Rostock, Herbst 1980
G leich am ersten Tag seiner Ausbildung sorgte Kay für Aufsehen. Oder genauer gesagt, sein rasierter Schädel mit der frischen zehn Zentimeter langen Narbe am Hinterkopf. Kays Abschiedsgeschenk vom Sommerurlaub in Krakow.
Nachdem sie den Badesteg wegen des kleinen Zwischenfalls in der Waldschänke weiträumig gemieden hatten, suchten sie in größerer Entfernung nach geeigneten Lokalitäten, um ihre letzten Urlaubstage bierselig ausklingen zu lassen. Sie fanden das Seehotel, eine alte, heruntergekommene Villa direkt am See, die mit abendlichem Tanz ein wenig Abwechslung versprach. Zugegeben, die Auswahl ihrer Freizeitbeschäftigungen war nicht sonderlich üppig, aber ihr Abschiedsabend wurde ein voller Erfolg.
Spät in der Nacht traten sie zu Fuß den Heimweg zum Zeltplatz an. Kay wankte, eingehakt bei Juri, auf dem Fußweg. Sie waren alle sturzbesoffen. Plötzlich kam Hannes von hinten angestürmt und lehnte sich auf sie. Zu dritt kippten sie nach rechts in einen Straßengraben.
Kay versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Aber solange er auf dem Boden liegen konnte, ohne sich festzuhalten, war er doch nicht wirklich betrunken, oder? Er fühlte, wie Arme an ihm zerrten und ihn schwankend auf die Beine zogen. Mann, er hatte wirklich mächtig Seegang.
»Wir holen Hilfe«, hörte er Juri rufen. »Da hinten ist ein Haus, da brennt Licht.«
Im Taumelschritt bugsierten sie ihn voran. Warum waren seine Beine so schwer, und warum zerrten die Freunde so an ihm? Im Schein der Straßenlaterne sah er, was das Problem war: Blut rann warm an seinem Hals herunter und hatte schon sein halbes Shirt durchnässt. Er fasste sich an den Kopf, und ein stechender Schmerz ließ ihn seine Hand wieder herunternehmen. Wie war das passiert?
Er hörte jemanden gegen die Tür hämmern, aber erkannte nicht, wer es war. Seine Sicht verschwamm, und dann wickelte sich irgendetwas um seinen Kopf. Ihm schienen ein paar Minuten zu fehlen, denn in der fremden Küche saß er allein mit Juri. Der erklärte ihm, er sei in dem Graben auf einem Stein gelandet. Später im Krankenhaus hatten die Ärzte Kay den Schädel rasiert und die Wunde mit siebzehn Stichen genäht.
Mit diesem Andenken an den Sommerurlaub am See stieg Kay frühmorgens in die Straßenbahn nach Rostock Reutershagen. Heute begann seine Lehre zum Matrosen an der Betriebsschule Flotte »August Lütgens«. Kay, der sich aus unerklärlichen Gründen häufig verspätete, nahm an diesem Montag eine frühere Bahn, damit bloß nichts schiefging. Er stiefelte eine Viertelstunde von der Haltestelle aus vor sich hin, ehe er die unscheinbare Schule in einer schnöden Einfamilienhaussiedlung fand. Das sollte die Seemannsschule sein? Die Baracke sah aus wie kürzlich zusammengenagelt, und vom Hafen, Schiffen oder Wasser war weit und breit nichts zu sehen. Die weite Welt kündigte sich hier jedenfalls nicht an. Die Klassenräume waren eine Enttäuschung und noch jämmerlicher als Kays alte Schule. Bänke, Stühle, eine Tafel und ein Overhead-Projektor. Die Wände so dünn, dass sie den Schleifer aus dem anderen Klassenraum brüllen hörten.
Schleifer-Schütt. Ihr Lehrgruppenleiter. Ein untersetzter, dicker Mann mit Schnauzbart und nur einen Arm. Dem linken. Der Küstenklatsch besagte, dass Schütt nicht mehr zur See fuhr, seit ihn ein Suizidversuch den rechten Arm gekostet hatte. Angeblich hatte er sich aus Liebeskummer vor eine Bahn geworfen. Seitdem sei er ein verbitterter Mann, der den Lehrlingen ihre Jugend neidete und dafür sorgte, dass diejenigen, die er nicht mochte, die Ausbildung nicht beendeten.
