9 . Kapitel

Rostock, November 1982

E s klingelte ununterbrochen an der Haustür.

Was zum Teufel? Kay sprang zur Tür und riss sie auf. »Hast du einen Krampf im Finger, oder willst du Prügel?«

Vor ihm lehnte Hannes an der Wand und atmete schwer.

»Lindeneck. Sofort.« Hannes japste nach Luft, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich und nicht nur den Weg quer über das Rasenstück zwischen den Häusern.

»Was ist los?« Dass Hannes gerannt war, beunruhigte Kay, denn es war eine Nachricht in sich. Wer oder was hatte es geschafft, den Freund so auf Touren zu bringen?

Hannes zuckte mit den Schultern. »Juri hat einen Nachbarsjungen geschickt.« Er hustete. »Juri hätte ihm eine Mark gegeben, damit er uns ins Lindeneck holt. Krisensitzung. Ich soll nicht ohne dich aufschlagen.«

»Was für ein Nachbarsjunge?«

»Der kleine Dobing aus Nummer 11 . Dieser Semmelblonde mit den Sommersprossen. Er ist gleich losgedüst, sich von der Mark ’ne Bockwurst holen. Komm, hopp, dalli.«

Das ergab keinen Sinn. Was war mit Juri los?

Kay mühte sich in seine Schuhe, griff nach seiner dicken Jacke, dem Haustürschlüssel und warf die Tür hinter sich zu. Der November war schon empfindlich kühl, aber wenigstens hatte der tagelange Regen nachgelassen. Er rannte Richtung Lindeneck, während Hannes sich hinter ihm bemühte, Schritt zu halten. Sie schafften die Strecke durch die nassen Straßen in Rekordgeschwindigkeit.

Die Tür zum Lindeneck stand offen, und Kays Blick wanderte Richtung Stammtisch. Juri, die Zwillinge und Oliver saßen schon. Es fehlten nur noch der Prof und Sascha. Als ob der Prof es gehört hätte, stolperte er in diesem Moment um die Ecke ins Dunkel der Kneipe. »Was ist so dringend? Sagt nicht, einer von euch hat einen bahnbrechenden Plan ausgetüftelt?«

Stille.

Auch Kay ignorierte die Frage und sah ratlos von einem zum anderen. Warum waren sie zur Krisensitzung versammelt? Er sah Juri an. Der zuckte mit den Schultern.

»Das versteh ich nicht«, schnaufte Kay und schälte sich aus der Jacke. »Warum zitierst du uns hierher?«

In diesem Moment kam der Wirt mit einem Tablett Pilsener an ihren Tisch. Jeder griff sich ein Glas.

»Wo ist Sascha?«, fragte Juri. »Warum hat er uns herbestellt?« Juri lächelte den Wirt an und prostete ihm zu.

Kay begriff. Sascha hatte die Runde einberufen.

Der Wirt setzte sich zu ihnen. Holte tief Luft. »Ich habe euch hergerufen.«

Kay sah in sein graues Gesicht. Saschas Vater stand zu viel im Dunkeln hinterm Tresen. Er müsste mal wieder in den Urlaub fahren und sich erholen.

»Sascha … Er kommt nicht.« Sorgenfalten durchschnitten das Gesicht des Wirts.

Etwas stimmte nicht. Kay spürte unvermutet heftige Übelkeit in seinem Magen aufsteigen. Er vertrug das kalte Bier nicht. Oder lag es am Tonfall des Mannes? Dieses tiefe Brummen, das langsame Sprechen, der gesenkte Kopf.

Und plötzlich ahnte er es.

»Sascha ist in Berlin. Er war in den Häusern an der Leipziger Straße«, raunte der Wirt.

