5 . Kapitel

Rostock, August 1980

J uri besah sich lächelnd den derangierten Kay. Sie waren gerade in Rostock in den Zug Richtung Mecklenburgische Seenplatte gestiegen, um ihren wohlverdienten Sommerurlaub anzutreten. Kay war mal wieder zu spät gekommen und hatte fast den Zug verpasst. »Du siehst aus, als wärst du bei drei Maidemonstrationen nacheinander mitgelaufen.«

»Ich musste Cora noch bei der Freundin abliefern«, schimpfte er. »Meine Mutter hat mir ’nen Zettel hingelegt, als wüsste sie nicht, wann der Zug fährt.« Er war offensichtlich genervt. Ob von der Mutter oder der Schwester, ließ sich nicht sagen.

»Hast du ihr noch Zöpfchen geflochten?«, stichelte Juri weiter.

»Das Biest hat absichtlich getrödelt.«

Der Waggon ruckelte über die Schienen, und trotz der weit hinuntergezogenen Schiebefenster brachte der Fahrtwind keine Abkühlung. Die ganze Truppe saß wie vor einem heißen Föhn und schwitzte. Trotzdem war die Stimmung gelöst. Obwohl Krakow am See nur eine Bahnstunde von Rostock entfernt lag, würden sie in Güstrow den Bieräquator überqueren. Damit ließen sie die dürftige Auswahl an Getränken in Rostock hinter sich und würden bald das Lübzator Pilsener genießen. Eine willkommene Abwechslung in ihrem tristen Alltag. Und Zerstreuung brauchten sie nach den langen Schuljahren dringend.

Die Zwillinge hatten ausgetüftelt, wie sie ihren Biervorrat bereits auf der Anreise aufstocken konnten. Am Bahnhof Güstrow nutzten sie einen halbstündigen Aufenthalt, um leere Beutel und einen Seesack aus dem Gepäck zu kramen und in den nächsten Konsum zu marschieren. Achtzig Flaschen Lübzator – mehr passte nicht in ihre Taschen. Leider nahm die Kassiererin ihre Arbeit arg ernst.

»Das sind ja Unmengen!«, rief sie entsetzt.

Mit einem alles erklärenden »Ja!« hoffte Juri, eine Diskussion zu verhindern. Bedauerlicherweise blieb er erfolglos.

»Ich brauche einen Personalausweis! So viel Alkohol gebe ich nur an Volljährige ab.«

»Werte Dame, wir sind älter, als wir aussehen«, Juri strich sich lächelnd über die blonden Haare. »Geben Sie zu, wir haben uns gut gehalten!« Er schob Ulli dichter an die Kasse. Gott sei Dank hatte er die Idee gehabt, Ulli mitzunehmen. Der war zwar total verklemmt und das Unwohlsein stand ihm ins verschreckte Gesicht geschrieben, aber er kramte schwitzend seinen Ausweis aus der Jeanstasche. Er war ihnen mit seinen neunzehn Jahren eine Nasenlänge voraus. Alle anderen hatten erst nach dem Sommer Geburtstag. Sascha war zwar älter, aber er half in der Kneipe seines Vaters aus und war daheimgeblieben. Sehr zum Bedauern der Freunde. Ulli seufzte erleichtert, als sie den Laden mit ihrer Beute und ohne Schwierigkeiten verließen. Eigentlich schade, dass er nie zur Clique dazugehören würde.

»Urlaub, wir kommen!«, schrie Juri den verdutzten Fußgängern vor dem Konsum entgegen und rannte mit dem schweren Gepäck johlend zurück zum Bahnhof.

Der Schweiß tropfte ihnen vom Gesicht, als sie in der Sommerglut endlich an dem zugewiesenen Standort auf dem riesigen Zeltplatz ankamen. Juri sah sich unschlüssig um: eine grüne Wiese, auf der die Zelte standen, und dichtes Gestrüpp zur Umrandung sowie ein paar Bäume. Das war’s. Er sah Kay an und lachte. Egal, sie waren frei, und das Wasser des Krakower Sees schimmerte einladend in verschiedenen Blau- und Grüntönen.

