiges vorhatten. Heute plante die Clique die Feier zum Schulabschluss, die Vorbereitung auf ihre Sommerferien, die sie auf dem Campingplatz am Krakower See verbringen wollten – und nichts Geringeres als ihre gemeinsame Zukunft.
Hannes holte tief Luft. Wie würde es weitergehen in ihrem Leben? Was erwartete sie außerhalb ihres Lindeneck-Wohnzimmers und dem Schutz der Schule?
Das Lindeneck war die einzige anständige Kneipe weit und breit. Der Weg zur Eingangstür war von Hecken umsäumt, und an der nächsten Ecke standen tatsächlich ein paar Linden, was nicht selbstverständlich war. Schräg gegenüber verhöhnten einen die protzigen Villen der Parteifunktionäre und ließen das Lokal noch ärmlicher erscheinen. Auf dieser Seite der Straße dominierten triste, halb verfallene Häuser in verschiedenen Grau- und Brauntönen. Das Lindeneck reihte sich hier mühelos ein, und auch innen machte es nicht viel her. Das alte, dunkle Mobiliar war geschmückt mit geblümten Sitzkissen, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Es roch verraucht und nach abgestandenem Bier. Aber die Stimmung war stets ausgelassen und fröhlich, die Preise waren niedrig, Rauchen war erlaubt, es gab keine Schlägereien und keinen Ärger, nur ehrliche Menschen, die ihr Bier genossen.
Frau Niekrenz, die etwas übergewichtige Tresenkraft in bunter Kittelschürze, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Jungs in Schach zu halten. »Kippeln Sie nicht mit dem Stuhl, Herr Krissler« und »Machen Sie keine Glutflecken auf die Tischdecke« sagte sie oft, wenn sie die Teller an den Tisch balancierte und stets mit ihrem Daumen im Kartoffelsalat steckte. Hannes fand sie voll in Ordnung, denn sie hatte ihm Würstchen mit Kartoffelsalat hingestellt, bevor er auch nur etwas gesagt hatte. Sie kannte ihre Pappenheimer, und er liebte es, überflüssige Worte zu sparen.
Die drei Hirnis stoppten an der lang gezogenen Theke, um Sascha zu begrüßen. Er stand hinter dem Tresen und half seinem Vater, Bier zu zapfen. Obwohl ihnen die Zwillinge hektisch zuwinkten, ließen sich die Ankömmlinge nicht hetzen. Gott sei Dank wies Sascha bedauernd auf den vollen Schankraum, er hatte keine Zeit zu plaudern. Die drei wandten sich ab und klopften endlich zur Begrüßung auf den Tisch, zwängten sich zu Hannes und den anderen auf die Bank und sahen erwartungsvoll in die Runde. Händeschütteln gab es bei ihnen nicht, für plumpe Vertraulichkeiten waren sie nicht zu haben.
»Habt ihr für uns mitbestellt?«, fragte der Prof.
Hannes nickte, und wie auf Kommando erschien Frau Niekrenz mit drei Humpen Rostocker Pils. Hellbier oder Pils aus der gleichen Brauerei, mehr hatte das Lindeneck nicht zu bieten, aber dafür war es billig. Sie stießen auf das Schulende und auf ihre Freiheit an, wobei noch etwas nebulös blieb, was sie mit dieser Freiheit anfangen sollten. Hannes seufzte. Deshalb war das Treffen heute so wichtig, aber außer ihm schien das niemand zu verstehen. Kay war der Einzige von ihnen, der mit seinem künftigen Beruf zufrieden war. Er wollte Seemann werden. Für ihn wäre das nix, aber Gott, wenn Kay denn das Leben seines Vaters nachäffen wollte, bitte sehr. Hannes eiferte seinem Alten auf keinen Fall nach, der arbeitete als Ingenieur in einer Konservenfabrik. Zwar beneidete er Kay um die Aussicht, die Welt zu bereisen, aber es nervte ihn unendlich, dass der Freund sich dafür so anpasste und verbog. Er war richtig artig geworden. Dabei stand die Freiheit ihnen allen zu, oder? Die Freiheit, mit seinem Leben tun und lassen zu dürfen, wozu man Lust hatte.
»Geschafft«, entfuhr es Kay, als könne er Hannes’ Gedanken lesen.