Kay hielt die Luft an. Sascha in Berlin. Leipziger Straße. An der Mauer. Er wollte gar nicht wissen, wie der Satz weiterging. Er zuckte zusammen, als Frau Niekrenz wie aus dem Nichts neben dem Tisch stand und sich die Hände an ihrer Kittelschürze abwischte. »Chef, holen Sie ein neues Fass aus dem Keller? Wir brauchen Nachschub.«

Der Wirt nickte. »Ich komme.« Er sah in die Runde.

Kay wünschte sich, dass er nicht weitersprach, aber ihm fiel nichts ein, womit er ihn hätte stoppen können.

»Sascha ist verhaftet worden!«

Sascha! Haft!

Zwei Worte mit explosiver Wucht.

Ein dumpfes, bohrendes Gefühl fuhr Kay durch den Bauch. Er war kurz davor, sich zu übergeben, hatte aber keine Kraft, aufzustehen.

Sascha! Er hatte ihn vor zehn Tagen zuletzt gesehen. Bei Oliver im Wohnzimmer. Er hatte sich nichts dabei gedacht. Er hatte nichts gefragt. Sascha? Doch nicht Sascha!

Kay sah die anderen an und suchte in deren Gesichtern vergeblich nach einer Erklärung. Ricksen stürzte sein Bier in einem Zug herunter und knallte das Glas auf den Tisch. Oliver wimmerte. Der Prof setzte die Brille ab. Juri und Hannes starrten auf die Tischplatte. Niemand bewegte sich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Saschas Vater zurück an den Tisch.

Alle Augen richteten sich auf ihn. Keiner brachte einen Ton heraus.

Der Wirt rieb sich die Augen. Weinte er?

Kays Beklemmung wuchs ins Unermessliche. Der Prof setzte die Nickelbrille wieder auf und sofort wieder ab, legte sie langsam vor sich. Er war extrem kurzsichtig. Er will die Welt nicht mehr sehen, dachte Kay.

»Er hat Fotos geschossen. Vom Dach der Häuser aus.«

Kay nickte. Jeder kannte die Hochhäuser an der Leipziger Straße in Berlin. Der Zugang zu den Häusern war nur den Bewohnern gestattet. Man munkelte, dass die Wohnungen von Tschekisten, hauptamtlichen Stasi-Spitzeln, bewohnt waren. Von oben sah man direkt auf die Grenzanlagen und die Mauer zum Westen.

Kay schwirrten die Gedanken durch den Kopf. Wie war Sascha ins Haus und auf das Dach gekommen? Wofür brauchte er die Fotos? Er wollte sicher nicht über die Mauer! Ausgerechnet in Berlin? Sascha kannte sich in Berlin nicht aus, und es war Irrsinn, es über die Mauer probieren zu wollen. Für wen waren die Bilder? Mit wem war er dort gewesen?

»Unten wartete die Polizei auf ihn. Ein Hausbewohner hatte sie wohl gerufen.«

»Ihn denunziert«, stieß Hannes hervor und sprach aus, was alle dachten.

Der Wirt nickte. »Er sitzt in Stasi-Haft, und …«

Seine Stimme versagte. Er senkte seinen Kopf auf die verschränkten Arme. Der Tisch bebte unter seinen Schluchzern.

Kay legte ihm stumm die Hand auf die Schulter. Es fielen ihm keine tröstenden Worte ein. Keine Aufmunterung. Nichts, was die Situation besser machte. Nur eine warme Hand auf der Schulter.

Der Wirt richtete sich ruckartig auf und blitzte sie aus zusammengekniffenen Augen an.

»Ihr seid schuld! Was heckt ihr für Dummheiten aus, wenn ihr hier zusammensitzt? Habt ihr gewusst, was Sascha vorhat?«, brüllte er.

Der Angriff ließ sie erstarren. Kays Hand zuckte zurück, als habe er sich verbrannt.

