Rostock, Juli 1983
A nfang Juli 1983 kehrte Kay nach Rostock zurück. Sie lagen zwei Tage auf Reede vor dem Hafen. Es war mal wieder kein Liegeplatz frei, und das Warten fühlte sich an, als ob er ausgehungert vor einem Steak-Teller saß und es nicht essen durfte.
Am dritten Tag erschien endlich das Lotsenboot, und sie steuerten am Strand von Warnemünde vorbei. Kay stand an Deck und saugte alles in sich auf. Er mochte die Einfahrt in den Hafen. Entlang der alten Mole mit dem Leuchtturm. Es war nicht der Malecón von Havanna, aber er kam nach Hause.
Immer öfter fragte er sich, wie es wäre, in einem der exotischen Länder zu leben. Wie mochte es sich anfühlen, in Kuba von Bord zu gehen und von einem Landgang nicht zurückzukehren? Tatsächlich löste der Gedanke einen Schauer aus Glück und Angst in ihm aus. Er wäre frei, aber mit wem würde er dort sein Leben teilen? Seine Familie und Freunde waren in Rostock. Er musste ohnehin erst seine Ausbildung zu Ende bringen, und dazu brauchte er noch eine Fahrt, denn ohne das Abschlusszeugnis war er nichts.
Am Nachmittag machten sie endlich neben einem Stückgutschiff fest, und es dauerte noch einmal vier Stunden, bis er von Bord durfte. Kay hoffte, dass sein Vater seine Ankunft bei der Reederei erfragt hatte und vielleicht am Hafeneingangstor auf ihn wartete. Zu seiner Überraschung stand jedoch nicht sein Vater am Tor, sondern Juri und der Prof sahen ihm entgegen. Er vermochte nicht zu sagen, wer mehr strahlte. Sie oder er.
»Ahoi!« Kay grinste die beiden an. »Das ist ja eine tolle Überraschung!«
Der Prof kam auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Da ist ja unser Weltenbummler! Braun gebrannter Urlauber.«
Der Prof selber war zwar blass, trug ein graues T-Shirt und Jeans, aber sein gut gelauntes Grinsen war so wärmend, dass Kay sich sofort angekommen fühlte. Ja, die DDR war nicht bunt, wohlduftend und voller Rhythmen. Aber der Mecklenburger Slang, das Lachen und die Hand auf der Schulter wärmten ihn genauso wie die Sonne Havannas.
Auch Juri gab ihm einen Klaps und zog ihn gleich mit sich. »Komm, Großer, wir parken da hinten.«
»Parken?« Kay staunte. »Wer fährt?«
Das breite Grinsen drückte dem Prof seine Nickelbrille höher auf den Nasenrücken. »Ich habe die Zeit genutzt und meinen Führerschein gemacht. Mein Alter hat mir für heute Abend seinen Wagen geliehen. Los, beeilen wir uns.«
Sie standen vor einem grauen Trabi, und der Prof hatte tatsächlich die Schlüssel dafür.
»Steig ein. Wir haben noch was vor mit dir«, ergänzte Juri grinsend.
Kay ließ sich nicht zweimal bitten. Er warf seinen Seesack in den Kofferraum und kletterte auf den Rücksitz.
Der Prof steuerte das Auto sicher die wenigen Meter von der Hafenausfahrt auf den Zubringer nach Rostock. Er nahm die A19 und von dort ging es über die Rövershagener Chaussee entlang der östlichen und nördlichen Altstadt und direkt über den Südring Richtung Südstadt.
Kay blinzelte in die Sonne und schwieg verblüfft. Kaum war man mal ein paar Monate nicht in der Stadt … Er hörte Juris Geschnatter zu und sah dabei aus dem Fenster. Zum ersten Mal erschien ihm seine Heimatstadt trist und arm. Alles war grau in grau – obwohl es Sommer war. Irgendjemand hatte das Leuchten abgestellt. Oder hatte Rostock noch nie geglänzt? Der Hafen, die Häuser, die Menschen – sie sahen licht- und freudlos aus. Er war erschrocken, mit welcher Geschwindigkeit seine gute Stimmung sich ins Gegenteil verkehrte. Er hatte ganz plötzlich Fernweh statt Heimweh. Was hatte das zu bedeuten?