»Jungs, schnell die Zelte aufgeschlagen und dann ins Wasser, ich verglühe«, sprach er aus, was vermutlich alle dachten.

Sie beratschlagten kurz und stellten die Zelte dann mit den Öffnungen dicht zueinander im Kreis auf, sodass sie sich unterhalten könnten, während sie im Zelt saßen. Da sie sich zu zweit ein Zelt teilten, ging es zügig voran. Sie waren genügsam und brauchten keine Campingstühle, Tische oder eine Kühlbox. Sie legten eine im Gestrüpp gefundene leere Kabeltrommel aus Holz um und platzierten sie in der Mitte ihrer Zeltstadt. Die Platte war tipptopp als Tisch, Bar und Treffpunkt geeignet. Die Zwillinge hatten einen Campingkocher mitgebracht, und damit war die Versorgung mit Eierpfannkuchen gesichert. Weiteren Firlefanz brauchten sie nicht. Sie waren jung, anspruchslos und den Mangel gewohnt. Hannes hatte nicht einmal ein Zelt dabei, eine Hängematte reichte ihm. Er saß rauchend und sinnierend neben ihnen und sah ihnen beim Aufbau zu.

»Männer, ihr seid genial!«, rief Juri. Er griff in seine Tasche und holte ein Handtuch hervor. »Ich geh schwimmen – und ihr kommt mit!«

Sie ließen sich nicht lange bitten, zogen ihre Badehosen an, rannten zum Steg, ließen die Badetücher ins Gras fallen und sprangen mit Arschbomben in den See, sodass das Wasser in alle Himmelsrichtungen spritzte.

Juri kam es vor, als hieße ihn die Kühle des Wassers, das Blau des Sees willkommen. So schwerelos hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Er ließ sich auf dem Rücken treiben und schloss die Augen. Nie wieder Schule, stattdessen wartete eine neue Welt auf ihn mit Mädchen, Abenteuern und vielleicht sogar einer beruflichen Karriere. Er plante, nach der Lehre irgendetwas zu studieren. Mit einem Studium würde er seinen Eltern zeigen, dass er genauso wertvoll war wie seine blöde Schwester. Die Prinzessin der Familie, die stets gute Schulnoten nach Hause brachte und alle mit ihrem hübschen Lächeln bezirzte.

Als er später neben den anderen auf seinem Handtuch lag, wärmte ihn die Vorfreude auf die kommenden Tage.

»Wenn Heinsch nicht Trainer bleibt, flippe ich aus!«, brach es unvermittelt aus Oliver heraus, und er beendete damit Juris Gedankenreise. Er drehte sich auf den Bauch und grinste Oliver an. Brannte Kay für das Meer und die Zwillinge für den Alkohol, so lebte Oliver für den Fußball. Da flankte er aus jeder Lebenslage. Selbstredend hatte die ganze Gruppe Dauerkarten für das Ostseestadion, trotzdem war Oliver der Einzige, der nie ein Spiel seines Vereins versäumte und den Zustand von Hansa Rostock wöchentlich neu analysierte. In dieser Saison hielt Hansa die Klasse, und Oliver war bester Laune. Immerhin ein zehnter Platz, und der ehemalige Spieler Jürgen Heinsch war als Trainer gleichermaßen respektiert bei Spielern und Fans. Aber anscheinend traute Oliver dem Frieden nicht.

»Ach«, warf Hannes ein, »… mit Jarohs als Stürmer sind die nicht zu schlagen.«

»Ja, er ist quirlig, aber denk nur an Radtke. Mensch, der hat ständig Knoten in den Beinen«, echauffierte sich Oliver.

Juri hörte dem Schlagabtausch nur mit einem Ohr zu. Er wusste, was geschehen würde. Hannes würde die Meinung vertreten, dass ein umtriebiger Stürmer reiche. Oliver hielt vehement dagegen und fand, dass Hannes keine Ahnung von Fußball habe. Was vermutlich stimmte. Hannes würde Oliver bald als beschränkt und naiv beschimpfen. Auch das stimmte vielleicht. Dann kämen Ricksen und Alexander und diskutierten jeden einzelnen Spieler der Reihe nach durch.