Die Wut des Mannes verpuffte nach seinen Anschuldigungen, und er fiel wieder in sich zusammen. »Sascha hat schon mal gesagt, dass er hier unzufrieden ist. Dass er nicht reisen darf, dass er nicht in der Kneipe versauern will. Aber dass es ihm so ernst ist, das hab ich nicht gewusst.« Er senkte die Stimme. »Das wird mir alles zu gefährlich mit euch. Wisst ihr überhaupt, wer alles in der Kneipe sitzt? Kennt ihr die Leute? Jeder hört mit.« Er wies mit dem Finger hinter sich in den Schankraum. »Ich leg nicht für jeden Gast die Hand ins Feuer. Wenn ihr hier politische Reden schwingt, will ich euch nicht mehr sehen. Das ist hier kein Widerstandsnest. Die Stasi macht mir sonst den Laden dicht.«

Oliver sprang auf. Er war kreidebleich und taumelte ohne ein weiteres Wort durch die Eingangstür ins Freie.

Der Rest der Truppe verharrte in Sprachlosigkeit.

»Er hat gesagt, ein Staat, der ihn nicht reisen lässt, sei nicht sein Staat.« Saschas Vater holte geräuschvoll Luft, als ob er ihnen ein Geheimnis offenbarte. »Er wollte in die Welt ziehen. Er hat mich gefragt, wie er zurückkommen solle, wenn er nicht weggehen dürfe. Ich hab ihm gesagt, er solle an seine Mutter denken, an die Kneipe. Er hätte es doch gut. Aber er hat entgegnet, er wolle seine Freiheit, um zurückzukommen.« Er sprach schneller. »Ich wusste nicht, was ich antworten soll. Er hatte ja recht. Er hat gesagt, ein Staat, der junge Menschen einsperrt, sei nicht sein Staat«, wiederholte er. »Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte …« Er war nicht mehr zu verstehen.

Stille. Bedrückende, entsetzliche Stille.

Keiner von den Jungs hatte bisher ein Wort gesagt. Nichts, was dem Vater erklärte, was passiert war. Juri fasste sich als Erster ein Herz. Seine Stimme klang belegt. »Sie hätten es nicht verhindern können, und wir haben nichts gewusst. Er hätte sich sowieso von niemandem aufhalten lassen.«

Doch, von uns, dachte Kay. Von seinen Kumpels. Er fuhr sich übers Gesicht. Schweißtropfen hatten sich auf seiner Lippe gebildet. Der Wirt stand auf und ließ sie ohne ein weiteres Wort sitzen. Mit schweren Schritten schleppte er sich hinter den Tresen, rieb sich ein letztes Mal über die Augen, bevor er nach einem Glas griff und das tat, was er immer tat. Bier zapfen und die Gäste bewirten.

Kay wäre am liebsten weggelaufen. Nur rennen, damit er eine Erklärung für sein hämmerndes Herz hätte. Laufen, damit er eine harmlose Deutung für die Bauchschmerzen, den trockenen Mund und seinen Schweißausbruch bekäme. Damit alles wieder normal wäre. Nichts würde je wieder normal sein. Sascha im Gefängnis. Sie waren doch gerade erst im Leben angekommen. Und schon am Ende? Einen von ihnen hatte die Sehnsucht nach Veränderung in die Katastrophe geführt. Einer von ihnen hatte es gewagt – und war im Ansatz gescheitert.

Und der Wirt hatte ihnen die Tür zu ihrem Wohnzimmer zugeschlagen.

Oliver kam zurück an den Tisch geschlichen. Niemand brach das erdrückende Schweigen.

In Kay schwappten Schuldgefühle an die Oberfläche wie Wellen, die die Seesterne an den Strand spülen. Ihre Fluchtgedanken waren doch nicht ernst gemeint gewesen.

Hatte sie jemand im Lindeneck belauscht? Selbst wenn, niemand hatte von Saschas Plänen gewusst, geschweige denn darüber gesprochen. Er war von einem Hausbewohner denunziert worden.

Die Gedanken verschwammen in Kays Kopf. Er konnte sich Saschas Verhalten nicht erklären. Warum hatte er nichts gesagt?