»Und wozu?«, fragte Alexander. »Du willst die Welt erobern, aber sie lassen dich nicht, wirst schon sehen. Die halten dich bestimmt an der kurzen Leine, und du darfst das Schiff in den Häfen nicht verlassen.«
»Uns lassen sie schon gleich gar nicht«, fuhr Ricksen fort.
»Wir sollen Bauteile zusammenschrauben«, maulte Alexander.
Vor ein paar Monaten hatten die Eltern der Zwillinge sie für eine Lehre zum Maschinen- und Anlagenmonteur angemeldet. Jeglicher Protest der Jungen war im Schulterzucken der Eltern geendet. Es gab keine Alternativen. Meist gingen die Kinder in den Betrieben in die Lehre, in denen ihre Väter bereits angestellt waren und ein gutes Wort für sie einlegten.
»Ich mach das nicht«, schimpfte auch Ricksen.
»Wir arbeiten nicht in der Fabrik«, erklärte Alexander und riss den Arm hoch. »Frau Niekrenz, noch eine Runde halbe Liter.«
Das sind ja ganz neue Töne, dachte Hannes. Wachten die Zwillinge endlich auf? Er bezweifelte das, zog eine Augenbraue hoch und sah Ricksen so fragend an, dass dieser weiterredete.
»Glaubst du, ich versauere in einem doofen Kombinat? Ich möchte fotografieren oder was mit Kunst …«
Hannes prustete los. Ricksen ein Fotograf? Er hatte in seinem ganzen Leben keinen Fotoapparat in der Hand gehalten, geschweige denn Interesse an Kunst gezeigt.
»Hey, Kumpel, sei nicht böse, aber ihr beiden und Kunst, da fällt es mir schwer, die Linse scharf zu stellen.« Er warf Ricksen einen versöhnlichen Blick zu. Gab es überhaupt Kunst in ihrem Arbeiter- und Bauernstaat? In ihrer Gegend jedenfalls nicht. Er kannte keine Galerie, es gab kein Theater, keine Bühne, nichts. Er fand es aber irgendwie auch charmant, dass Ricksen wenigstens so tat, als wolle er seinem Leben Sinn geben. Ihm hingegen war noch nichts eingefallen, wie er dem tristen Grau entgehen könnte. Er war nur heilfroh, die Schule hinter sich zu haben.
»Dann eben nicht Fotograf. Irgendwas, ist sowieso nicht von Dauer. Wir wollen nach Hamburg, das wäre was. Bloß raus hier. Is’ doch nicht so schwer zu kapieren«, verkündete Alexander.
Es geschah oft, dass ein Zwilling den Gedanken des anderen zu Ende führte.
Sie lachten immer noch. Ricksen knallte seine Marlboro-Packung auf den Tisch. Der Angeber hatte sie zwar mit DDR -Kippen gefüllt, aber die West-Packung sah lässiger aus.
»’ne Runde Stoni!« Er bestellte Kräuterlikör, dabei waren die halben Liter Bier noch nicht am Tisch. Ricksen pulte eine Zigarette aus der Packung und versuchte, sie mit seinem Feuerzeug anzuzünden. Es war leer. Genervt blinzelte er in die Runde.
»Gräm dich nicht«, sagte Hannes und schnippte ihm eine Schachtel Streichhölzer zu. »Wir sitzen alle im gleichen Boot. Kay wird wahrscheinlich in Polen und im Osten rumschippern. Nix is mit der weiten Welt. Niemand kommt so einfach aus dem Land.«
»Kennt ihr den ?«, unterbrach Oliver. »Nenne eine Insel im Roten Meer!«
Seine Kunstpause füllte Juri mit einem tiefen Seufzen.
»Berlin!«
Keiner lachte.
»Wenn wir zusammenhalten, wird sich was ergeben. Wir helfen uns gegenseitig«, sagte Kay.
Natürlich, er versuchte mal wieder, die Truppe positiv zu stimmen. Hannes wusste, wie wichtig Kay die Freundschaft der Jungs war. Für ihn waren sie wie Brüder, aber Kay verschloss die Augen vor der Realität.
»Es ist doch vorhersehbar, was auf uns zukommt.« Der Prof senkte seine Stimme. »Lehre, dann Wehrdienst, irgendwann Heirat, nur damit man Chancen auf eine Wohnung hat, und den Rest der Zeit den Familienkredit abarbeiten, anschließend Bierbauch, Frust und Sterben.«
Gott sei Dank erschien Frau Niekrenz mit der Runde Bier und Stonsdorfer, bevor sie sich im Nebel der Hoffnungslosigkeit verloren. Es mochte ja Menschen geben, die diese vorgefertigten Lebensläufe als wohltuende Sicherheit empfanden, doch Hannes wusste, dass sie nicht dazugehörten.