Kay saß in der ersten Reihe. Pech. Sein Kopf prickelte von den vielen Blicken, die sich an seinen Hinterkopf hefteten. Er antwortete auf keine der Nachfragen, zuckte nur mit den Schultern. Selbst der Schleifer lieferte einen bissigen Kommentar. Er zeigte auf Kay und fauchte: »Bist wohl mit geschlossenen Augen durch den Maschinenraum gerannt?«
Kay fand die Bemerkung angesichts der Tatsache, dass er noch kein Schiff betreten hatte, ziemlich dämlich, hielt aber wohlweislich den Mund. Er versuchte, dem Schleifer keine Angriffsfläche zu bieten. Ganz anders als der Kollege, der nach der Pause zu spät in den Klassenraum zurückkam. Es dauerte, bis der Schleifer mit seinem Donnerwetter fertig war.
»Ein Schläger mit Narbe und ein Schwächling mit mangelnder Disziplin!« Er grunzte abfällig. »Ich werde euch schon Ordnung beibringen.«
»Schläger? Ich bin …«, setzte Kay an, unterbrach sich aber selbst. Kein Öl ins Feuer gießen.
»Kay Thede? Hat dir jemand erlaubt zu sprechen?« Der Schleifer baute sich vor ihm auf. »Ich kannte mal einen Thede. Auf der Bussard . Biste verwandt?«
Kay nickte. »Peter Thede, das ist mein Vater.«
Der Schleifer nickte leidenschaftslos und mit zusammengekniffenen Augen. Kay holte Luft. Das war knapp gewesen. Wenn er es sich mit diesem Mann verscherzte, würde er die Weltmeere nie sehen.
Fortan bemühte er sich, die Stimmungen seines Lehrgruppenleiters zu erahnen und sich außerhalb seines Radars zu bewegen, wenn diese kippte. Er beobachtete Schütt genau und bemerkte, dass er die Lippen schürzte, bevor er jemanden kritisierte. Folglich hing ihm Kay an den Lippen und senkte den Kopf, wenn Schütt seinen Mund verzog.
So vergingen die ersten Wochen und Monate. Kay lernte motiviert, denn der Lernstoff bereitete ihn auf das Schulschiff vor. Auf der Georg Büchner simulierten sie die Fahrt auf hoher See und übten die Arbeit an den Winden und Luken, dem Ladegeschirr und den verschiedenen Maschinen.
Es fiel Kay leicht, ein paar oberflächliche Freundschaften zu schließen. Nichts Ernstes, denn seine wahren Freunde warteten im Lindeneck.
Er überlegte, wie er seine Freunde daran teilhaben lassen konnte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eine Art Stolz empfand. Die dunkelblaue Matrosenuniform, die er mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte trug, sorgte dafür, dass die Menschen auf der Straße oder im Bus ihm anerkennende Blicke zuwarfen. Erstmals fühlte er sich wahrgenommen, und über die Wertschätzung im Außen spürte er sein Selbstwertgefühl erwachen. Er würde ein Seemann werden. Und wenn bald die Reisen ins Ausland hinzukämen, wäre sein Leben nicht halb so mies, wie alle sagten!
Dieser Optimismus zerschlug sich bei einem Treffen mit der indischen Reisegruppe. Kay empfand immer mehr Hoffnung auf ein gutes Leben, doch seine Freunde verabschiedeten sich allmählich von dieser Zuversicht. Die Zeit nach der Schule hatte sie enttäuscht und mutlos zurückgelassen. Keiner ihrer Träume hatte sich erfüllt.
An diesem Nachmittag saßen der Prof, Juri, Sascha und Kay am Warnemünder Strand. Es waren die letzten sonnigen Spätsommertage des Jahres 1981 , bevor der Herbst sich ankündigte. Noch war die Luft warm und samtig. Sie hatten sich an der Bude am Strandaufgang eine Handvoll geräucherte Sprotten gekauft, hockten im Sand und kauten genüsslich. Das Wasser platschte in sanften Wellen an den Strand. Am Horizont glitten die Dänemark-Fähren majestätisch dahin, und darüber zogen zarte weiße Wolken über den blauen Himmel. Nur ihre Stimmung passte nicht so recht zu der malerischen Kulisse. Sie sprachen wenig miteinander und waren seltsam distanziert und niedergeschlagen.
