Rostock, Februar 1983
S aschas Verhaftung nagte lange Zeit an der Gruppe, und Kay war erleichtert, als er mit der Wilhelm Florin zu seiner nächsten Seereise aufbrach. Tucholsky hatte einmal geschrieben, Reisen sei die Sehnsucht nach dem Leben. Kay stimmte ihm uneingeschränkt zu und wusste, dass Sascha seine Sehnsucht nach dem freien Leben teuer bezahlt hatte. Die Reaktion des Staates auf das Verhalten des Freundes war brutal und unnötig. Sie hätten ihm die Fotos wegnehmen und ihn verwarnen können. Stattdessen ließen sie ihn im Stasi-Kerker verschwinden? Kay verstand den Frust der anderen. Umso dankbarer war er, dass er zur See fuhr und die Möglichkeit hatte, die Probleme für ein paar Wochen hinter sich zu lassen und so zu tun, als wäre die Welt in Ordnung.
Kay stand bei einer seinen nächtlichen Seewachen in der Nock, hielt sein Gesicht in den frischen Wind und murmelte: »Bald bin ich Seemann!«
Er beobachtete mit dem Fernglas das Meer und meldete der Brücke, wenn er Schiffe sichtete. Die Sterne funkelten über ihm, und es herrschte Stille. Er war kurz davor, einzunicken, als er plötzlich ein fernes Leuchten wahrnahm. Er presste das Fernglas vor die Augen. Er hatte seit Tagen in die Dunkelheit geblickt, ohne etwas zu sehen. Nun ein Licht. Er war furchtbar aufgeregt. Er sah noch einmal ohne Glas hin und rief in die Brücke: »Fahrzeug drei Strich Backbord.«
Der Wachoffizier trat heraus und lehnte sich über die Reling. »Oje, Seemännchen, das ist kein Schiff. Das ist Havanna.«
Es hätte ihm peinlich sein müssen, aber er freute sich so närrisch auf Kuba, dass er lachte.
»Hast du alles vergessen, was du über die Positionslampen gelernt hast, an denen du ein Schiff erkennst?« Der Offizier schüttelte verwundert den Kopf. »Positionslichter haben unterschiedliche Farben, an denen du siehst, in welche Richtung sich das Schiff bewegt. Du weißt doch, die Steuerbordlaterne ist grün und rechts angebracht, die Backbordlaterne ist rot und links. Siehst du nur eine grüne Lampe, bewegt sich das Schiff von links nach rechts. Siehst du nur die rote, dann ist es umgekehrt. Siehst du beide Lampen, rot und grün, und darüber noch eine weiße Laterne, solltest du besorgt sein. Warum?«
»Das Schiff kommt entgegen«, schmetterte Kay. Unterrichtsstunde beendet.
»Und siehst du da hinten irgendwelche Laternen leuchten?«
Ein kleiner Irrtum. Egal. Voraus lag Kuba!
Der Wachoffizier rückte einen Schritt dichter. »Sag mal, hat dich der Politoffizier angesprochen?«
»Wieso?«, fragte Kay erstaunt. Der Politoffizier hatte noch keine fünf Worte mit ihm gewechselt.
»Vermisst du ein T-Shirt? So ein rotes mit Westwerbung?«
Verdammt! Sein rotes Shirt vermisste er schon seit Tagen. Hatte der Politoffizier es ihm gestohlen? Ungeheuerlich!
»Pass auf, was du sagst, wenn du die Ausbildung erfolgreich abschließen willst. Und auch, was du anziehst, klar?«
»Der hat mich beklaut«, flüsterte Kay.
»Reiß dich zusammen. Er ist der heimliche Kapitän an Bord!« Der Offizier tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um zu zeigen, was er von Kays Naivität hielt. »Westwerbung an Bord!«
Kay kniff die Augen zusammen. Ihr seid Repräsentanten unseres sozialistischen Vaterlandes im Ausland … und nicht nur Seeleute. Das hatte der Schleifer ihnen in der Ausbildung eingetrichtert. Scheiße, wenn der Politoffizier ihn auf dem Kieker hatte, gäbe das Ärger. Kay atmete tief ein und aus. Er würde später darüber nachdenken. Jetzt gewann Freude über die nahende Küste die Oberhand. Er verdrängte alle düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf die Skyline von Havanna.
Am nächsten Morgen saß er als einer der Ersten am langen Tisch in der Messe. Er durfte nach dem Frühstück von Bord. Gerade fragte er den Steward, was es zum Frühstück gäbe, als der Politoffizier in die Messe trat. Kay hielt unwillkürlich die Luft an.
»Eier nach Wahl«, nuschelte der Steward. »Rührei, Spiegelei, gekochtes Ei.«
Kay grüßte den Politoffizier mit einem Lächeln und antwortete dem Steward, dass das alles lecker klinge und er heute Morgen gerne das Rührei hätte.
Wenn er sich noch mehr einschleimte, bekäme er nicht mal ein Rührei hinuntergewürgt. Was tat er nicht alles für seinen großen Seefahrertraum.
Der Politoffizier grüßte knapp zurück und stapfte in die Offiziersmesse.
Kay seufzte. Der Mann hatte ihn im Visier. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Er musste durchhalten, noch hatte er seinen Facharbeiterbrief nicht in der Tasche.
Der Umschlag im Hafen von Havanna bedeutete leider noch einmal harte Arbeit. Die Kräne des Hafens waren veraltet und nicht geeignet, die schweren und sperrigen Kisten und Maschinenteile der Wilhelm Florin zu löschen. Die Decksbesatzung machte das schiffseigene Ladegeschirr und den Schwergutbaum klar. Stundenlanges Hantieren mit schweren, fettigen Drähten und Vorrichtungen folgte. Zur Belohnung erhielt die Mannschaft ausgedehnten Landgang.
