Rostock-Parkentin, Oktober 2016
I nzwischen hatte der Holzstapel eine beachtliche Höhe erreicht. Das gäbe ein anständiges Feuer – zwar kein Freudenfeuer, aber einen wärmenden Mittelpunkt ihrer Runde.
Wenn der Tod einem einen Freund entriss, war es grausam, unerträglich und emotional. Die Beerdigung weckte alte Erinnerungen und Gefühle. Auch die unwillkommenen.
Wie bezeichnete man es, wenn nicht der Tod, sondern das Leben einem einen Freund entriss?
Damals hatte Kay den Anfang des Verrats nicht erkannt.
Die Erinnerung an Sascha hinterließ bei ihm vor allem Ratlosigkeit. Kay hätte Sascha diesen Alleingang nicht zugetraut, er hatte sie alle überrascht.
Er war seinem eigenen Weg gefolgt und hatte seine Freunde weder eingeweiht noch mitgenommen. Hatte er die Gruppe schützen wollen? War er deswegen damals nicht mit in den Sommerurlaub nach Krakow gefahren, weil er bereits Pläne schmiedete und Angst hatte, sich zu verplappern? Welche Ängste, Wünsche, Hoffnungen hatten ihn getrieben? Waren Kays Schilderungen über Hamburg und den Westen ein Auslöser gewesen?
Sie hatten nie Antworten auf ihre Fragen erhalten.
Sie hatten nie mit ihm darüber sprechen können.
Aber wenn Kay ehrlich war, wusste er, dass es so hatte kommen müssen. Sie waren nicht angepasst genug für das System der DDR . Sie ordneten sich nicht unter. Zu diesem Zeitpunkt war das noch nicht offensichtlich, aber Sascha war einer von ihnen, weil sie genau das miteinander verband. Das unausgesprochene Band, das sie alle ins Verderben gerissen hatte. Die unsichtbare Verbindung, die es einigen erlaubte, zur indischen Reisegruppe dazuzugehören, während andere niemals an Bord kamen.
Kay war der Erste, den der Freundeskreis dazu bewogen hatte, aus Lateinamerika nach Rostock zurückzukommen. Sascha der Erste, den die indische Reisegruppe nicht davon abhalten konnte zu gehen. Das gemeinsame Band hielt ihn nicht mehr, und er hatte versucht, die Sehnsüchte der Gruppe in die Realität umzusetzen.
Inzwischen saßen sie im Hof an langen Bierzelttischen und aßen. Einen Wildschwein-Braten aus dem Ofenungetüm. Die Frauen hatten Salate zubereitet. Es gab reichlich. Kay fragte sich, wie die Kumpels Essen herunterbekamen, während ihm der Hals so zugeschnürt war, dass kaum das Bier durchlief. Er sah auf seinen gefüllten Teller und schob ihn ein wenig von sich weg.
»Leichenschmaus«, murmelte er zu sich selbst.
»Es erleichtert einem den Abschied«, sagte Hannes neben ihm.
Sein Tonfall war versöhnlich. Ja, auch das war Hannes. Er reichte einem die Hand und war niemals nachtragend. Das war sein Verständnis von Freundschaft.
Kay sah ihn kurz an und schüttelte ungläubig den Kopf. Er verstand nicht, wie diese Tradition einem den Abschied erleichtern sollte. Er hatte das Gefühl, dass er trotz geschlossener Schotten heute Nacht kenterte.
»Man denkt an den Verstorbenen und tauscht Erinnerungen aus«, fuhr Hannes fort.
Kay schüttelte innerlich den Kopf. Erinnerungen. Er hatte Angst, sie zu vergessen. Ihre Stimme. Ihr Lachen. Die Art und Weise, wie sie die Zigarette hielt, während sie nachdachte. Nein, das vergaß er sicher nicht.
»Ach ja, welche Erinnerungen?«, fragte er.
»Weißt du noch, sie hatte nie Geld und trotzdem immer eine kreative Lösung. War allen gegenüber tolerant. Sie hat das Gute in einem gesehen, das, was einem selbst nicht bekannt war.«
Das stimmte. Sie hatte auch in ihm erkannt, was er wirklich brauchte. Das machte es aber nicht besser, nur schlimmer. Sie fehlte so sehr. Warum sollte er seine Erinnerungen teilen? Sie waren ihm kostbar, und er wollte sie nicht hergeben.