Und noch etwas kehrte zurück. Die Sorge um Sascha. Um seine Freunde. Wie war es ihnen ergangen, während er die Schönheit des Lebens kennengelernt hatte? Er würde jeden Tag davon träumen. Leider durfte er die anderen nicht mitträumen lassen. Das hatte ihn Saschas Verhaftung schmerzhaft gelehrt.
»Habt ihr was von Sascha gehört?«
Mist, das hatte er nicht fragen wollen. Er fiel doch sonst nicht gleich mit der Tür ins Haus. Jetzt war es zu spät.
Juri sah den Prof von der Seite an. Stille.
»Es ist nicht so einfach«, sagte Juri nach einer Weile und drehte sich zu ihm um.
Der Prof sah unverwandt nach vorn in den Verkehr.
Was verheimlichten sie ihm? Kay wusste Juris Bemerkung nicht zu deuten.
Juri räuspert sich. »Er ist verurteilt und sitzt in Naumburg ein.«
Hohenschönhausen. Naumburg.
Schlimme Wörter. Der Inbegriff von etwas, was sie in ihren dunkelsten Träumen ahnten, aber nie zu fragen wagten. Jeder vermutete, dass man dort der Stasi auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Es gab Gerüchte von tagelangen Verhören, Einzelhaft, Schikanen, Schlafentzug und Psychoterror.
Verbotene Welt.
Grausame Welt.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie Sascha wie einen Schwerverbrecher behandeln würden. Er hatte doch nur auf die andere Seite der Mauer gesehen. Es war verboten, vom Osten in den Westen auf die Grenzanlagen zu gucken. Natürlich. Aber es war doch kein Kapitalverbrechen und Sascha kein Mörder. Wie konnte der Staat so grausam gegen seine eigenen Bürger sein? Das machte keinen Sinn.
»Sie haben ihm zwanzig Monate aufgebrummt«, sagte der Prof. Vor ihm schaltete eine Ampel auf Rot, und er bremste abrupt.
»Scheiße!« Kay krächzte. »Zwanzig Monate? Für einen Blick in den Westen? Das ist doch Wahnsinn!« Er suchte den Augenkontakt, aber Juri hatte sich wieder abgewandt und beide sahen durch die Windschutzscheibe nach vorn. »Kommt er zurecht?« Kay versuchte, ihnen irgendein Wort zu entlocken, was die Tragweite ihrer Sätze abmilderte.
Stille. Juri zuckte mit den Schultern.
Einer aus ihrer Clique hatte einen einzigen Schritt in die falsche Richtung getan. Er bezahlte einen hohen Preis dafür, und sie waren nicht in der Lage, ihm zu helfen?
»Können wir denn gar nichts machen?« Kay lehnte sich vor, umfasste die beiden Vordersitze, um ihnen näher zu kommen. Schon während er es aussprach, wusste er, dass die Frage absurd war und er keine Antwort erwarten konnte.
Ein deprimierendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
Juri fasste sich als Erster.
»Es gibt aber auch gute Neuigkeiten.« Er schlug sich auf die Schenkel und drehte sich erstmals wieder zu Kay um. »Wir sind nicht mehr allein.« Er nickte dabei, als wüsste Kay genau, wovon er redete.
Auch der Prof schmunzelte und fand Kays Blick im Rückspiegel. »Er ahnt nichts«, sagte er amüsiert.
Wovon redeten sie jetzt schon wieder?
»Kay, Kumpel, wir haben inzwischen alle eine Freundin!«
Wie meinte er das, sie hätten alle eine Freundin? Woher denn? Was waren das für Mädchen? Noch eine Hiobsbotschaft! Die Fragen in Kays Kopf überschlugen sich, ohne dass er eine einzige davon laut aussprach.
Juri und der Prof lachten.
»Siehst du sein Gesicht?«, gluckste Juri. »Keine Sorge, wir stellen dir die Mädels heute Abend vor. Und da, wo die sind, da sind auch noch mehr. Wir finden schon eine für dich.«
Mädchen im Sonderangebot?
»Was er sagen will«, übernahm der Prof, »ist, dass wir heute die Frauen im Mensaklub treffen. Genau genommen warten sie schon auf uns.«
Dass sie beim Mensaklub der Uni angekommen waren, erkannte Kay sofort an der Menschenschlange. Kay hatte gehört, dass die alte Bierstube abends als Studentenklub öffnete und neuer Treffpunkt der indischen Reisegruppe war. Nachdem Saschas Vater sie nicht mehr gern im Lindeneck sah, mussten sie ja irgendwo hin. Rostocks Szene war überschaubar. In den Neubaugebieten gab es nur Arbeiter und allenfalls eine Saufkultur. Das war’s. Die Klubs der Innen- und Südstadt hingegen waren Anlaufpunkte für Studenten und Intellektuelle.