»Da wäre ich gerne drauf«, unterbrach Sascha die Stille.
Für eine Sekunde dachte Kay, Sascha meine die Wolken.
»Ich habe Angst, dass Jaruzelski Polen dichtmacht. Der ist ein harter Hund.«
Das hatte Kay auch mit Sorge gelesen. Der Spiegel hatte ausführlich darüber berichtet. Er las das Nachrichtenmagazin heimlich. Sein Vater war technischer Offizier beim Volkseigenen Betrieb Minol und arbeitete in der Bunkerflotte. Manchmal versorgten sie kleinere Kreuzfahrtschiffe aus dem Westen mit Schweröl. Zwar lag ein Grenzboot nur wenige Meter entfernt und beobachtete sie, doch wenn es klappte, legten sie die Boote Bull-Eye an Bull-Eye, und die Kollegen aus dem Westen reichten ein paar der begehrten Waren herüber. Sein Vater hatte letzte Woche guten Bohnenkaffee und den Spiegel mitgebracht. Das West-Magazin war noch strenger verboten als der Kaffee, aber davon ließ sich sein Vater nicht abhalten. Manchmal dachte Kay, dass sein Vater ein Kindskopf war und darauf vertraute, dass er sich scherzend herausredete und die Kontrolle behielt, sollten ihn die Behörden erwischen. Das war naiv, aber trotzdem waren seine Alten echt in Ordnung.
Kay hatte noch in der Nacht über die Solidarność gelesen. Die Solidarność forderte Reformen, zum Beispiel unabhängige Gewerkschaften für die Arbeiter in Polen. Jaruzelski war ein harter Gegner dieser Bestrebungen. Was, wenn die DDR die Reformbewegung der Polen sanktionierte und die Grenzen ins Nachbarland schloss? Sie sehnten sich danach, dass die Solidarność-Bewegung auch die DDR erreichte.
Kay leckte sich die Finger ab. »Wie weit ist es bis Gedser?«
»Hey, seid leise!«, warf der Prof ein. Seine Nickelbrille blitzte in der untergehenden Sonne. »Wenn uns jemand hört?«
»Aber wie weit ist es?«, insistierte Kay, weil es ihn interessierte.
»Die Fähre braucht zwei Stunden«, antwortete Juri knapp.
»Ich wünschte, ich hätte ein Schiff«, flüsterte Sascha, ohne sie anzusehen. Er klang wehmütig. Seine Sprotten hatte er nicht angerührt.
»Das Risiko ist brutal. Lass es«, murmelte der Prof.
Vielsagende Stille breitete sich aus. Sie schauten aufs Wasser, statt in den Augen der anderen zu lesen, wie weit jeder zu gehen bereit war. Kay knüllte das Einpackpapier zusammen und rieb sich die Hände im Sand ab. Während er immer öfter daran dachte, wie schade es war, dass seine Freunde nicht mit ihm reisen konnten, und wie schön es sein würde, zu ihnen zurückzukehren, dachten sie daran, von hier wegzukommen.
Kay ließ seinen Blick über die Brandung schweifen und streckte die Beine im warmen Sand aus. Er lauschte den Rufen der Silbermöwen. Am Strand tobten die Kinder und schrien mit den Möwen um die Wette. Ein Vater baute mit seinem kleinen Sohn eine Sandburg. Akribisch backten sie Sandkuchen, die sie zu Türmen auf den Sandwall stapelten und mit Muscheln verzierten. Ein kleines Mädchen strich ihre Beinchen mit Sonnencreme ein und versuchte, die übrig gebliebene Creme wieder in die Tube zu drücken. Er schmunzelte. Das Leben war schön. Das Leben war komplex. Die anderen ließen die Köpfe hängen, und die Sorgen seiner Freunde waren seine Sorgen. Er fröstelte, als er spürte, wie die Enttäuschung der anderen sich wie ein Schleier vor die Sonne legte.
»Erzählt ihr mir, wie es bei euch ist?« Er wollte es genau wissen.