»Wir haben Gerd Kische!«, Ricksen setzte sich auf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Juri und Kay verständigten sich mit Blicken. Jetzt ist der Torwart dran, lautete der Satz in Kays Augen. Alles wie immer, antwortete Juris Augenaufschlag.

Am Ende kämen sie wieder am Anfang an: Der Trainer war okay, und alle hofften, dass er bliebe.

Ein schmerzhafter Stoß in die Seite ließ Juri zusammenfahren. Der Prof nickte Richtung See. Offenbar fand er, dass es besser war zu schwimmen, als zu streiten. Und damit hatte er verdammt recht.

Später am Abend veranstalteten sie ihr erstes Trinkgelage und führten Ulli in den Haufen ein. Der arme Kerl war nahezu jungfräulich und hatte sich noch nie die Brille beschmiert. Auf ihrer improvisierten Bar standen der Pfefferminzlikör und die Fäustlinge, wie sich die gedrungenen Bierflaschen nannten, säuberlich aufgereiht. Kay hatte ein Kofferradio mitgebracht, das sie in der Nacht leise laufen ließen, und so tranken sie und diskutierten die politische Lage im Land. In Polen war ein Streik auf der Danziger Werft im Gange. Werftarbeiter forderten Lohnerhöhungen und eine funktionierende Gewerkschaft – was immer das heißen mochte. Das war den Freunden nicht so ganz klar. Klar hingegen war, dass die DDR -Führung das kritisch sah. Streik. So etwas gab es in der DDR nicht. Es war eine beispiellose Aktion dieser polnischen Solidarność-Bewegung und ihres Anführers Lech Wałęsa, dass sie sozialistische Arbeiter dazu brachten, sich aufzulehnen und Rechte einzufordern.

»Ich kapier es nicht!«, entfuhr es Kay mitten in dem Radiobericht. »Die beiden Bruderländer auf Konfrontationskurs!«

»Das hat es noch nie gegeben«, bestätigte der Prof und schüttelte den Kopf. »Der Anfang einer Öffnung des Landes Richtung Westen?«

»Doch wohl eher der Anfang vom Ende. Jedenfalls für uns. Stell dir vor, sie verbieten uns, nach Polen zu fahren!«, rief Hannes unnötig laut und mit leicht verwaschener Aussprache. »Wenn sie die Grenzen schließen, bleibt nur noch die Tschechei. Dann bring ich mich um!«

Eine neue Runde Pfeffi entschärfte seine Worte. Er meinte es nicht so.

Hannes regte sich weiter auf. »Die schränken uns immer mehr ein. Bald dürfen wir nirgendwo mehr hinreisen. Der Eiserne Vorhang schnürt uns doch die Luft zum Atmen ab. Die haben uns total verarscht mit ihrer Scheiß-Staatsbürgerkunde, dieser dämlichen Rotlicht-Bestrahlung. Diese Propaganda, dass der Sozialismus leistungsfähiger sei als der Kapitalismus. Davon merke ich nichts in meinem Leben.« Er holte kurz Luft und stürzte den Likör hinunter. »Es gibt nichts zu kaufen, keine Klamotten, Schallplatten, Obst, Fleisch, Autos. Keine Wohnungen. Überall Mangel und keine Bewegungsfreiheit. Das soll leistungsfähig sein?«

Die Zwillinge pflichteten ihm bei. Der Rest schwieg betreten. Hannes wütete, und nichts konnte seinen Redefluss stoppen.

»Von wegen soziale Sicherheit und verwirklichte Menschenrechte! Ich will tun dürfen, was ich will, nicht, was die Partei mir vorschreibt. Ich habe es satt, mich auf die Zukunft vertrösten zu lassen … wird schon … gar nix wird!«

Außer dass es eine lange erste Nacht wurde.

Gegen Mitternacht backten sie ein paar Pfannkuchen, um den kleinen Hunger zu stillen.