Juri hatte Briefkontakt mit Kay gehalten. Von Zeit zu Zeit schickte die Reederei die gesammelte Post für die Mannschaft in einen der Häfen entlang ihrer Reiseroute. Und so war auch die ein oder andere Karte von Juri dabei gewesen. Kay wusste, dass der Mitarbeiterausweis vom Prof eine beachtliche Vervielfältigung erfahren hatte und die Jungs im Mensaklub ein und aus gingen. Von Mädchen allerdings hatte Juri nichts erwähnt. Stattdessen hielt er ihm jetzt einen Ausweis hin. Kays Gesicht prangte darauf. Und plötzlich war die Luft erfüllt von Kichern, Parfum, Sommerwind und der Ahnung eines neuen Abenteuers.
Kay sah sich um. Es mochten knapp hundert Leute im Klub sein. Eine Discokugel warf unzählige Lichtschimmer auf Tische und Wände. Michael Jackson sang über Billie Jean . Die Tanzfläche war voll, die Stimmung ausgelassen.
Juri krähte lautstark mit, obwohl sein Englisch eine Katastrophe war. Kein Wunder. Sie hatten in der Schule nur Russisch gepaukt. Er musste den Jungs erzählen, dass er ein paar Brocken Spanisch gelernt hatte, aber Kuba und Mexiko schienen Lichtjahre entfernt. Sie drängelten sich durch die tanzenden Leiber, um schräg gegenüber der Theke an einen großen Tisch zu gelangen. Dort saß der Rest der indischen Reisegruppe – tatsächlich mit einer Reihe von Frauen. Verdammt, dachte Kay, sie haben mich abgehängt.
Der Prof schrie, um die Musik zu übertönen: »Ich stelle dich gleich vor. Was trinkst du?«
»Cuba Libre«, antwortete Kay spontan. Sein Lieblingsgetränk, seit er in Mexiko die richtige Coca-Cola schätzen gelernt hatte. Nicht die armselige Ost-Imitation mit wenig Zucker. Nein, amerikanische Coca-Cola. Sie schmeckte so viel besser.
»Kuba was? Mann, rede Deutsch mit mir! Lass jetzt nicht den Weltenbummler raushängen!«, antwortete der Prof.
»Rum-Cola!« Kay lächelte verlegen.
Sein Blick glitt über die Bank. Hängen blieb er an zwei hübschen Mädchen. Die eine grinste ihn frech an und signalisierte, dass er ihr etwas zu trinken mitbringen solle. Na toll, und woher sollte er wissen, was verdammt noch mal sie trank?
Der Prof drückte ihm seine Rum-Cola in die Hand und rief quer über den Tisch, dass sie Platz schaffen sollten für den Seemann. Frisch aus den Tropen zurückgekehrt und obendrein sein bester Kumpel Kay. Die Mädchen johlten. Die Jungs hoben die Biergläser. Die Mädchen rückten auseinander, und der Prof und er setzten sich in die Lücke. Direkt neben die Freche. Kay schwindelte.
»Kennst du Cuba Libre?«, fragte er und schob ihr den Drink zu.
»Ich bin Peggy. Das ist meine Freundin Mina.« Sie deutete mit dem Glas auf das andere ausgesprochen attraktive Mädchen, das ihm schon aufgefallen war. Ihre braunen Augen und die schwarzen langen Haare bildeten den perfekten Kontrast zu ihrem weißen Kleid. »Tatsächlich heißen wir Jasmin und Petra. Aber niemand erträgt solch langweilige Namen. Kay. Ist auch nicht gerade ein Reißer. Wir finden schon einen neuen Namen für dich.«
Er grinste Mina an, und sie lächelte schüchtern zurück. Sagte aber kein Wort.
»Wozu brauche ich einen neuen Namen?«, fragte er, weil ihm nichts anderes einfiel.
Peggy rollte mit den Augen. »Na, weil’s Spaß macht, deinen Charakter zeigt und bedeutet, dass du zu uns gehörst. Ich hoffe, dass du kein Kay bleibst.«
Ihre lebhafte Art gefiel ihm. Andererseits hieß er nun mal Kay und brauchte keinen anderen Namen. Aber dazugehören wollte er schon.
