7 . Kapitel

Rostock, März 1982

D er Abend am Strand im Herbst des vergangenen Jahres wirkte nach.

Der Samen war gelegt und wuchs ganz langsam. Noch lugte nicht einmal ein winziges Grün durch die Erde, und doch spürten alle, dass sich unter der Oberfläche etwas regte und ans Licht strebte. Kay war nicht sicher, um was es sich handelte. Sinn? Hoffnung? Freiheit? Hätten sie die im Westen? War es so simpel? Sie hatten wenig Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu beeinflussen, und fühlten sich bevormundet und eingeengt. War die Flucht in den Westen eine Chance, oder gaukelten sie sich etwas vor und das Gras wäre auf der anderen Seite des Zauns auch nicht grüner?

Sie erwärmten sich für Fluchtgeschichten und diskutierten nächtelang. Sie lasen von einer Familie, die es gewagt hatte, mit zwei Faltbooten über die Ostsee aufzubrechen. Sie hatten es bereits in internationale Gewässer geschafft, als sie auf ein Grenzboot der DDR trafen. Die Grenzer nahmen die Familie fest. Es war klar, was ihnen bevorstand: Gefängnis wegen versuchter Republikflucht.

So sah die reale Lebenswelt der Clique aus. Träumen von der Flucht mit dem Gefängnis vor Augen. Wie sollte Hoffnung da eine Chance bekommen? Sinn, Hoffnung, Freiheit – eine Fahrt durch tosende Gewässer ohne Navigationsgerät. Von Rostock nach Gedser waren es nur ein paar Seemeilen, aber dennoch war die dänische Stadt Lichtjahre entfernt und unerreichbar für die acht Jungs. Im Grunde ihres Herzens wussten sie das ganz genau, und sie wussten auch, dass die Kontrollen auf See engmaschig waren und sie kein Boot hatten. Sie hatten überhaupt noch nicht gehört, dass es jemand über die Ostsee geschafft hätte. Wobei nicht jede geglückte Flucht einen Artikel in einer westdeutschen Zeitung nach sich zog. Selbst die Fernsehsendung Kennzeichen D hatte nie über eine erfolgreiche Ostseeüberquerung berichtet. Angeblich war ein Mann die Strecke durchs Meer geschwommen. Vierundzwanzig Stunden am Stück. Das war sicher geflunkert, unmöglich und auf keinen Fall nachahmenswert. Durch die Sendung hörten sie, dass es weitere Fluchtrouten aus der DDR gab. So sollten in Berlin eine Reihe von Fluchttunneln gegraben worden sein. Nur wo diese lagen, das wusste niemand. Es war vertrackt. Und gefährlich, darüber nachzudenken oder gar zu sprechen. Jederzeit konnte sie jemand bei der Staatssicherheit anzeigen. Schon das Sprechen über eine Flucht, die Vorbereitung oder gar der Versuch, die DDR zu verlassen, wurden von der Stasi verfolgt und im schlimmsten Fall mit Gefängnis bestraft.

Die Zeit verging, und die Ausbildungen der Freunde neigten sich dem Ende entgegen. Kay brauchte nur noch den praktischen Teil der Seereisen, um sein Abschlusszeugnis zu erhalten, dann wäre er Seemann. Die erste Reise sollte ihn im Frühjahr 1982 von Rostock nach Hamburg, Antwerpen und weiter Richtung Mexiko führen. Seine Aufregung wuchs mit jedem Tag, den er der Abreise näher kam. Er nahm sich vor, herauszufinden, was es mit der Freiheit auf sich hatte. Vielleicht erhielte er schon auf der ersten Reise Antworten auf seine Fragen? Dann könnte er immer noch eine Entscheidung treffen.

Kay lief Anfang April 1982 mit der Wilhelm Florin , einem Stückgutfrachter, von Rostock mit Kurs auf Hamburg aus. Kaum einen Katzensprung entfernt und doch eine andere Welt. Kay quollen die Augen über. Er konnte die Größe des Hafens nicht fassen. Wie war das möglich? Die verschiedenen Hafenbecken, die vielen Schiffe, die Kräne und Transportgüter bis zum Horizont. Arbeiter schleppten Säcke oder standen lachend und rauchend zusammen und strahlten eine Lebensfreude aus, die Kay nicht erwartet hatte.