»Weißt du noch, wie wir ihre Wohnung renoviert haben?«, fuhr Hannes fort. »Sie war so glücklich, dass wir Farbe aufgetrieben hatten. Wir waren alle da. Nur ihr eigener Kerl fehlte. Und was sagt sie? Er hilft heute nicht, weil er für uns eine größere Wohnung sucht. Eine Wohnung in einer schönen Gegend.« Hannes lachte nachsichtig. »Sie war so süß, dass sie gar nicht bemerkte, wie widersprüchlich das war. Wir renovieren ihr die olle Bude, und angeblich ziehen sie bald in ein Luxusheim. Sie wusste genau, dass er mit nichts in der Hand zurückkommen würde. Es störte sie nicht im Geringsten. Stattdessen freute sie sich ein Loch in den Bauch, dass wir halfen, und fing auch noch an zu singen. So war sie.«
Kay schluckte trocken. Sie hatte eine Art gehabt, die Probleme zu belächeln, dass man dachte, es gäbe keine.
»Eines Tages verstehen wir vielleicht, wozu das gut war«, sagte Hannes.
Kay merkte, wie der Ärger wieder in ihm aufstieg. Offensichtlich ließ sich Ärger besser aushalten als diese furchtbare Traurigkeit. Hatte alles einen tieferen Sinn? Auch unermesslicher Verlust und unverzeihlicher Verrat?
»Nein, der Tod ist für gar nichts gut. Und es hatte auch keinen Sinn, was wir durchgemacht haben. Oder behauptest du, die Stasi hätte Sinn gehabt? Der Verrat hätte Sinn gehabt?«
Hannes lächelte ihn schweigend an.
Lachte Hannes ihn aus?
Kay drehte sich noch einmal um, um wirklich sicher zu sein, dass der Spitzel nicht zur Beerdigung gekommen war und er sich getäuscht hatte.
»Er ist hier«, sagte Hannes. »Ich habe ihn auch gesehen. Du hast dich nicht geirrt. Es haben ihn aber noch nicht alle entdeckt.«
»Was?« Erlaubte sich Hannes einen makabren Scherz mit ihm? Niemals wäre Hannes sitzen geblieben, wenn er in der Nähe wäre. Andererseits hatte Hannes von allen am wenigsten abbekommen.
»Wo ist er? Was will er? Er besitzt tatsächlich die Frechheit, hier aufzukreuzen? Nach allem, was passiert ist!« Kay atmete schneller. Er spürte förmlich, wie das Adrenalin durch seinen Körper giftete. »Ich bring ihn um. Wenn er diesen Abend beschmutzt, bringe ich ihn um!«
»Da bist du vermutlich nicht der Einzige. Die meisten haben seit Krakow eine Rechnung mit ihm offen.«
Damals in Krakow hatten sie noch Spaß gehabt. Im Grunde waren sie Jugendliche, die durchs Leben pflügten, sich auflehnten und ihre Grenzen testeten. Sie fanden gerade heraus, wo ihr Platz in der Welt war. Ihr Alkoholkonsum trug zur Persönlichkeitsbildung wenig bei, und sicher, der Urlaub war kein Ruhmesblatt gewesen. Aber sich mit Ruhm zu bekleckern, hinterließ auch Flecken. Die übliche sozialistische Belehrung zur Sauberkeit, Konformität und Höflichkeit hatte eben bei ihnen nicht verfangen. Sie ließen sich nicht zu sozialistischen Persönlichkeiten formen, und so prallten ihre Wertvorstellungen und Freiheitswünsche schmerzhaft auf das reale Leben. Aber es war doch alles ganz harmlos. Auch Saschas Ausflug nach Berlin. Warum hatte der Staat gleich eine Frage auf Leben und Tod daraus gemacht? Warum war Sascha wegen ein paar Fotos zum Staatsfeind geworden?
Nach Saschas Inhaftierung hatte sich alles geändert. Die Nachricht, dass die Stasi einen von ihnen in die Hände bekommen hatte, erschütterte die Gruppe zutiefst, auch wenn man es ihnen nicht sofort anmerkte. Sie überspielte ihre Angst, sich Sascha im Gefängnis vorzustellen, mit wilden Zukunftsplänen.
Hohenschönhausen. Sie wussten wenig darüber. Es gab nur Gerüchte und eigene wilde Fantasien. Wenn sie damals geahnt hätten, wie furchtbar das Gefängnis war, hätten sie ihre Gefühle nicht so gut verdrängen können. Inzwischen hatten sie die Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin besucht und all ihre Befürchtungen bestätigt bekommen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Kay das ganze Gerede über Fluchttunnel und Grenzdurchbrüche als reine Gedankenspiele abgetan. Er hatte mitgemacht, weil die anderen diese Wanderungen in Gedanken brauchten, wenn schon die Beine sie nirgendwohin trugen. Sie waren doch zu dieser Zeit nicht sonderlich politisch.
Aber das hatte sich von diesem Tag an geändert.
Plötzlich war die Stasi nah.
Plötzlich war die Kindheit vorbei, und sie alle waren von nun an erwachsen.