Der Prof stieß ihn an. »Hey, das ist meine Freundin Anne!« Er beugte sich mit einer zierlichen Blonden zu ihm rüber. »Und die Blonde da bei Juri, das ist Romy.« Der Prof hob sein Glas und wollte anstoßen. Er zog fragend die Augenbrauen hoch, doch Kay zuckte nur mit den Schultern. Wie gewonnen, so zerronnen.
»Auch einen?« Peggy strahlte ihn an. »Ich geh mal Richtung Tanzfläche und hole dir auf dem Weg einen Drink. Tanzt du?«
Er schüttelte den Kopf. Um Gottes willen, auf keinen Fall.
»Dann eben nicht.« Sie quetschte ihr Bein an ihm vorbei und stand von der Bank auf. »Und du, Mina?«
Sie winkte ebenfalls ab. Kay fand sie süß und überlegte, wie er mit ihr ins Gespräch kommen könnte, als Peggy nachsetzte: »Wenn ich zurückkomme, seid ihr hoffentlich ein bisschen weiter, als euch nur anzuschmachten.«
Er hustete. Mina lachte und musterte ihn ungeniert weiter. Plötzlich war es ganz leicht, mit ihr zu reden. Er fand heraus, dass sie schüchtern war und sich ihres Aussehens offenbar nicht bewusst. Das gefiel ihm. Obwohl es bedeutete, dass er die ganze Unterhaltung allein bestritt. Er bemerkte kaum, wie Peggy ihm eine Rum-Cola hinstellte und Richtung Tanzfläche verschwand. Auch die Kumpels, die vorbeikamen und sich mit ihm unterhalten wollten, rauschten an seiner Aufmerksamkeit vorbei. Es verging Stunde um Stunde, und er hatte immer noch Fragen an Mina. Er hatte erfahren, dass sie – wie Peggy – eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Dass sie beide noch zu Hause wohnten. Damit endeten dann ihre Gemeinsamkeiten. Mina lebte in einer Großfamilie mit vier Geschwistern, Peggy hingegen allein mit ihrem kranken Vater. Die Mutter war schon vor ein paar Jahren gestorben. Kein einfaches Leben.
»Wie lange kennt ihr euch schon?«, fragte Kay.
»Wir haben uns in der Lehre im Krankenhaus kennengelernt. Und du? Wie lange gehörst du zur Clique?«
»Ich kenne die Jungs seit der ersten Schulklasse. Der Prof und Juri – das sind meine besten Freunde. Haben sie dir erzählt, warum wir eine indische Reisegruppe sind?«
Mina schüttelte belustigt den Kopf.
»Erzähl ich dir …«
Viel später stand er neben der Tanzfläche.
Mina und Peggy tanzten schon eine ganze Weile miteinander, als ein auffälliger Kerl sich zwischen sie drängte. Er hottete wild und ließ seine wallende Mähne fliegen. Er sah aus wie Jim Morrison.
»Ey, wer ist das denn?«, schrie Juri ihm ins Ohr. Er stand neben ihm und hatte seine Romy im Arm.
Kay zuckte mit den Schultern. Er war ja wohl der Letzte, den man fragen sollte. Auch Romy hatte keine Idee. »Starker Typ.«
Das fand Kay insgeheim leider auch. Beeindruckend selbstbewusst, wie er da mitten auf der Tanzfläche wild herumwirbelte. Er scherte sich um niemanden.
Kay setzte sich wieder. Peggy und Mina kämen schon irgendwann zurück. Der Prof war mit Anne an der Bar, und die Zwillinge waren in ein Streitgespräch über Fußball verwickelt. Da hielt er sich besser raus. Hannes kam von der Bar und stellte ihm ungefragt ein gezapftes Bier hin. Hannes tanzte nie und flirtete auch nie mit Frauen. Vielleicht war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
»Wo ist eigentlich Oliver?«, fragte Kay.