Juri wusste, dass er diese wunderbare Nacht in seinem ganzen Leben nicht vergessen würde. Das pralle Leben vor sich, ein laues Sommerlüftchen, Baden im See, reichlich Alkohol und Eierpfannkuchen. Mehr brauchte er nicht. Er sah die Zukunft nicht halb so düster wie Hannes. Er war überzeugt davon, Mittel und Wege zu finden, das Beste für sich herauszuholen.

Als Juri am nächsten Morgen aufwachte, stand die Sonne quälend hoch am Himmel. Er schätzte, dass es später Vormittag war. Er sparte sich den Blick zur Uhr, denn sein Schädel fühlte sich an, als wäre darin eine wabernde Masse, die aus den Ohren heraustropfte, wenn er sich bewegte. Er öffnete die Augen nur langsam, um den schmerzenden Lichteinfall zu dosieren. Neben ihm schnarchte Kay, aus den anderen Zelten war nichts zu hören, nur vom See herauf drangen fröhlich kreischende Kinderstimmen. Junge, Junge, hatten sie gebechert! Er wartete ein paar Minuten, bis er sich aus dem Zelt schlich. Blinzelte. Hatten sie tatsächlich ein derartiges Schlachtfeld hinterlassen? Ein Zelt war zusammengebrochen, und Alexander schlief daneben im Gras. Überall lagen leere Fäustlinge, Kleidungsstücke, Müll und … ja, er erinnerte sich, zwei leere Flaschen klarer Korn. Sie hatten mit Pfeffi angefangen und waren beim Korn geendet. Kein Wunder, dass sein Kopf nicht mehr zu ihm gehörte. Er schwor sich, nie wieder zu trinken.

Daher plädierte er am Abend dafür, es gemütlich angehen zu lassen und in Ruhe etwas essen zu gehen. Auf dem Marktplatz, wenige Gehminuten von ihrem Zeltplatz entfernt, gab es eine Gaststätte. Juri schmiss sich in ein weißes Hemd und seine Wrangler-Jeans. Er liebte es, zu zeigen, was er hatte. Bescheidenheit war für ihn nicht angesagt, denn er wollte bei den Mädchen Eindruck schinden. Die anderen Jungs waren keine Konkurrenten, trugen sie doch die elende DDR -Marke, die aus minderwertigem Material genäht war. Juri hingegen meinte, der Mann von Welt müsse auf alles vorbereitet sein, und gab ordentlich Gel in seine langen Haare. Er hatte gehört, dass einige Jungs in der Schule ihm den Spitznamen Mayonnaise verpasst hatten. Eine Kombination aus seinem Nachnamen Mairong und der Tatsache, dass er seine Haare in Schwung gelte. Er fand das nicht witzig. Sollte er jemals einen dabei erwischen, diesen Namen zu benutzen, bekäme der eine Abreibung, die sich gewaschen hatte. Die Clique nannte ihn nie so. Sie waren schließlich wie Brüder, da wusste man, wann und womit man den anderen kränkte, und ließ es bleiben.

Er betrat als Letzter die Gaststätte und erhaschte gerade noch einen Blick auf das Personal, wie sie die Augen verdrehten und ihnen entgegeneilten. Er hasste diesen Moment. Die Sekunde, wenn er der Bedienung ansah, dass sie einen nicht willkommen hieß, sondern sie erniedrigte, indem sie behauptete, keinen Platz zu haben, obwohl viele Tische unbesetzt waren.

»Alles reserviert. Tut mir leid«, grummelte die Frau.

»Aber da ist doch ein langer Tisch frei«, erwiderte der Prof.

Er kämpfte auf verlorenem Posten. Die Kellnerin ließ sich nicht erweichen und schob sie unhöflich wieder hinaus. Sie hatten eben kein Westgeld, und die Bedienung war nicht am Umsatz beteiligt. Denen war es egal, ob der Schankraum leer war oder nicht. Trinkgeld war reine Nebensache, denn zu kaufen gab es eh nichts.

»Das lasse ich mir nicht bieten. Ich habe Hunger«, regte Hannes sich auf, als sie wieder draußen standen.

Wer nicht? Verwundert war niemand, da der Rausschmiss die Regel war, nicht die Ausnahme. Restaurantplätze waren heiß begehrt, anständiges Essen rar, und Gäste aus dem Ausland hatten Vorrang. Vor allem die, die großzügig Trinkgeld in Devisen gaben.