»Ich habe Schluss, meine Herren, die Aushilfe übernimmt.« Die Kellnerin stellte das Tablett mit den Gläsern ab und fuhr fort: »Zwischenrechnung: Achtzehn Mark. Teilt euch das!« Ihre in die Hüften gestemmten Hände signalisierten, dass sie keine Lust hatte, jeden einzeln abzukassieren. Die Jungen klaubten ihr Geld aus den Taschen, und bald lagen genug Münzen auf dem Tisch, um die Rechnung zu begleichen. Frau Niekrenz verteilte Bier und Liköre und wünschte ihnen einen schönen Abend.
»Wir besaufen uns jetzt und planen unseren Sommerurlaub in Krakow«, erklärte Juri. »Freut euch, statt in Frust zu versinken. Wir haben die Schule geschafft, und nun will ich was erleben und ein paar Mädchen kennenlernen. Habt ihr schon Proviant?«
Damit meinte Juri die Alkoholvorräte. Es war ihnen nicht erlaubt, größere Mengen Bier oder harte Sachen einzukaufen, deshalb mussten sie akribisch planen, wie sie an genügend Alkohol herankämen. Noch so eine staatliche Ungerechtigkeit, die sie mit kreativen Mitteln umgingen.
»Ich hab ’ne Flasche Pfeffi in den Kartoffeln versteckt, da findet mein Vater sie nie.« Dem Prof saß die Brille schon wieder schief auf der Nase.
»Astrein, aber mit Pfefferminzlikör kommen wir nicht weit«, wandte Juri ein. »Was haltet ihr davon, wenn wir Ulli mitnehmen? Er ist volljährig und kann für uns den Nachschub organisieren.«
Kurze Stille.
Sie dachten an die Nummer mit der unscharfen und rostigen Handgranate an der Lehrerzimmertür. An sich hatte Ulli die Aufnahmeprüfung für die Clique definitiv bestanden. Trotzdem wollte ihn keiner dabeihaben. Ulli hingegen würde sich die Chance nicht entgehen lassen und sie begleiten.
»Das erweitert unseren Spielraum ungemein.« Juri hob den Daumen.
Alle nickten. Juri ist doch ein Teufelskerl, dachte Hannes. Für jedes Problem eine Lösung. Ob er auch eine Idee hatte, wie man diesem frustrierenden Staat entkommen könnte? Wie sich aus der Zukunft Lebenswertes herausschälen ließe?
»Wir trinken auf die Freundschaft«, rief Juri. »Wir lassen uns von der Scheiße hier nicht auseinanderbringen, klaro?«
Sie hoben die Biergläser und schlugen ein.
»Ewige Freundschaft, egal, was passiert!«, rief Kay begeistert.
Juri grinste. »Bis dass der Tod uns scheidet.«
Einige Stunden später begann sich das Lindeneck zu leeren, obwohl es erst Viertel nach acht war. Nur einige wenige Stammgäste harrten aus. Hannes beobachtete schon seit einiger Zeit einen Unbekannten, der am Tresen stand. Er trug ein kurzes Hemd, fleckige Jeans, hatte Tränensäcke unter den Augen und einen ungepflegten Vollbart. Er trank Korn – und davon viel. Dass der Wirt ihm das durchgehen ließ, wunderte ihn. Der Kerl hing mit dem Kopf so tief über der Theke, als wolle er der Schwerkraft gleich nachgeben und sich zum Schlafen auf seine gekreuzten Arme legen. Im Stehen. Was zwar beeindruckend war, aber Hannes traute dem Typ nicht. Vielleicht war er betrunken, vielleicht auch nicht. Man musste vorsichtig sein, so viel hatte ihm seine Glucke von Mutter mitgegeben. Immer misstrauisch bleiben, um zu überleben. Man wusste nie, wer der Stasi half und wer nicht. Immer nett und höflich sein, die Gedanken für sich behalten und keine Angriffsfläche bieten.
