Rostock-Parkentin, Oktober 2016
T he Carpet Crawlers war verklungen, die Musik leiser gedreht. Kay saß bewegungslos mit der Bierflasche in der Hand an dem langen Tisch, und seine Augen suchten den Kerl, den er glaubte, gesehen zu haben, aber da stand niemand bei den Frauen. Er schüttelte den Kopf. Hatte er sich das alles nur eingebildet? War er einfach zu berührt von der Trauerfeier, der Musik, den alten Gefühlen?
Damals im Lindeneck hatte er seinen Trinkspruch auf die ewige Freundschaft aus tiefstem Herzen gemeint. Nie hätte er geahnt, dass ausgerechnet er diesen Schwur brechen würde. Freundschaft, sein Trostpflaster für die Seele. Nie hätte er gedacht, dass er einem von ihnen die Freundschaft aufkündigen würde. Das Leben hatte ihm Entscheidungen aufgezwungen, die er nicht für möglich gehalten hatte, und diese Entscheidungen hatten aus ihm den Mann gemacht, der er heute war. Vielleicht galt das für jeden Menschen, aber er bildete sich ein, dass er weniger Möglichkeiten zur Wahl gehabt hatte. Er hatte zur See fahren wollen, was nun wirklich kein großer Anspruch ans Leben war, aber das System der DDR hatte ihm keinen Spielraum gelassen. Auch nicht die Menschen, die in diesem System agierten. Oder präziser ausgedrückt: dieser eine Mensch. Dieser jämmerliche Denunziant.
Kay wiegte den Kopf, als könne er damit die Gedanken an die Vergangenheit abschütteln. Die Trauerfeier spülte alte Erinnerungen an die Oberfläche. Lange vergrabene Gefühle und überwunden geglaubte Enttäuschungen. Er sah sich um, versuchte, ihn zu entdecken. Die Männer mühten sich, Äste, Baumreste und ein paar Holzpaletten aufzustapeln, um später, wenn die einsetzende Dämmerung in Dunkelheit umschlug, ein Lagerfeuer anzufachen. Kay drehte die Bierflasche in seinen Händen und fragte sich, warum der Alkohol ihn nicht beruhigte, ihn nicht von seinen düsteren Rückblicken ablenkte und die Traurigkeit in Schach hielt. Warum war ihm das Schulende in den Sinn gekommen? Sah er unbewusst dort den Anfang des Verrats? Der Verrat, der ihrer aller Leben so nachhaltig beeinflusst hatte? Sie waren nur eine Gruppe junger Kerle gewesen, die dem Leben so viel Spaß wie möglich abgetrotzt hatten. Warum hatte der Staat so viel Angst vor ihnen, dass er einen Spitzel auf sie ansetzte?
Natürlich hatten sie den Chaoten Ricksen nicht vor dem Lindeneck liegen gelassen. So herzlos waren sie dann doch nicht. Aber einen Moment gezögert hatten sie schon. Kay schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie Ricksen mit einem seligen Grinsen auf dem Gesicht bekundet hatte, dass die Aktion ein voller Erfolg gewesen sei.
Er sah, dass Hannes, der ihm nun stumm gegenübersaß, die Stirn runzelte, aber nicht fragte, warum Kay lächelte.
Wenn man Hannes nicht besser kannte, dachte man, das sei ein Trick, um Kay zum Reden zu bringen. Hannes war vielleicht der Klügste von ihnen, sicher der Zornigste, aber vor allem so träge, dass selbst seine Fragen unausgesprochen blieben. In seinem Kopf trabte Hannes weite Wege, doch seine Füße ließ er lieber auf dem Sofa liegen. Oder dachte er womöglich, dass Freunde sich auch ohne Worte verstünden? Kay lächelte ihn bedauernd an. Welche Art Freunde waren sie? Wie hatten sie es geschafft, dieses Band bis heute aufrechtzuerhalten? Das Gummiband ihrer aller Freundschaft, was sie bis fast zum Zerreißen ausdehnten und das einen dann wieder dicht an die anderen zurückschnippte.
In diesem Moment stieß Hannes doch noch angestrengt seine Frage hervor.
»Hab gehört, du hast geheiratet? Schicke Altbauwohnung in Hamburg und so …«
Kay schluckte trocken. Das beschäftigte Hannes angesichts des unermesslichen Verlustes, den sie erlitten hatten? Der dicht unter der Oberfläche liegende Ärger wallte erneut auf. Er umklammerte die Bierflasche, setzte sie an und trank sie in einem Zug leer, knallte sie zurück auf den Tisch. Das sollte Antwort genug sein. Hier und heute war kein Platz für sinnlose Diskussionen, welches Leben spießig war und welches nicht.
Hannes ließ sich leider nicht beeindrucken. Er starrte ihn weiter an.
Kay rechtfertigte sich doch nicht dafür, dass er sein Glück gefunden hatte! Er hatte den Stasi-Terror durchgestanden, den Verrat überlebt und sich damit ein wenig Sicherheit und Zufriedenheit verdient!
Er stand auf. Sollte Hannes dieses Gespräch allein führen. Er hatte keine Lust auf sinnlose Debatten.
Erstaunlich behände griff Hannes nach seinem Arm und zog ihn wieder hinunter auf die Bank. Seine Hand hielt Kays Unterarm umklammert.
»Hast dir ein biederes Nest gebaut, ja?« Hannes’ Missfallen war nicht zu überhören.
»Ja, und? Du hast in Krakow nicht mal ein verdammtes Zelt aufgebaut. Oder in der Zeit in Berlin deine Wohnung eingerichtet. Du hast dich nie im Leben für irgendwas begeistert. Da wollte ich dir sicher nicht nacheifern.«
Das verschlug Hannes die Sprache. Er sah ihn verständnislos an. Kay hätte vielleicht über seinen lausigen Sieg gelächelt, wenn er sich nicht selbst für diese Attacke schämte und wenn der alte Konflikt zwischen Hannes und ihm nicht plötzlich die Bilder von Krakow wachgerufen hätten. Woher kamen diese Erinnerungen?
»Weißt du, ob er kommt?« Kay stockte. »Ich dachte eben, ich hätte ihn gesehen. Das würde er nicht wagen, oder?«
Hannes schüttelte den Kopf, als gäbe er Kay endgültig verloren. Er griff nach Tabak und Blättchen und baute sich eine Tüte.
In bestimmter Weise waren sie damals die vollkommene Truppe gewesen. Kay war eher schüchtern und beobachtend, und vielleicht hätte er deshalb am ehesten wahrnehmen müssen, was in ihren Sommerferien seinen Anfang genommen und in einer Katastrophe geendet hatte.