»Ich geh noch mal rein und beschwere mich. So behandeln die uns nicht«, echauffierte sich auch Oliver.

»Du doch nicht, du Hirni!«, motzte Hannes.

Oliver verzog gekränkt den Mund.

»Leute, lasst mich mal ran«, beendete Juri den Schlagabtausch. »Ich lasse meinen Charme spielen.« Er knöpfte sein Hemd zwei Knöpfe weiter auf.

»Was wird das denn?«, fragte der Prof grinsend.

»Ich geh allein rein. Vielleicht habe sie Plätze für …« Er überlegte. »Eine indische Reisegruppe?«

Der Prof strahlte, und Kay schlug ihm anerkennend auf die Schulter. »Eine indische Reisegruppe. Stimmt. Das sind wir.«

Natürlich versagte Juris Charme nicht. Das tat er nie. Wenn er sich auf etwas verlassen konnte, dann seine gute Intuition Frauen gegenüber. Er lächelte so gewinnend, dass die Bedienung ihm den großen Tisch zuwies. Als die Truppe hinterherdrängte, bemerkte sie zwar ihren Fehler, zuckte aber nur resigniert mit den Schultern.

Es wurde ein ruhiger Abend. Leider waren die meisten Gerichte, die sich auf der Speisekarte so lecker anhörten, in ihrer Mangelwirtschaft gar nicht vorrätig. Am Ende mussten sie alle das Schnitzel mit Letscho nehmen. Juri überlegte, ob er die hübsche Bedienung nach ihrem Feierabend fragen sollte, entschied sich aber, bei der Gruppe zu bleiben. Er wusste ja, wo er in den nächsten Tagen auf sie warten konnte.

Immerhin hatte die Truppe sich einen Namen gegeben: Fortan waren sie die indische Reisegruppe. Sie stießen auf ihren neuen Namen an und bekräftigten ihren Schwur: Ewige Freundschaft, egal, was das Leben für sie parat hielt.

Sie verbrachten die heißen Sommertage mit Biertrinken, Schwimmen und Rumhängen. Juri fand, dass die indische Reisegruppe einen Tages- und Nachtrhythmus gefunden hatte und alle miteinander harmonierten. Ein paar hitzige Diskussionen im Suff gehörten dazu. Alles wäre wunderbar gewesen, wenn nicht eines Mittags Oliver wild gestikulierend auf ihr Schlachtfeld zugestürmt wäre. Juri erfasste zunächst gar nicht, was er ihm entgegenschrie.

»Juri!«, kreischte Oliver. »Juri, ich habe deine Alten gesehen. Was wollen denn deine Eltern hier?«

»Du spinnst«, giftete er, als Oliver hechelnd vor ihm stand. Das war unmöglich. Seine Eltern würden ihn doch nicht mit einem Kontrollbesuch blamieren? Wie peinlich! Wenigstens war er nüchtern. Er sah sich um und versuchte, das Chaos aus Bierflaschen und Kleidungsstücken mit den kritischen Augen seiner Eltern zu sehen. »Scheiße, das war’s, meine Alten zerren mich gleich mit zurück nach Rostock.«

In der Mitte ihrer Zeltstadt hatten sie die angesammelten Pfandflaschen aufgestapelt. Drum herum häufte sich der Müll.

Es war zu spät. Sein Vater war mit seiner Glatze schon von Weitem auszumachen. Es gab keinen Zweifel. Nicht die Zwillinge oder Hannes sorgten für einen Eklat, sondern er blamierte sich vor seinen Freunden. Noch dazu brauchte er schnell eine Idee, um das Allerschlimmste zu verhindern. Was, wenn die Eltern seine Rückkehr nach Rostock forderten? Er wäre vor der Truppe bloßgestellt.

»Die Beduselten in die Zelte! Stellt euch schlafend«, befahl er.

Die anderen verschwanden kommentarlos. Nur Kay stellte sich neben Juri. »Zur Not kentern wir zusammen.« Er grinste breit.