Hannes zuckte mit den Schultern. »Er fährt uns nachher nach Hause.«
»Wie, nach Hause fahren? Verstehe ich nicht.«
»Er hat die Lehre geschmissen. Er malocht neuerdings als Krankentransportfahrer«, Hannes grinste. »Also kommt er in seinen Nachtschichten mit dem Transporter vorbei und chauffiert uns nach Hause. Fetzig, nicht?«
Kay staunte. Der ängstliche Oliver als Krankentransportfahrer? »Ein Hypochonder in der Patientenversorgung? Macht man da nicht den Bock zum Gärtner?«
»Überleg doch mal, da kann er gleich vom Fahrersitz auf die Trage wechseln, wenn er sich nicht fühlt.« Hannes lachte immer noch. »Sag mal, Skipper, wie war es da draußen?«
Kay überlegte. Er erzählte Hannes besser nichts darüber, wie betörend er die weite Welt außerhalb der DDR empfand. »In der Kurzversion würde ich sagen: bunt, fröhlich, teuer.«
Hannes wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte es mit eigenen Augen sehen. Wie fühlst du dich, wenn du an diesen Möglichkeiten kratzt?«
Das war eine schwierige Frage. Kay dachte darüber nach. Wie wirkte es sich aus, zu sehen, welche Chancen es in der Welt gab, und er doch in einem Land lebte, in dem alles grau und mangelhaft war?
»Hast du gehört, dass sie uns einen Milliardenkredit geben?«, sprach Hannes weiter, bevor Kay eine Antwort gefunden hatte.
»Scheiß D-Mark, um das Leid des sterbenden Patienten zu verlängern. Warum lassen sie unsere marode Wirtschaft nicht verrecken und uns endlich in Ruhe? Ohne den Westen könnten wir doch gar nicht existieren!«
Wieder wusste Kay keine Antwort. Vermutlich brauchte Hannes auch keine und war sich selbst Gesprächspartner genug. Stets enttäuscht, dass es keine politischen Lösungen gab, schimpfte er, um sich abzureagieren. Er war auch enttäuscht von sich selbst. Er wollte alles anders machen, unangepasst sein, autonom – und schaffte es doch nicht. Es hatte sich nicht alles in Kays Abwesenheit geändert.
»Schau dir den Kasper an. Wer ist das? Kommt hierher und greift sich unsere Stadtteilblume ab. Wie macht er das?«
Kay verstand nicht gleich, wen Hannes meinte. Erst als er seinem Blick folgte und bei dem langhaarigen Tänzer landete, kapierte er. Er beobachtete den Typen im Parka. Tatsächlich hatte der es geschafft, die Aufmerksamkeit von Peggy auf sich zu ziehen.
»Peggy ist für uns verloren«, raunte Hannes. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
Mina nicht, dachte Kay und nahm sich fest vor, Mina nach Hause zu begleiten. Er sah Hannes von der Seite an. Hannes hatte doch nicht etwa sein Herz an Peggy verloren?
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Mina und Peggy total verschwitzt, aber grinsend an den Tisch zurückgetänzelt. Den Parka-Typen im Schlepptau. Einfach so. Er setzte sich zu ihnen, als ob er schon immer dazugehört hätte. Taxierte sie ungeniert. Kay fühlte sich gemustert wie lange nicht mehr. Was fiel dem Kerl ein? Er wusste nicht, ob er ärgerlich oder beeindruckt war.
»Ich bin Arne. Nett bei euch«, sagte der Typ.
Kay wusste nicht, wie er es anstellte, aber sein schiefes Grinsen mit der Zahnlücke war ansteckend. »Kay«, entgegnete er knapp. Sollte er sich mal nicht zu viel einbilden.
»Wir werden Freunde!« Der Typ nickte Kay zu.
»Noch«, sagte Peggy mit einem unschuldigen Augenaufschlag. »Noch ist er Kay.«
Arne runzelte fragend die Stirn, aber Peggy erklärte nichts.
»Ihr kennt euch schon länger?« Kays Tonfall war eine Spur genervt. Er entschied doch bitte selbst, mit wem er sich befreundete und mit wem nicht.
Mina legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie schwieg, aber Kay ahnte, dass Arne zu ihrer Clique gehörte. Einfach so.
Und er verliebte sich in Mina. Einfach so.
Das war die Realität des Alltags. Die indische Reisegruppe hatte die Frauen aufgenommen. Und die Frauen hatten Arne in ihrer Mitte aufgenommen.
Kay blieb nichts anderes übrig, als den Widerspruch auszuhalten, dass er einerseits seinen Freund Sascha schmerzlich vermisste, während womöglich eine Frau in sein Leben trat und ein unbekannter Mann seine Freundschaft suchte.
Sascha fehlte, und Arne gehörte dazu.
Kay musste nur noch herausfinden, ob Arne es auch verdient hatte.
Das Dazugehören.