Der erste Landgang in Hamburg führte ihn von den Landungsbrücken auf die Reeperbahn. Da es Lehrlingen nicht gestattet war, ohne Begleitung das Schiff zu verlassen, passte ein älterer Matrose auf die »Seemännchen« auf. Kay stolperte mit offenen Augen und zutiefst beeindruckt durch die Straßen. Der Kiez. Dieses Lichtermeer. Diese Farben. Die fröhlichen Menschen. Alles war bunt und unbeschwert und damit das genaue Gegenteil zum Einheitsgrau der DDR . Der alte Seebär, der auf die Lehrlinge aufpasste, steuerte schnurstracks ein Kino an. Ein Pornokino, wie Kay verblüfft feststellte. Pornografie war in der DDR streng verboten, und wenn er ehrlich war, interessierte ihn das nicht halb so sehr wie der Trubel auf den Straßen. Daher ärgerte er sich, dass er von seinen fünfzehn Mark Devisen fünf Mark für das Pornokino und ein Bier verbrauchte. Hoffentlich wäre es ein kurzer Film und ihr Aufpasser damit zufriedengestellt. Der Matrose blätterte begeistert in der Vorschau, und Kay bot ihm sein Heftchen ebenfalls an. Es gefiel dem Matrosen nicht, dass es das gleiche war, und er schickte Kay zum Kassenhäuschen, um ein anderes zu holen. Kay zitterte vor Ärger. Das war so peinlich! Aber er wollte sich die Gunst des Seebären nicht verscherzen, aus Angst, dass dieser sonst zum Schiff zurückkehrte. Er schlich sich in der Dunkelheit aus dem Kinosaal, stand verlegen vor dem Kassenhäuschen.

»Mein Kumpel fragt, ob es noch ein anderes … Programmheft …?« Kays Stimme erstarb.

Zu seinem Erstaunen reichte ihm die Kassiererin mit einem süffisanten Lächeln ein weiteres Blättchen. Gab es in dieser Stadt kein Limit?

Auf dem Rückweg zu den anderen beschloss er, diese Grenzenlosigkeit zu testen. Er hielt dem Matrosen das Heftchen hin, ließ es aber nicht los, als dieser danach griff. Er verlangte im Gegenzug mehr Zeit auf der Straße, forderte einen langen Fußmarsch über die Reeperbahn. Der Seemann schlug grummelnd ein.

Kay wollte alles aufsaugen und sich merken. Das würde die indische Reisegruppe ihm nie glauben! Er gab den Zwillingen recht: Hamburg zu sehen reichte, um ein völlig neues Lebensgefühl zu bekommen. Wenn die Reise hier endete, wäre er erfüllt von dem, was er erlebt hatte. Gleichzeitig wusste er, dass sie ihn sofort mit Fragen löchern würden, warum er sich nicht davongeschlichen habe. Das Kino verlassen hatte und im Getümmel verschwunden war. Es wäre kinderleicht gewesen … eben am Kassenhäuschen. Er hätte nur durch die Tür schlendern müssen, und weg wäre er gewesen. Davon träumten sie doch. Sollte er diese ultimative Chance nutzen?

Er brachte es nicht fertig.

Er konnte nicht alles hinter sich lassen und allein in einer fremden Großstadt neu anfangen. Ohne sie. Er brauchte seine Freunde. Seine Familie. Er hatte Angst, sie zu verlieren. Und er liebte die Seefahrt. War er egoistisch? Er würde durch die Welt reisen, während seine Freunde zu Hause festsaßen, und für ihn überschrieb die Seefahrt jeden hässlichen Moment in seiner Heimat.

Diese Gefühle in Worte fassen? Unmöglich.

Die nächste Station seiner Reise war Antwerpen, und weiter ging es Richtung Lateinamerika. Ende April 1982 erreichte die Wilhelm Florin Tampico in Mexiko. Das Meer veränderte sich. Seine Farbe wandelte sich von Schieferblau zu Tiefblau und Heidelbeerblau und mit zunehmender Wärme in Aquamarinblau und Türkis. Und erst die Luft! Sie duftete nach verlockenden Früchten, Sonnencreme und Sommer.

Kay tauchte in neue Welten ein und war fasziniert.

Die Welt des unendlichen Ozeans. Die Welt der Farben und Gerüche. Lukenwache im Hafen. Manöverstation beim Festmachen. Löschen der Ladung. Die Welt von Paletten, Kisten, Fässern, Säcken und Ballen. Die Welt von Marmorblöcken aus Kuba. Zuckersäcken und Saft in Dosen aus Havanna.

Die Welt der deftigen Matrosenspäße.