»Guten Tag, Herr Mairong«, flötete Kay, als die Eltern näher kamen. Der Angesprochene blieb in der Mitte des Platzes stehen und ließ seinen Blick schweifen.

»Hallo, Papa, Mama, was macht ihr denn hier?«, fragte Juri und verzog das Gesicht. Seine Mutter stand wortlos und in Schockstarre neben seinem alten Herrn.

»Wo ist dein Zelt, Juri?«, fragte sein Vater ohne ein Wort des Grußes.

»Na, da.« Juri wies auf eines der Zelte, das etwas abseits stand. Es war geschlossen, heil und gehörte definitiv nicht zur indischen Reisegruppe.

»Habt ihr die ganzen Flaschen ausgetrunken?«, fuhr sein Vater mit dem Verhör fort.

Juri stand stramm vor ihm und war kurz davor zu salutieren. Warum nur ließ er sich immer wieder von seinem Vater einschüchtern? Mit seiner Schwester redete der nie so. Er hasste seinen Vater für dessen Auftritt.

»Nein, Herr Mairong«, versuchte Kay sein Glück. »Wir sammeln vom ganzen Zeltplatz die leeren Flaschen zusammen, um das Pfandgeld einzulösen!«

Was für eine Lüge! Das kaufte Juris Vater Kay niemals ab.

Langsam schritt er die Zelte ab. »Wo sind die anderen?«

»Die schlafen«, antwortete Juri.

»Um diese Zeit? Ihr solltet den wunderbaren Ort genießen!«

»Mittagsschläfchen«, erwiderte Kay und setzte seinen berühmten Welpenblick aus braunen Augen auf.

Juris Vater hatte die Becher mit den Zigarettenkippen erspäht. »Raucht ihr etwa?«

Kay und Juri waren die einzigen Nichtraucher in der indischen Reisegruppe. Juri traute sich nicht, nach Rauch zu riechen, und Kay schlugen die Zigaretten noch mehr auf seinen empfindlichen Magen als der Alkohol. Alle anderen schwankten zwischen Club, Cabinet und f6 . Ricksen rauchte Karo, die waren am stärksten und preiswert noch dazu. Natürlich nahm er eine Marke ohne Filter.

Kay stieß ihm den Ellenbogen in die Seite, und Juri versuchte ein Lächeln. Zu sagen wusste er diesmal nichts.

Seine Mutter hatte genug gesehen, kein Wort gesprochen, drehte sich um und ging davon. Sein Vater zitierte ihn mit zum Wagen.

»Ich darf bleiben. Hab versprochen, nicht so viel zu trinken«, sagte er erleichtert, als er zwanzig Minuten später wieder im Lager war.

Es war eine unendliche Schmach, dass ausgerechnet seine Eltern hier aufgetaucht waren. Er hatte versucht zu retten, was zu retten war. Aber der Schaden war nicht wiedergutzumachen.

Alexander kroch aus seinem Zelt. »Na, dann Prost, nimm dir erst mal einen Fäustling!«

Kay trällerte den Refrain von Message In A Bottle von The Police vor sich hin.

Am späten Nachmittag analysierten sie noch einmal den Besuch von Juris Eltern. Was hatten die Alten in Wirklichkeit gewollt? Juri beichtete der indischen Reisegruppe, wie sehr er unter seinem despotischen Vater und seiner allzu fürsorglichen Mutter litt. Sie hielt es kaum aus, ihre Kinder nicht vierundzwanzig Stunden unter Kontrolle zu haben. Seiner Schwester machte das nichts aus, sie fügte sich brav, aber ihm nahmen sie die Luft zum Atmen. Der Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, ihm eine Lehrstelle zu besorgen. Dabei scherte er sich nicht darum, was Juri interessierte oder ihm Spaß machte. Er vertrat die Ansicht, dass es für seinen Sohn eine Ehre wäre, dem Sozialismus zu dienen. Juris Wünsche oder Stärken ignorierte er. Klar, es gab wenig Auswahl. Jungs ohne Abitur wählten meist zwischen Schlosser, Maschinen- und Anlagenmonteur oder Kfz-Mechaniker. Lehrstellen erhielt man über Beziehungen der Eltern oder Mundpropaganda, und da es eh keine Alternative gab, nahm man damit vorlieb. Von seinen Studienwünschen hatte Juri seinen Eltern nichts erzählt. Sein Vater hätte ihn doch nur ausgelacht.