Sie becherten und schwadronierten jetzt deutlich leiser über ihre Zukunft, die Zukunft der DDR und was sie an Heldentaten vollbringen wollten, als Sascha zu ihnen an den Tisch geschlendert kam. Er hatte den ganzen Nachmittag kaum mit ihnen gesprochen, weil der Laden so gebrummt hatte. Nun leerte es sich, und sie hofften, dass er sich zu ihnen setzte. Die Zwillinge rückten zur Seite, um ihm Platz zu schaffen.
»Nee, lasst mal. Ich hatte ’nen harten Tag, ich mach ’n Abflug«, sagte er.
Sie hatten keine Zeit zu fragen, ob er etwas Wichtiges vorhabe, so schnell war er aus der Tür. Ihre Reaktionszeiten waren allerdings auch nicht mehr die besten. Sie hatten alle zu viel intus.
»Hört zu«, lallte Ricksen über den Tisch, »ich will was Prickelndes erleben.« Er deutete auf den Schnaps. »Lasst mir Vorsprung. Ich gehe raus und versteck mich in der Hecke, und ihr folgt mir. Aber nach und nach, damit es nicht auffällt!«
Hannes blinzelte ihn fragend an. Was schwafelte Ricksen da?
»Na, wir prellen die Zeche!«
Alexander zischte: »Bist du bescheuert, wir sind hier Stammgäste! Wir sind morgen wieder hier. Spätestens nach den Ferien.«
»Du spinnst!«, sagte Kay und lachte. Bis er merkte, dass Ricksen es ernst meinte.
»Kommt, seid nicht so feige«, nuschelte Ricksen.
Allgemeines Kopfschütteln. Hannes schwankte zwischen Ärger über den bekloppten Vorschlag und der Bewunderung dafür, dass Ricksen versuchte, sich aufzulehnen. Egal, wie. Andererseits dachte Ricksen zu kurz. Seinen Kumpel Sascha in Schwierigkeiten zu bringen, wenn sie bei seinem Vater die Zeche prellten, war nicht übermäßig genial.
Einige Biere später war auf wundersame Weise der Beschluss gefasst, die Reihenfolge des Abgangs festgelegt und Hannes mit seinen Argumenten überstimmt.
»Wenn ich draußen bin, kommt ihr nach, und wenn euch jemand folgt, dann hau ich den weg!«, lallte Ricksen.
Nervöses Schweigen. Das Lindeneck war inzwischen zwar leerer, aber das Aushilfspersonal trotzdem abgelenkt. Hannes fragte sich, ob dieser betrunkene Haufen nicht an seiner eigenen Tollpatschigkeit scheitern würde. Ricksen mit seinen blöden Ideen. Warum prellten sie in ihrer Stammkneipe die Zeche? Das machte doch keinen Sinn. Vielleicht merkten die Aushilfen auch nichts. Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken daran, dass sie auffliegen würden, aber er musste sich entscheiden, ob er zu seinen Kumpels halten würde oder nicht. Seufzend stand Hannes auf und schlich sich nach draußen.
Zehn Minuten später trafen sie sich in sicherer Entfernung in der Straße Unter den Linden. Die Luft war lau, und Hannes war schwindlig. Er hätte Abkühlung gut gebrauchen können.
»So was mach ich nicht noch mal!«, stieß Hannes erleichtert aus, als Juri als Letzter der Runde zu ihnen stieß.
»Wo ist Ricksen?«, flüsterte Kay.
Sie sahen erst sich fragend an, gingen dann ein paar Schritte zurück in Richtung Lindeneck. Die Tür war geschlossen, und durch die dichten Hecken längs des Weges konnten sie nichts erkennen.
»Hat ihn einer gesehen?«, fragte Hannes. Ihm schwante nichts Gutes. »Der Hirni hat sich verdrückt! Von wegen: Ich hau sie alle weg! «
Alexander ergriff sofort Partei für seinen Bruder: »Ich geh unauffällig zurück und schaue nach.«
Langsam schlenderte er in Richtung der Kneipe und brach einen kurzen Augenblick später in empörtes Gestikulieren aus. Sie schlichen sich zu der Stelle, auf die Alexander deutete. Hinter der Hecke lag der schlafende Ricksen, zwischen seinen Lippen steckte noch eine brennende Zigarette.
»Schöne Absicherung ist das, der ist total besoffen, und wir riskieren hier alles«, schnaubte der Prof.
»Flitzpiepe«, raunte Hannes. »Lassen wir ihn liegen. Das hat er verdient.«