Sascha schlug sein Päckchen mit den Sprotten in den Sand und stöhnte. »Ich bin nur froh, dass ich im Lindeneck bin. Ich hab die Lehre abgebrochen. Braucht eh keiner.«
Kay zuckte zusammen. Das hatte er nicht geahnt. Ein Blick zu Juri und dem Prof bestätigte ihm, dass sie Bescheid wussten. Wann hatte Sascha resigniert? Er nickte auffordernd. Sascha sollte weitersprechen, alles erzählen.
Einhellig berichteten die drei davon, dass sich niemand für sie, ihre Arbeit oder ihre Fragen interessierte. Sie erlebten sich als Ballast in den Betrieben und langweilten sich. Juri schickten die Ausbilder regelmäßig los, um den Blauen Würger zu holen – einen minderwertigen Wodka, der seinen Namen trug, weil er ein blaues Etikett hatte. Oder 17 /50 . Das Codewort für einen ekligen Weinbrand, der siebzehn Mark fünfzig kostete. Viele Ausbilder hatten ein Alkoholproblem und waren genauso gefrustet wie die Lehrlinge. Was die Freunde schilderten, hatte nichts gemein mit dem, was Kay erlebte. Sein Herz brannte für die Seefahrt. Seine Kumpels rackerten ohne Perspektive und quälten sich durch die Lehre, die ihnen zugeteilt worden war. Kein Wunder, dass sie sich minderwertig vorkamen. Warum war das so in ihrem Land? Warum änderten die Menschen, die Politiker, nichts daran? Was war das für eine Ideologie, die die Menschen unglücklich machte? Er verstand es nicht.
»Niemand bringt uns was Sinnvolles bei. Niemand braucht uns. Ich möchte aber gebraucht werden. Sascha hat recht, wozu gehen wir überhaupt hin?«, fragte Juri.
»Ich verstehe diese Politik nicht«, echauffierte sich Sascha. »Wie wird man glücklich, wenn man keine Auswahl hat? Wenn man nicht suchen und finden darf? Wenn es nichts zu entdecken gibt?«
Der Prof legte ihm die Hand auf den Arm. »Schrei nicht so. Wir kommen in Teufels Küche.«
Das fand Kay übertrieben, denn die nächsten Sonnenanbeter lagen ein paar Meter entfernt auf ihren Handtüchern und scherten sich nicht um sie, aber er sagte nichts.
»Hast du nicht zugehört?«, schimpfte Sascha. »Da sind wir schon!« Er starrte den Prof mit zusammengekniffenen Augen an. »Sag nicht, bei dir ist es besser?«
»Es ist anders. Ich will noch studieren. Ich stehe die Lehre durch und erdulde die Schikanen.« Plötzlich lächelte er geheimnisvoll und hob provozierend die Augenbrauen. Er zögerte ein paar Sekunden, ehe er weitersprach. »Und ich versuche, mich auf die kleinen Annehmlichkeiten zu konzentrieren, die …«, er grinste breit, »… eine Werkstatt so mit sich bringt. Ich wollte euch überraschen, aber wenn ihr so mies drauf seid, rücke ich früher damit raus.« Er griff in seine Hosentasche und legte ein kleines Etui in den Sand.
Alle starrten darauf, als würde das schwarze Mäppchen gleich zum Leben erwachen und sich in den Sand eingraben.
Juri rülpste anerkennend.
Kay runzelte die Stirn und griff zaghaft nach dem schwarzen Etui.
»Mein neuer Mitarbeiterausweis der Uni«, flüsterte der Prof. »Es hat ewig gedauert, bis ich ihn endlich bekommen habe.«
Kay begriff sofort, was der Prof andeutete. Er war in der Lehre zum Feinmechaniker in der Universitätswerkstatt. Sein Vater hatte ihm die Lehrstelle besorgt. Ein echter Ausweis war die ultimative Grundlage für ein paar hübsche Fälschungen, die ihnen Zugang zu den Studentenklubs sichern würden. Diese Klubs waren der einzige Lichtblick am kulturellen Horizont von Rostock. In den Studentenklubs spielte die bessere Musik, gab es die besseren Drinks und die interessanteren Frauen.
Selbst Sascha grinste. »Das ist eine ernst zu nehmende Konkurrenz für meinen Vater und sein Lindeneck.«
Der Prof legte ihm den Arm um die Schulter. »Dann macht mal ein paar hübsche Passfotos von euch. Nächste Woche ist Bastelstunde.«