»Ich latsche doch nicht jeden Tag in ein blödes Dieselmotorenwerk. Ich suche mir lieber eine reiche Frau«, witzelte Juri, um sein Unbehagen zu überspielen.

Niemand lachte.

»Kommt, lasst uns die Pfandflaschen abgeben.« Er musste dringend das Thema wechseln, sonst würde er die Beherrschung verlieren.

Vor ein paar Tagen hatten sie eine Art Waldschänke entdeckt. Vorbei an einem Feld, umsäumt von blühendem Klatschmohn und Kornblumen, brauchten sie zu Fuß eine Viertelstunde bis zur Schänke. Leider kamen sie um wenige Minuten zu spät dort an, und die Getränkeklappe war bereits geschlossen. Durch die Scheiben beobachteten sie den Wirt, der hinter der Theke hantierte.

»Ich schlepp die Flaschen aber nicht wieder zurück«, meinte Hannes und klopfte sogleich lautstark gegen das Fenster. Der Wirt wedelte von innen wild gestikulierend abwehrende Handzeichen, dass geschlossen sei. Hannes ließ sich nicht beirren und hämmerte weiter. Endlich hatte der Wirt ein Einsehen und kam zur Tür getrottet.

»Wir haben geschlossen, kommt morgen wieder«, grummelte er.

»Wir wollen nur schnell das Pfand abgeben«, sagte Hannes.

»Morgen.«

»Geht ganz fix.«

»Nein.« Der Wirt drückte die Tür zu.

Ricksen drängte sich vor und packte den Wirt an seinem Kittel. »Das dauert nur zwei Minuten. Wir haben das alles hergeschleppt. Stell dich nicht so an.«

Der Wirt lief rot an und befreite sich schlagend und japsend aus Ricksens Griff.

In diesem Moment sprang Alexander seinem Bruder bei. Er langte nach dem erstbesten Gegenstand, den er zu fassen bekam. Leider war es die Axt von der roten Feuerschutztafel. Hätte er doch bloß den Eimer genommen! Nun hielt er drohend eine Axt in der Hand und war genauso entsetzt wie der Wirt, der sich von Ricksen losriss.

»Hilfe! Polizei! Polizei!«, schrie der Wirt.

»Hört auf!« Olivers Stimme überschlug sich.

»Seid ihr verrückt geworden?« Kay zog die Zwillinge zurück. »Was ist denn in euch gefahren?«

»Verschwindet, ihr Gesindel!« Der Wirt knallte die Tür zu.

Juri und Kay drängten Ricksen und Alexander zurück. Ärger mit der Polizei brauchten sie weiß Gott nicht.

»Los, Abmarsch«, rief Juri barsch.

»Und das Pfand?«, jammerte Hannes.

»Lass liegen, Mann. Kriegsverluste.«

Kay schob auch Hannes vor sich her.

»Mist, hier können wir uns nicht mehr blicken lassen«, schimpfte Kay. »Hoffentlich kommt keine Polizei … Das kann ich mir nicht leisten!«

Juri fand auch, dass Hannes und die Zwillinge den Bogen überspannt hätten, aber es nervte ihn, dass Kay nur seine Seefahrt im Kopf hatte. Noch war er kein Seemann, und es war vollkommen offen, ob er jemals zur See fahren würde. Also sollte er bitte nicht den Moralapostel spielen. Der Tag war wirklich versaut. Er hatte schlimm angefangen und war nicht besser geworden.

»Ey, Leute, wir können uns nicht ständig mit allen anlegen«, sagte Kay, als sie bei den Zelten ankamen. »Irgendwann kriegen die uns.«

Hannes versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken. »Man muss sich entscheiden, ob man mit oder gegen den Strom schwimmt. Wir schwimmen dagegen, und wir schwimmen schnell!«

Juri war sich nicht so sicher, ob sie wirklich schnell genug waren.