Oh Gott, ist meine Reiseerlaubnis in Gefahr?, dachte Kay plötzlich. Aber er würde sich doch nicht von seinen Freunden abwenden. Unvorstellbar. Ein Leben ohne seine Freunde war kein Leben.

Sie alle starrten zusammengesunken und elend vor sich hin.

Hannes brach das Eis. »Er ist der Mutigste von uns.«

Kay hörte aus Hannes’ Worten Bewunderung. Er spürte nur jämmerliche Angst um seinen Freund und das, was die Stasi mit ihm anstellen würde.

Die Blicke der Zwillinge huschten unruhig hin und her. Hannes’ Statement schien sie zu verunsichern.

»Mutig?«, fragte Ricksen, als könne er Kays Gedanken lesen. »Er hat uns alleingelassen! Hatten wir nicht entschieden, es zusammen zu versuchen?«, presste er hervor. »Ich meine, was zum Teufel macht er auf eigene Faust in Berlin?«

»Wärest du lieber mit ihm im Stasi-Bau?«, zischte Hannes.

»Beruhigt euch!« Kay legte Ricksen die Hand auf den Arm. Er wusste, dass die Zwillinge geschockt waren – und Ricksen konnte seine Gefühle nicht anders ausdrücken. Er schob ihm sein Bier hinüber, und Ricksen trank es in einem Zug aus. Er wollte nichts mehr spüren. Kay verstand das.

Wieder schwiegen sie eine Weile.

Kay fühlte, wie sich langsam ein Gedanke aus dem Wust an die Oberfläche arbeitete. Was, wenn er schuld war? Wenn sich Sascha durch seine bunten Schilderungen über Hamburg aufgefordert gefühlt hatte, einen Fluchtversuch zu unternehmen? Er biss sich auf die Lippe und verschränkte seine Hände, nur um sie sofort wieder zu lösen und über den Tisch hin und her zu schieben.

»Weißt du, was ihm blüht?«, wandte er sich an den Prof.

Der schüttelte den Kopf. »Stasi-Knast.«

»Wir müssen rauskriegen, wie es ihm geht!« Kay ertrug den Gedanken nicht länger, nicht zu wissen, wo sein Freund war und was mit ihm geschah. »Wie kommen wir zu ihm?«

Der Prof sah ihn an. Das Gesicht leer. »Vermutlich Hohenschönhausen. Mehr wirst du nicht erfahren.« Er wandte sich nicht ab, was die Wucht der Worte noch verschlimmerte.

Hohenschönhausen? Die berüchtigte Stasi-Untersuchungshaftanstalt. Es gab keine Bilder, niemand hatte Konkretes gesehen, wusste Genaueres. Es gab nur schreckliche Gerüchte.

»Bekommen wir Schwierigkeiten?«, fragte Oliver unvermittelt. »Oh Gott, meine armen Eltern!«

»Hä?«, fragte der Prof.

»Na, die Stasi. Wenn sie denken, dass er nicht allein die Flatter machen wollte.«

Kay zuckte zusammen. Wenn die Stasi das dachte, stand er auf dünnem Eis. Er begriff zum ersten Mal, dass es ihm nicht nur darum ging, die Welt zu sehen. Vielmehr brauchte er die Atempausen, um aus dem Land zu kommen und für einen Moment so zu tun, als sei er ein freier Bürger, der nach erlebten Abenteuern wieder nach Hause zu seinen Freunden zurückkehrte. Das durfte er nicht verlieren. Er musste sich etwas einfallen lassen. Er würde zur See fahren, koste es, was es wolle.

»Wenn sie bei uns klingeln, wissen wir’s«, meinte der Prof. »Sascha hat nichts gesagt, weil er wusste: je weniger Mitwisser, desto geringer das Risiko, verraten zu werden.«

Juri flüsterte: »Als ob wir uns jemals verraten würden. Wie sitzen doch alle in einem Boot!«