Kay war fasziniert von den Klängen der kubanischen Hauptstadt. Musik wehte durch die Luft und ließ ihn beschwingt durch die Straßen schlendern. Rhythmen schallten aus den Autoradios der alten amerikanischen Straßenkreuzer, die langsam die Uferstraße, den Malecón, entlangfuhren. Kaum zu glauben, aber der Fuhrpark hier war sogar noch älter als der auf den Straßen Rostocks – nur viel charmanter. Kay schlemmte Früchte, die so vorzüglich waren, dass es ihm die Sprache verschlug: saftige Mangos und zuckersüße Bananen. Die kleinen, pummeligen Schwestern der Chiquita-Bananen, die aber um ein Vielfaches köstlicher schmeckten. Abends zog der Duft von gegrilltem Fisch und Knoblauch zu ihnen auf das Schiff.
Bienvenido vida maravillosa. Willkommen, wundervolles Leben.
Kay erkundete die Altstadt von Havanna. Er entdeckte die Kehrseite der Stadt mit ihrem morbiden Charme. Verfallene Häuser, verwitterte Straßenzüge, und in den Schaufenstern war der Mangel offensichtlich. Um die Auslagen zu füllen, war häufig nur ein einziges Produkt zu Pyramiden aufgetürmt. Wie zu Hause in der DDR . Nur schien hier die Sonne, und es lag ein Lächeln auf den Gesichtern der Menschen.
Geld hatten Kay und seine Kollegen nicht. Die Kubaner verlangten für ihre wertlosen Pesos im Umtausch amerikanische Dollar statt DDR -Mark. Bei Geld hörte die sozialistische Bruderschaft offenbar auf! Die älteren Matrosen hatten ihm eingeschärft: Wenn du eine Bar betrittst, sag dem Barkeeper, dass du kein Geld hast. Er wird unauffällig an dir herunterschauen und Interesse an Uhr, Gürtel oder Schuhen bekunden. Damit bezahlst du.
Und tatsächlich. In einer nahezu leeren Bar reichte Kays Uhr aus DDR -Produktion für vier Getränke.
»Was meinst du?«, fragte Kay den Matrosen, mit dem er losgezogen war. »Trinken wir noch einen?«
»Zeig dich mal!« Der Barkeeper fand Gefallen an den Schuhen des Matrosen und stellte zwei weitere Rum-Cola auf den Tresen. Aber auch diese Gläser leerten sich, und Kay war in Gedanken versunken, als der Matrose auf Socken zum Barkeeper schlenderte, blitzschnell nach seinen Schuhen griff und zur Tür stürzte.
»Was?« Kay schreckte hoch. »Scheiße! Was tust du?« Er stieß seinen Stuhl um und flitzte dem Matrosen hinterher. Fluchend verfolgte Kay seinen Kollegen, der barfuß auf dem Kopfsteinpflaster ein erstaunliches Tempo hinlegte.
»Kannst du mich nicht vorwarnen?«, schnaufte er, als sie ein ganzes Stück die Straße entlanggerannt waren und ihre Schritte verlangsamten. »Mir reicht’s! Schöner Landgang! Echt viel erlebt!«
Viel zu schnell lief die Wilhelm Florin wieder aus. Weiter Richtung Mexiko. Diesmal nicht erst nach Tampico, sondern direkt nach Veracruz. Die Hafenstadt in Mexiko hatte keine atemberaubende Skyline wie Havanna, aber leuchtete von der Sonne geküsst. Die imposanten Häuser waren aus hellem Stein erbaut und strahlten im Licht. Kay störte sich nicht an der Hitze, er schlenderte stundenlang durch die Straßen und unternahm Ausflüge ins Umland. So tuckerten sie mit einem Rettungsboot durch den Hafen zu einer Insel vor der mexikanischen Küste. Das Eiland war nicht größer als zwei Fußballfelder, aber lud mit einem weißen Sandstrand zum Träumen ein. Essen und Trinken hatten sie im Boot. Sie badeten, sonnten sich und sahen auf den türkis schimmernden Ozean.
Diese wundervollen Tage wechselten sich ab mit harter Arbeit in tropischer Hitze. Wenn kein Liegeplatz frei war und sie vor dem Hafen auf Reede lagen, überholten sie das Schiff. Kay war für den Korrosionsschutz an Deck eingeteilt. Eine schwere und staubige Tätigkeit. Die alte Farbe schrubbten sie mithilfe von Pressluftnadelpistolen und Bürsten herunter. Nach der Grundierung noch einen zweiten und dritten Schlag mit dem Pinsel. Auch über Kopf. Anstrengend und dreckig. Und natürlich nutzten sie jede Möglichkeit für eine Pause.
»Sag mal, Seemännchen«, fragte ihn der Bootsmann. »Was machste denn nach der Ausbildung?«
»Ich fahre weiter zur See.« Kay grinste.
»Und haste ’ne Freundin?«
Er zuckte mit den Schultern. Wo sollte die wohl herkommen?
»Na, Kleener, wenn de auf See bist, brauchste och keene. Haste wenigstens Freunde?«
Kay erzählte von der indischen Reisegruppe. Berichtete von den Zwillingen, die kein Fettnäpfchen ausließen, vom Frauenschwarm Juri, vom gutmütigen Prof und dem streitbaren Hannes. Er plauderte über ihren Sommerurlaub in Krakow und die Episode mit dem Seehotel und der Kopfplatzwunde. Alle lachten, und er lachte mit.
Von Sascha erzählte er nicht.