An einem Abend saßen alle Seeleute wie immer an einem aus Persenning selbst gebastelten Swimmingpool und tranken Bier. Und wer bezahlte für das Bier? Erwartungsgemäß wählten die erfahrenen Seeleute die Seemännchen aus, für die »Schüttrunde« aufzukommen. Als Strafe für all ihre Fehler und Ungeschicklichkeiten. Ob begangen oder nicht. Kay versuchte aufzupassen, da sein Geld verdammt knapp war, aber die älteren Seebären waren gewieft und ließen keine Gelegenheit aus, die Lehrlinge auszunehmen.

Einmal arbeitete Kay mit dem Luftdruckschlauch, um die Aufbauten und Deckshäuser zu entrosten. Er kam um die erste Ecke, plötzlich setzte Geschrei ein. Zack … der Farbeimer war umgefallen. Wer hatte an dem Schlauch gezogen? »Seemännchen? Runde!«

Dabei hatte jemand den Eimer mit dem Fuß auf den Weg gebracht. Kay hatte die Spielregeln natürlich erkannt, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass auch er zur Kasse gebeten wurde.

Wenn er mit der Farbrolle außenbords arbeitete … platschte plötzlich die Rolle ins Wasser. »Ist dir was passiert? Och, Seemännchen: Runde!« Die lieben Kollegen hatten den Splint herausgezogen. So kamen die Matrosen zu ihrem Bier, und Kay blieb notorisch klamm.

Er lachte mit. Die Unbeschwertheit war es ihm wert. Er hatte auch keine andere Wahl …

Die Seefahrt hielt, was er sich von ihr versprochen hatte. Sie war Abenteuer, Naturwunder und Herausforderung.

Eines Nachmittags stand ihm seine bisher größte Prüfung bevor. Der Bootsmann kündigte sie an. »Seemännchen, der Wind pfeift. Es gibt Sturm. Die ersten witte Hunn zeigen sich schon.« Er wies mit dem Zeigefinger auf den Horizont.

Kay sah … nichts. Weder zog ein Sturm herauf, noch wusste er, was weiße Hunde waren. Aber er hielt wohlweislich seinen Mund. Der Bootsmann rief alle Lehrlinge zusammen: »Geht, macht in euren Kammern alles sicher. Da darf nichts rumfliegen. Klinkt die Leisten an die Bücherregale und verstaut alles. Los, dalli. Es darf nix zu Bruch gehen.«

Kay tat, was der Bootsmann angeordnet hatte, und als er wieder an Deck trat, ahnte er, dass der Bootsmann recht bekäme. Die Wellen türmten sich auf, und weiße Gischt spritzte hoch. Das Schiff stampfte schwer in der See.

»Witte Hunn«, raunte der Bootsmann und wies auf die hohen Wogen. »Die heulen bald noch lauter.« Er drehte sich zu Kay um. »Biste seefest?«

Gute Frage. Woher sollte er das wissen? Bislang hatte ihm ein wenig Seegang nichts ausgemacht. Er hatte gelernt, die Bewegungen des Schiffes mitzumachen. Das Rollen und Schlingern, das Stampfen und Gieren. Aber einen Sturm an Bord hatte er noch nicht erlebt. Er zog eine Schnute und zuckte mit den Schultern.

»Bleib so lange an Deck, wie es erlaubt ist, und halt dich mit dem Essen zurück. Denk dran – eine Hand fürs Schiff, eine für dich. Immer schön festhalten.« Der Bootsmann wankte mit den Bewegungen des Frachters über das Deck. Kay beobachtete, dass er dabei an Tampen und Leinen zog und prüfte, ob alle fest verzurrt waren.

Ein paar Stunden später war Kay zutiefst beeindruckt. Dem Kapitän war es nicht gelungen, das Sturmgebiet zu umfahren. Sie navigierten mitten hindurch. Die Wilhelm Florin tauchte schwer in die See ein, vibrierte und dröhnte wie verrückt. Würde das Schiff wieder auftauchen? Langsam kam es hoch, und alles wackelte und knirschte. Kay presste die Zähne aufeinander und klammerte sich an die Reling. Ob das gut ginge?

Ging es nicht. Sie verloren einen Container, der am Ende doch nicht seefest genug an Deck verzurrt war. Er riss sich los, donnerte so lange gegen das Schanzkleid, bis er Risse bekam und aufplatzte. Das Deck klebte von dem auslaufenden Traubenzucker, den der Großraumbehälter enthielt. Eine Riesenschweinerei.

Aber Kay war so fasziniert von den Naturgewalten, dass er nicht seekrank wurde.

Der Bootsmann klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

Das Seemännchen war auf dem besten Weg, ein richtiger Seemann zu werden.